MARTIN WALDER

VIER ZIGEUNER SAH ICH EINMAL...

CH-FENSTER

Zärtlichkeit und Zorn ist mein erster Film in der Schweiz, sagt Flutsch, und man muss es ihm wohl glauben. Immerhin wird Schweizerdeutsch geredet, geflucht und vielleicht auch geschwiegen. Und die Landschaft ist auch schweizerisch —freilich hinter dem Dorf und den Häusern der «Sesshaften», hinter dem Wäldchen mit dem Bach, im «Weichbild» des Dorfes müsste man sagen, wenn es das gäbe. Und auf der Landstrasse, der eigentlichen Heimat der «Fahrenden», scheinen Pferde samt Planwagen von überholenden, verchromten BMW-PS ans Bord gedrängt. Niemandsland also, bewohnt von einer Zigeunerfamilie: Cesa und Beatrice, die Kinder Sorelei und Bajo.

Mein erster Film in der Schweiz, sagt Flutsch, ist aber bei denen im internationalen Niemandsland geblieben: nach den Rummelplatzarbeitern, den Fernfahrern, dem Spieler nun beiden Zigeunern, dem knapp oder gar nicht tolerierten Inbegriff alles dessen, was nicht «sesshaft» ist. Den Zigeunern, denen auch standfeste Dorfpolizisten ein wenig hilflos gegenüberzustehen scheinen - und nicht nur diese: In der Volksschule beispielsweise soll Sorelei, genannt Schigeli, nicht mit einem Messer herumlaufen. Messer sind gefährlich. An irgendeiner Stelle im Film sieht man Sorelei beiläufig und selbstverständlich mit einem Messer spielen, sich mit der Schneide über die Hand schabend. «Messer sind doch gefährlich», denkt man, und sie sind es, auch für Sorelei; dann merkt man, dass es ihr Alltag ist.

Noch gefährlicher als Messer sind Gewehre. Der kleine Bajo hockt mit dem Vater in der Nähe des Planwagens und lernt schiessen, nicht nur auf eine leere Büchse im Gras, sondern auf die Zigarette zwischen den ruhigen Fingern des Vaters - Solcherart auf seinen Vater schiessen zu dürfen!

Die kleinen Freiheiten der Familie Cesa sind keine «petites fugues», sie sind nichts zum Erlernen, sondern zum Verteidigen. Zum Verteidigen aus dem tiefen Gefühl heraus, dass die Freiheit zwar doch nur eine relative sei, wenn man es recht bedenke, und erkauft mit Ärger und Achtung - um gar nichts aber preiszugeben. Dieses Gefühl wird von Generation zu Generation weitervermittelt. Flutsch setzt die beiden Kinder einmal lange vor die Kamera, bis sie nichts mehr zu sagen wissen und das tun, was Kinder dann eben tun: wie die Eltern mit Kummerblick vom schlechten Wetter reden und von den Pferden. Da ist nun zwar eine «Aussage», deutlich vom Filmemacher «gestellt», inszeniert eben (wie ja alles, nur einsehbarer), doch gewinnt diese Aussage durch den Film entscheidende Verbindlichkeit darin, zu zeigen, was es braucht, Sippe zu sein, ausserhalb der bürgerlichen Norm stolz zu bestehen. (Wobei im Übrigen dieses Sippenleben - was etwa die patriarchalische Familienstruktur betrifft - alles andere als unbürgerlich ist.)

Aber ausserhalb der fest gesetzten Normen verbindet sich die Familie Cesa in Zärtlichkeit und Zorn: Der nicht ohne Genuss sich selbst darstellende Cesa «ruft aus», ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen; wenn er sich ins Unrecht gesetzt fühlt, brüllt, tobt und quengelt er. Und wenn er den kleinen Bajo schiessen lehrt oder mit den Kindern Hausaufgaben macht, ist er die Zärtlichkeit in Person: Zärtlichkeit aus vollkommen souveräner Ruhe heraus, ohne jeden Gefühls-Firlefanz. Man kann Cesa einen cleveren Schauspieler seiner selbst nennen, diese Ruhe zu spielen würde ich ihm so nicht einfach zutrauen.

«Vier Zigeuner sah ich einmal»: Flutsch geizt nicht mit der Sinnlichkeit eines Lebensstils, der uns seinerzeit in pfadiseligen Stimmungen erregte. Diese Sinnlichkeit gehört - das macht der Film klar - unabdingbar zur Freiheit und zum Selbstverständnis, die von den Cesas nicht preisgegeben werden wollen. Uns andern wäre der Preis ja längst zu hoch, und er wird natürlich ebenso wenig verschwiegen: die Planwagenromantik lässt Flutsch mehr und mehr wegschwimmen, über dem «lustigen Zigeunerleben» hockt sich der Regen ein, die Pferde ruinieren ihre Hufe, weil der Schmied sie nicht beschlagen will, und müssen trotzdem weiter, weil die Gemeinde keinen Standplatz lassen will, bis die Hufe kuriert wären.

Zärtlichkeit und Zorn. P: Cactus Film, Zürich; B/R: Johannes Flutsch; K: Carlo Varini und Johannes Flutsch; S: Joh. Flütsch und Hannelore Künzi; T: André Simmen; V: Cactus Film.

16 mm, Farbe, 90 Minuten

Martin Walder
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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