MARTIN SCHAUB

DAS UNSICHTBARE DING, DAS SEELE HEISST

CH-FENSTER

Herr Meier, der Rentner aus Frankfurt, und sein Chauffeur Peter; Frau Walti, Haushälterin im Hause Trautwalder, und ihre Kinder Käthi und Urs; Trautwalder, der Hausherr, abwesend. Die fünf (sechs) Personen von Beat Kuerts Nestbruch gehen durch eine nichtabbrechende Reihe von verpassten Gelegenheiten und Begegnungen. Nichts gelingt mehr in dieser Welt, in dieser Zeit. Ein verpatztes Pick-Nick, eine misslungene 1.-August-Feier, eine missglückte Flucht, ein schlechter Beischlaf, eine verpasste Qualifikation, eine unmögliche Liebe (der Rentner und die Haushälterin).

Wer sind diese Figuren? Kuert definiert sie nicht durch die Beschreibung ihrer Herkunft, ihrer Geschichte, ihres sozialen Milieus. Sie sind die, die sie im Verlaufe des Films werden. Unbeschriebene Blätter sind sie alle zuerst einmal, und auf sie schreiben sich sowohl ihre missglückten Handlungen und Reden, sowie die Reflexionen des Zuschauers ein. Beat Kuert überspringt ganze Bedeutungsebenen und kollektive Sinnzusammenhänge, die in anderen Filmen die Plausibilität und die Logik, die (gesellschaftliche) Bedeutung und die «Verbindlichkeit» garantieren. Ohne Umwege über die Erfahrung und die allgemeinen Vorstellungen des Zuschauers soll Nestbruch zum sprachlosen Inneren seines Betrachters sprechen. Jedes Bild ist im Prinzip Sinnbild.

(Deshalb übrigens wirken die paar «Einspielungen» aus der Wirklichkeit von 1980 zunächst einmal eher störend, als unnötige Anbiederungen eines keineswegs biederen Films; als blosse Datierung der Filmherstellung will man sie ja nicht gerne nehmen.) In seiner Anlage ist Nestbruch so zeitlos wie das Werk, das er zitiert und paraphrasiert, Mozarts Zauberflöte. (Im Drehbuch übrigens waren diese Zitate und Anlehnungen noch deutlicher als im fertigen Film. Ein Problem der Machbarkeit, wahrscheinlich.)

Versucht man, Nestbruch als ein stilisiertes Bild heutiger Wirklichkeit zu lesen - der Filmemacher intakt und autark, die kaputte Welt um sich herum betrachtend, analysierend, kommentierend -, wirkt Nestbruch eigenartig leer, fast ärmlich. Da wird so wenig gezeigt; ein paar Häuserreihen in Frankfurt, viel Grün in der Schweiz; keine eigentlichen Auseinandersetzungen der Figuren, keine eigentlichen Konfrontationen mit den Umständen. Die Karriere Käthis, die Konzerte gegeben hat, und die jetzt mit Klavierschülern klimpert, ist - einmal als Abbild abgewürgter Lebensläufe von Kreativen in diesem Land, in dieser Zeit genommen - so summarisch, dass sie nicht genügt.

Nestbruch beschreibt, meine ich, weniger die tatsächlichen Verhältnisse, die im Untertitel erwähnte «Eiszeit», von einem heilen Punkt aus («Gesellschaftskritik»). Der Film ist die Projektion der Innerlichkeit eines Einzelnen (des Filmemachers) auf eine weisse Leinwand. Beat Kuert betrachtet nicht einfach das Versagen, das verpasste Leben, die Angst, die Sehnsüchte und die enttäuschten Erwartungen um sich herum. Seine Figuren sind Personifikationen der eigenen Ängste, Sehnsüchte und enttäuschten Erwartungen.

(Ich möchte das mit einem scheinbar von weit her geholten Vergleich noch einmal veranschaulichen: Man kann das Lebenswerk des amerikanischen Malers Edward Hopper als scharf gezeichnetes Abbild der Leere und Verlorenheit, die er um sich herum feststellte, als Kritik des amerikanischen way of life, der zu Isolation und stummer Vereinsamung führt, begreifen. Das ist auch versucht worden. Interessanter und zutreffender wäre eine andere Betrachtungsweise, eine innerlichere Interpretation. Hoppers Bilder sind als «Seelengemälde», als Projektionen der eigenen Angst, Kontaktlosigkeit, Einsamkeit und Verlorenheit weitaus intensiver und bedeutender.)

Nestbruch scheint mir also die Artikulation einer Befindlichkeit zu sein, der Versuch, die verlorene Kommunikation mit Bildern und sinnbildlichen künstlichen Ereignissen herzustellen, von Verlorenheit (des Autors) zu Verlorenheit (des Betrachters) sozusagen. In diesem Zusammenhang wäre noch nach den Gesichtspunkten zu fragen, von denen aus Kuert seine Fragen (an sich selbst) stellt. Ich denke nicht, dass es politische Fragen sind, wahrscheinlich auch nicht ökonomische, nicht historische. Die Antworten auf die fragwürdige verlorene Existenz weiss für Beat Kuert, so will mir scheinen, am ehesten noch die (Tiefen-)Psychologie (und ihre Materialisationen, Religion, Mythen usw.). In Nestbruch wird kein politischer Diskurs geführt; es geht um Selbstwerdung und um das, was der Selbstwerdung im Wege steht. Da gibt es eine verborgene Autorität: Trautwalder. Da gibt es eine Mutter, die Vater und Mutter gleichzeitig verkörpert: Frau Walti. Da gibt es den Versuch, die Autorität mit magischen Mitteln aus der Welt zu schaffen: Peters fingierte Postkarte. Da gibt es schliesslich die Überwindung des «Über-Ichs»: Urs stösst die Mutter die Treppe hinunter, und Käthi schläft zum ersten Mal mit einem Mann (mit Peter).

Ich denke nicht, dass Nestbruch ein ganz gelungener Film ist. Jene direkte, wortlose Kommunikation von Innerlichkeit zu Innerlichkeit, die Kuert sich wünschte, stellt sich irgendwie nie ganz ein. Ein Verdacht meldet sich immer wieder: Dass Beat Kuert seine Verlorenheit, seine Frustration nicht in Sinnbildern erfährt, die er nur noch nachzubauen hat im Film, sondern dass er sie in künstlicher und manchmal kunstvoller Weise in Bilder übersetzt. Und dass ich, bei meiner Lektüre des Films, eine Art Rückübersetzung veranstalte. «Traduttore - tradittore»: ein doppelter Verrat hängt in der Luft. Oder: Auf dem Weg von Kuerts Innerlichkeit ins Sinn-Bild und dem Weg von Sinn-Bild in meine Innerlichkeit geht zu vieles verloren.

Nestbruch. P: Kuert-Riesen / Filmkollektiv AG, Zürich; B: Michael Maassen und Beat Kuert; R. und S: Beat Kuert; K: Hansueli Schenkel; T: Florian Eidenbenz; M: Cornelius Wernle, Collettivo teatrale operaio, Mozart; D: Hans Madin (Meier), Michael Maassen (Peter), Anne-Marie Blanc (Frau Walti), Therese Affolter (Käthi), Jost Osswald (Urs). 16/35 mm, Farbe, 90 Minuten

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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