PIERRE LACHAT

«BEFORE HINDSIGHT»: FILMEN, WIE GESCHICHTE ZUSTANDE KOMMT — MARKUS IMHOOFS DAS BOOT IST VOLL

CH-FENSTER

Das Boot ist voll ist insofern ein richtiger Film, als er sich und seine Handlung (im weitesten Sinn) schwer erzählen lässt, grad so schwer, wie es wiederum leichtfällt, von der Geschichte, die er erzählt, in wenigen Sätzen eine brauchbare Vorstellung zu geben:

Da gelingt es zur Zeit des Zweiten Weltkriegs einer zufällig und bunt zusammengewürfelten Gruppe von Verfolgten des Naziregimes mühsam genug, sich über die Schweizer Grenze ins Schaffhausische abzusetzen. In einer grenznahen Ortschaft finden die Flüchtlinge provisorische Aufnahme, stossen teils auf Hilfsbereitschaft, teils auf misstrauische Ablehnung. Der Dorfpolizist beginnt, mit ihnen nach den geltenden Gesetzen und Erlassen zu verfahren, ein Prozedere, das schliesslich, gegen den mehr oder weniger offenen Widerstand einzelner Einwohner des Dorfes, zur Ausweisung der rassisch Verfolgten unter den Fremden führt, während die übrigen, als «Politische», bleiben dürfen. Der Dorfwirt, der sich am nachhaltigsten, nämlich auch auf illegale Weise für sie eingesetzt hat, geht in Haft.

Das klingt nicht nur, es ist tatsächlich, in seinen Grundzügen, sehr einfach. Die Geschichte, als Substrat, hat die unerbittlich simplifizierende Logik bürokratischer Bestimmungen an sich, die die feinern Unterscheidungen des wirklichen Lebens, die Motive, Ängste, Hoffnungen, die konkrete Befindlichkeit des Einzelnen mit brutalen Sprachregelungen (und gegebenenfalls brachialer Gewalt) einebnet und in handliche Kategorien einteilt: Menschen zu Fällen macht.

Der eigentliche Film aber setzt dort ein, wo er über die blosse Geschichte hinaus auf die Handlung im Einzelnen (am und durch den Einzelnen) zielt, auf das konkrete Dasein und Verhalten, die Gefühle und Gedanken - all das mithin, was sich in keine Regeln und Regelungen, keine Vereinfachungen fassen lässt. Das Boot ist voll lebt von dieser Spannung: der zwischen der willkürlich über einen Kamm scherenden behördlichen Rechtsanwendung auf der einen und dem realen Schicksal der Figuren auf der anderen Seite. Oder, anders, mehr formal ausgedrückt, zwischen der klaren Linearität der Geschichte und der diffusen Kompliziertheit der Handlung, der mikroskopisch, im Schnappschuss des Augenblicks betrachteten wirklichen Vorgänge.

Handlung hat hier nicht so sehr (oder jedenfalls nicht ausschliesslich) zum Ziel, die Geschichte voranzutreiben, ist auch nicht action um des bewegten Bildes und der expressiven Montage willen. Handlung bringt vielmehr ein, was die Geschichte selbst nicht sagen kann: die Zwischenräume und «toten» Zeiten, die die eigentlich lebendigen sind, die Tiefpunkte, ohne die es keine Höhepunkte gibt.

Und da das Boot ja ein historischer Film ist, lässt sich an dieser Stelle auch gleich die (immer vielsagende) Doppelbedeutung des Wortes «Geschichte» ausspielen: Geschichte wird ja in der Tat stets so erzählt, wie man Geschichten erzählt, nämlich mit allen unerlässlichen und unvermeidlichen Rückführungen, Rückschlüssen, Interpretationen vom Ausgang her, sprich dramatisierend, und: dem Sinnlosen einen Sinn gebend. Imhoof aber versucht, den Strom der Geschichte wieder hinaufzufahren, zu den Wasserscheiden zurück, wo noch nicht feststeht, in welche Richtung der vom Himmel gefallene einzelne Tropfen fliessen wird. Er versetzt zurück in den Moment und an den Ort, wo Gegenwart (und Zukunft) noch nicht Vergangenheit, Hoffnung noch nicht Erfüllung oder Desillusion geworden ist, wo man die Ungewissheit des Flüchtlings, sein Hin- und Hergerissen sein zwischen Resignation und Aussicht auf ein gutes Ende noch spüren kann.

In diesem Sinn will dieser Film ein Kapitel eröffnen, nicht abschliessen, eigene Einsicht und Deutung ermöglichen statt fertige Interpretationen unterzujubeln. Er weckt Zweifel statt sie zu beseitigen, auch solche am handlichen linksliberalen Klischee von der «hässlichen» Schweiz von damals, die es geschickt vermieden hätte, sich die objektive Komplizität mit Hitlerdeutschland nachweisen zu lassen - so einfach war es nicht. Nichts beschönigen, nichts «behässlichen», das meint immer: nicht von ausserhalb des (Spiel-)Films, von der Geschichtsschreibung her argumentieren, sondern aus dem Film selbst heraus, vom sichtbaren Einzelnen her und der Rekonstruktion seiner damaligen Lage. «Geschichtsfilmung» und Geschichtsschreibung - man kann das auch im «Brandenburg»-Film von Hermann, Meienberg und Stürm beobachten - müssen sich in einem wesentlich unterscheiden: Den schreibenden Historiker beschäftigt der Sinn der Geschichte, wie er sich aus dem Nachhinein ergeben hat, den filmenden aber der historische Augenblick, dessen Bedeutung sich noch nicht enthüllt. Weshalb es essentiell war, zu zeigen, dass, die Schweizer im Boot nicht genau wissen, was mit den rassisch Verfolgten in Deutschland geht, dass sie den ganzen Sinn ihres Verhaltens nicht erfassen können. Eine Grenzsituation auch diese - der ganze Film steckt voller Grenzsituationen. Nicht die Geschichte filmen also, die zustande gekommen ist, sondern - gewissermassen - «filmen, wie sie zustande kommt». Darauf kommt’s an. «Before hindsight», sagen die Angelsachsen, fast unübersetzbar: «vor der Rückschau». Das ist der Punkt, an den Imhoof zu gelangen versucht.

Im Übrigen bestätigt sich Imhoof als einer der wenigen wirklichen Schweizer Filmautoren, das heisst als einer, der sich nicht nur von Techniken, vom «Knowhow» und den publizistischen Erfordernissen des Moments leiten lässt, sondern auch von ganz eigenen Obsessionen, Instinkten und Ängsten, von innern Notwendigkeiten und Antrieben. Man erkennt leicht wieder die satte Textur (die aber eben trotzdem den Augenblick offenlässt, nicht «schliesst», determiniert), die Suche nach bestimmten, ebenfalls «satten», das heisst oppressiven, klaustrophobischen Zeit- und Raumwirkungen, den steten Versuch, das fest Geplante, Durchorganisierte durch Unruhe zu überspielen, das eigentlich Starre wieder beweglich zu machen.

Imhoofs Filmographie von Ormenis und Volksmund über Fluchtgefahr und Tauwetter bis zum Boot ist in diesem Sinn die Chronik immer wiederholter Anstrengungen, inter wechselnden (thematischen) Vorzeichen dasselbe zu machen: «integrierende», kontrollierte Filme von der Präzision komplizierter Maschinen, die aber doch Lebendigkeit, Spontaneität, Realismus sozusagen fortzu«produzieren» und deren Rationalität auf die durchaus irrationalen, emotionalen Beweggründe des Autors zurückweisen. Die «Maschine Film», die zu beherrschen sich Imhoof zweifellos vorgenommen hat (und der Kampf mit ihr ist notwendig ein lebenslanger), dient ihm nicht etwa dazu, das Leben in der Kunst aufzuheben. Sie soll über die Kunst zurückführen zur Intervention ins Leben, zur Bio(kinemato)graphie des Autors, dessen Filme nicht Produkte sind, sondern konstituierende Teile seines Daseins. Fluchtgefahr entstand, weil Imhoof mit Sträflingen wirklich zu tun hatte, Tauwetter, weil die eigene Ehe zerbrochen war, das «Boote, weil ihn dieses Kapitel unserer Geschichte (und mehr noch das viele Schweigen darüber) als Schweizer persönlich beschämte.

Und im Grund versucht sich Imhoof da einen Luxus zu leisten, wann immer es geht (den andern Fall, da man sich beauftragen lässt oder selbst beauftragt, gibt es freilich auch bei ihm): keinen Film zu machen, ohne einen guten, wirklich ganz eigenen Grund zu haben, ohne vitale Not, ohne «etwas zu sagen» zu haben, was einer nicht bloss zu sagen beliebt, sondern sagen muss.

Das Boot ist voll. P: Limbo Film AG; B und R: Markus Imhoof; Sch: Helena Gerber; K: Hans Liechti; T: Vladimir Vizner; Bauten: Max Stubenrauch; D: Tina Engel, Curt Bois, Gerd David, Martin Walz, Renate Steiger, Mathias Gnädinger, Michael Gem-part. 16/35mm, Farbe, 100 Minuten

Pierre Lachat
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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