DAVID STREIFF

EIN FILM, DER STIMMT

CH-FENSTER

Es gibt verschiedene Gründe, die Frederic Gonseths Film (über ein Thema, das auf den ersten Blick langweilig oder zumindest bedeutungslos zu sein scheint und die Gefahr von verschwommener Nostalgie oder denkmalpflegerischer Akribie in sich birgt) so spannend und so aktuell, so vergnüglich und so lehrreich werden Hessen.

Da ist einmal die handwerkliche Kompetenz, auch die Lust am Metier und seinen Möglichkeiten, und zwar auf der Seite der Orgel- wie der Filmemacher. Ein gegenseitiger Respekt ist spürbar, und so wie beim Orgelbau Teil um Teil sich zwingend ineinanderfügt, kleine Kniffe von grundlegender Bedeutung sind für das zu erreichende Resultat, so logisch und einfallsreich, so souverän geht auch Gonseth (hervorragend assistiert von Eduard Winiger, dem Kameramann) vor. La facture d’orgue ist ein «hommage» an die raffinierten Handwerker, aber auch ein exemplarisches Stück Filmarbeit. Und wenn es (zum Glück) kein Lehrfilm über das Orgelbauen geworden ist, ist es doch fast ein Lehrfilm über das Filmemachen.

Hier wird nichts geschummelt, nichts gezaubert, werden keine Kaninchen aus dem Zylindergeholt: der Filmemacher versagt sich Schlampigkeiten, die sich die Orgelbauer nicht gestatten dürften. Deshalb kommen Orgel und Film am Schluss zum Stimmen. Das ist auch damit zu erklären, dass beide, jedes auf seine Art, äusserst arbeitsteilige und komplizierte technische Gebilde sind. Das eine Mal entstehen aus Holz, Zinn und Leim, das andere Mal aus Magnet- und lichtempfindlichen Filmstreifen Dinge, die, richtig bedient (also gespielt bzw. vorgeführt), unsere Sinne berühren und auf unseren Kopf und unseren Bauch einwirken. Bachs Musik wächst am Schluss von La facture d’orgue so organisch aus dem Instrument heraus, dass wohl viele Zuschauer/Zuhörer hier Bach das erste Mal mit anderen, nicht von Konfirmationserinnerungen blockierten Sinnen vernommen haben. Materie als Grundlage von Geistigem - das ist, wenn man es etwas pathetisch ausdrücken will, die gemeinsame Überzeugung und Erfahrung der Orgelbauer und des Filmemachers.

Ebenso sinnfällig wird die Überein-Stimmung von Orgelbauern und ihrem Instrument: nicht zufällig schliesst der Film mit einem Schnitt vom vollendeten Orgelprospekt auf die wie Orgelpfeifen aufgestellten, zum Abschied nochmals gemeinsam versammelten Handwerker. Die Orgel als Inbegriff von Teamwork also, möglich gemacht durch Teamwork. So wie die Pfeifen, je nach Form und Grösse, schnarren und posaunen, oboen und flöten, so sächseln und thurgauern die Handwerker oder sprechen garfranzösisch. Der Kleine stemmt eine Riesenpfeife durchs Bild, der Grosse macht Millimeterarbeit an einem winzigen Ding - und das alles im Dienst dieses Ganzen. In den Gesichtern der Mitarbeiter, die kurz von ihrer Arbeit aufschauen, um uns einen Arbeitsvorgangzu erklären, spiegelt sich dieses Wissen, ein Teil eines Ganzen zu sein, und die Freude an diesem exemplarischen Stück unentfremdeter Arbeit überträgt sich auf uns: es ist ein Film, der Freude macht. Nicht die Technik ist im Vordergrund, sondern die Summe tradierten handwerklichen Könnens, verwirklicht durch Menschen - keine Mumien, sondern Zeitgenossen im Overall und T-Shirt.

Hier kommt Gonseths linkes Bewusstsein zum Tragen, das dem Film so sehr zugrunde liegt, dass er keinen Augenblick darauf verweisen muss (Gonseth hat um 1968 herum Filme gemacht und dann jahrelang engagierte politische Arbeit geleistet). Da braucht es kein Brecht-Zitat am Anfang, keine Exkurse. Subkutan ist dieses Bewusstsein im ganzen Film spürbar, umgesetzt in Klarheit. Einige Male, aber auch hier eingefügt ins Ganze und niemals forciert, lässt sich dieser Ansatz mit Händen greifen (und hebt damit den Film eindeutig ab von einer rein handwerklichen, volkskundlichen Filmarbeit): etwa als der berühmte Anfang des Bachschen d-Moll-Präludiums in den Klang der Sägen übergeht, bei der Ankunft des die Orgelteile transportierenden Lastwagens in Schönenwerd - mit unverstelltem Blick aufs rauchende Gösgen - und in der zeitraffenden Montage-Sequenz, wo spielerisch immer wieder in Erinnerung gerufen wird, dass die Orgel das Resultat menschlicher Arbeit ist. Um zu verstehen, was ich mit dem abgenutzten Wort «links» in diesem Zusammenhang meine, muss man sich nur einmal vorstellen, wie etwa ein Auftragsfilm der Firma Kuhn (der Orgelbau-Firma in Männedorf, wo La facture d’orgue gedreht worden ist) von einer auf Dokumentar- und Werbefilme spezialisierte Filmproduktionsgesellschaft «gelöst» worden wäre: das altehrwürdige Handwerk würde wohl impressionistisch vorgestellt, ein nostalgischer Kommentar würde die grosse Vergangenheit der «Königin der Instrumente» ins Bewusstsein zurückrufen, und klassische Orgelmusik würde von A bis Z diesem barocken Schmaus unterlegt wie bei einem Lunchkonzert in der Tonhalle (Züri-Gschnätzlets mit Pergolesi oder Albinoni mit Coupe Danmark). Das wäre für mich - auch das ein abgenutztes Wort - ein «rechter» Zugang zum Thema.

Dennoch ist bei Gonseths «linkem» Zugang kein Dogmatismus im Spiel, kein Wegleugnen oder verbales Bedauern, dass «Orgelbau» mit «Kirche» zu tun hat; dass es eigentlich schon recht schade ist, dass ein so wunderbares Instrument weitgehend dazu dient, an Sonntagmorgen verschlafene Kirchgänger durch sieben Strophen eines altbekannten Kirchenlieds zu schleppen, muss sich schon jeder selber einfallen lassen. Gonseth redet davon gar nicht. (Ebenso wenig von der denkmalpflegerischen Problematik einer modernen Rekonstruktion einer barocken Orgel, bzw. der Neuheit, die dieses dann doch retrospektive ästhetische Einfühlen in die Formensprache des Barocks im Orgelbau der letzten Jahrzehnte darstellt.)

Der Film schliesst nicht mit der Fertigstellung und Montage der Orgel, sondern - als Höhepunkt beinahe - mit der Übergabe der Orgel an die Organistin. Auch hier wird Musik - Bachs Musik -nicht als von der Materie losgelöster Geist und Überbau zelebriert (filmisch gesprochen im Off): sie wird, mit Händen und Füssen, erarbeitet und in ihrer Materialität vorgeführt wie das schlagende Herz bei einer Herzoperation. Hier kommt einem ein anderer «Linker» in den Sinn, der das auch schon mal (noch mit mehr Nachdruck als Gonseth) dargestellt hat: Jean-Marie Straub mit seiner Chronik der Anna Magdalena Bach.

Ich habe persönliche Gründe, diesen Film ganz besonders gern zu haben und Frederic Gonseth dafür dankbar zu sein. Klassische Musik kann ich aus meinem Leben nicht wegdenken, Mozart und Bach z. B. haben für mich eine niemals erschlaffende Aktualität, und damit hob ich manchmal meine Probleme, weil der sie in Ehren haltende Kulturbetrieb, die Medien und die bessere Gesellschaft, diese Musik als dekorative Versatzstücke gehobener Bildung oder als Möglichkeit, für ein paar Stunden dem harten Alltag zu entfliehen, verwendet und missbraucht. Obschon La facture d’orgue kein Film über Musik ist, tritt in ihm Musik plötzlich wieder als elementare Kraft hervor; er ist eine Reverenz ans Bedürfnis der Menschen, Töne und Harmonien zu erzeugen: er bringt die Leute dazu, wieder einmal genau hinzuhören. Das ist viel für einen Film, der nur vorgibt (und sich letztlich nichts anderes vorgenommen hat als), ein Film über den Bau einer Orgel zu sein.

La facture d’orgue. P: Film et vidéo collectif SA, Ecublens; B, R: Frédéric Gonseth; K: Eduard Winiger; Seh: Elisabeth Wälchli; T: Luc Yersin; D: Paul Cartier und Orgelbauer.

16 mm, Farbe, 59 Minuten

David Streiff
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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