HANS M. EICHENLAUB

IRRITIERENDE FASZINATION DER BILDER

CH-FENSTER

Zu Beginn von Remo Legnazzis Zweiter Anfang die grosse Faszination: fätzige Fahrten durch amerikanische Landschaft; Weite, Sonne, Wärme, ein mildes Licht, ein Hauch von Freiheit scheint da in der Luft zu liegen. Assoziationen zu «On-the-road-Filmen» machen sich wohlig breit. Ich kenne Amerika nur vom Kino und aus der Literatur oder vom Fernsehen, also second-hand, doch was ich hier sehe, entspricht genau meinen Vorstellungen, die zwangsläufig Klischee-Vorstellungen sind. Fritz E. Maeders Aufnahmen haben eine schier betäubende Wirkung, so stark, dass ich mich nach einiger Zeit fast gewaltsam zur Raison zwingen muss, und zur Frage, worum es denn eigentlich in diesem Film geht. Ich beginne mich bewusst gegen die Faszination der Bilder zu wehren, erinnere mich, in einem Dokumentarfilm zu sitzen, einem Film mit einem «Thema» also, mit einem Inhalt, der mich mehr zu beschäftigen hat, als allein die Bilder.

Von Emigration ist hier die Rede - nicht zum ersten Mal in Remo Legnazzis Filmographie. Von Tessinern ist die Rede, die in den zehner und zwanziger Jahren ausgewandert sind nach Kalifornien. Im Salinastal haben sie sich niedergelassen, haben sie klein angefangen, als Handlanger, Melker oder Landarbeiter. Fünf dieser Auswanderer und ihre Familien porträtiert Legnazzi, fünf, die in und um Soledad leben, was - Zufall und Ironie zugleich - Einsamkeit heisst.

Der, der zu Beginn durch die Landschaft fährt, ist John, er hat es zum Vorarbeiter einer Landwirtschaftsfirma gebracht. Und Vorarbeiter sein heisst, darauf zu achten, dass die anderen, grösstenteils Mexikaner — auch sie Einwanderer, doch davon später - arbeiten. Und auch da wieder überwältigende Bilder, etwa von den überdimensionalen Traktorenmonstern, jenen fahrenden Pflückapparaten, die, in Umkehrung des Fliessbandprinzips, in ihrer ausladenden Breite durch die Felder rattern wie gefrässige Ungetüme und auf denen in Handarbeit Salat und anderes Gemüse geerntet, gerüstet und transportbereit und verkaufsfertig abgepackt wird. Hier hat augenfällig die Industrialisierung der Landwirtschaft das Fliessband aus der Fabrikhalle auf die Felder verlegt, sicher nicht zum Wohle der Arbeitnehmer.

John also ist Vorarbeiter und durch und durch Amerikaner, so wie er wohnt, lebt, spricht und sich bewegt. Franco hat sich in Soledad eine florierende Bäckerei aufgebaut, in der er neben anderem auch Gebäcke aus der alten Heimat herstellt. Seine Bäckerei ist für viele ehemalige Tessiner so etwas wie ein Treffpunkt geworden, hier trifft man sich zu einem Schwatz und zu einem Glas Wein. Joe ist ebenfalls ins lokale Kleingewerbe eingestiegen, er betreibt eine Hamburger-Bude, während Emilio als Schmied tätig ist und Osvaldo als ehemaliger Milchbauer heute den Ruhestandgeniesst.

Die fünf Ex-Tessiner sind allesamt dem Mittelstand zuzurechnen. Das heisst, sie haben eine gesellschaftliche Stellung erreicht, die für sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch ohne Emigration erreichbar gewesen wäre. Sie reden denn auch von ihren Hoffnungen und von der gelebten Realität, von Amerika als dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten und von den gesellschaftspolitischen Wandlungen, die diese Möglichkeiten halt doch einschränkten. Im Schlusskapitel kommt der Film auf die Mexikaner zurück, die im Salinastal und anderswo als Landarbeiter tätig sind. Sie sind die neuen Einwanderer, sie kommen wohl mit ähnlichen Hoffnungen und lllusionen ins «gelobte» Land, wie damals die Tessiner. Sie verrichten genauso die niedersten Arbeiten zu schlechten Lohnbedingungen. Ob sich John, Franco, Joe, Emilio, Osvaldo und wie sie alle heissen, ob sie und ihre bereits erwachsenen Kinder sich daran erinnern?

Remo Legnazzis Zweiter Anfang erreicht in seiner formalen Gestaltung nie die Geschlossenheit etwa der Chronik von Prugiasco oder Buseto. Vor allem der Teil über die Mexikaner wirkt für mich unorganisch hinten angehängt. Dies als einziger Einwand gegen einen Film, der gerade durch seine irritierend schönen Bilder treffend unsere generelle Skepsis gegenüber den Vereinigten Staaten illustriert.

Zweiter Anfang. P, B, Sch: Remo Legnazzi; K: Fritz E. Maeder; T: Pavol Jasovsky; Beleuchtung: Hugo Siegrist.

16 mm, Farbe, 90 Minuten

Hans M. Eichenlaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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