ANDREAS BERGER

HALBHERZIGKEITEN, WOHIN MAN SIEHT — KURT GLOORS DER ERFINDER

CH-FENSTER

Kurz der Inhalt: Dem pazifistischen Fabrikarbeiter Jakob Nüssli gelingt es, bei der Nachmusterung für dienstuntauglich erklärt zu werden. Vom Ersten Weltkrieg merkt man wenig im Dörfchen im Zürcher Oberland, wo Nüssli zusammen mit Frau Martha und Sohn Seppli lebt. Wie besessen arbeitet er an der Konstruktion eines Wagens, der im Dreck nicht einsinken soll wie die gebrauchsüblichen Wagen, eines Wagens mit «künstlicher Strasse». Später dann muss Nüssli feststellen, dass all sein Eifer und seine Arbeit vergebens waren, dass «seine Erfindung» bereits gemacht worden ist - und zwar zu ganz anderen Zwecken: in einer Kino-Wochenschau sieht Nüssli Tanks im Dreck des Weltkriegs herumkarren. Nüssli wird in eine Anstalt versorgt.

1980, zehn Jahre nach dem grossen Durchbruch des jungen Schweizer Films bei Publikum und Kritik und über die Landesgrenzen hinaus (mit Charles mort ou vif, Le fou, James ou pas), sind der Elan, der Schwung und die Begeisterung von einst wieder hin. Vorbei ist die Zeit des Suchens nach neuen filmischen Ausdrucksmöglichkeiten, vorbei die Zeit des (nicht immer gelungenen, aber sympathischen) Experimentierens, vorbei auch die Zeit der Hoffnung auf eine Veränderung des erkalteten geistigen Klimas. Pessimistisch und nicht selten nur noch weinerlich und selbstbemitleidend ist die Grundstimmung vieler Schweizer Filme der letzten Zeit (Schilten, Grauzone, Un homme en mite usw.).

Der Werdegang von Kurt Gloor ist symptomatisch für die Entwicklung des Schweizer Films in den letzten Jahren. Begonnen hat der 1942 in Zürich geborene Gloor wie viele junge Filmemacher in der Schweiz mit Dokumentarfilmen: Die Landschaftsgärtner (1969, über die Armut der Bergbauern), Ex (1970, Ursachen und Folgen von Alkoholismus), Die grünen Kinder (1971, über eine Grossüberbauung) und Die besten Jahre (1974, Gruppengespräch mit Ehepaaren über die Situation von verheirateten Frauen). Das waren keine bahnbrechenden Meisterwerke des Dokumentarfilms und man kann sich darüber streiten, wie sinnvoll es ist, einen Film über das Problem des Alkoholismus mit marxistischen Sätzen zu garnieren. Aber wie immer man auch zu diesen Filmen steht, wie ungeschickt sie zum Teil auch gewesen sein mögen, es waren Filme, die einen nicht gleichgültig Hessen, die bewusst provozierten, um Diskussionen auszulösen. Dann aber ist auch Gloor den bequemen Weg gegangen. Den Dokumentarfilmen Hess er den Spielfilm Die plötzliche Einsamkeit des Konrad Steiner folgen, ein noch immer recht vielschichtiges und komplexes Werk zum Thema Altern. Dann aber zeichnete Gloor für zwei Fernsehproduktionen (Em Lehme sin Letscht, 1977, und Der Chinese, 1978) verantwortlich, zwei Fernsehfilme, die sicher ähnliche Produktionen weit überragen, andererseits den Rahmen einer TV-Sendung aber doch nicht sprengen. Und jetzt also hat Gloor wieder einen Spielfilm gemacht, Der Erfinder, der allerdings zu grossen Teilen von den beiden TV-Anstalten SRG und ZDF finanziert worden ist und auch bald einmal bereits über die Bildschirme flimmern wird.

Gloor gehört mittlerweile zu den «Etablierten» unter den Schweizer Filmemachern, was freilich nur besagt, dass er für neue Projekte vielleicht etwas schneller Finanzunterstützung erhält als Nachwuchs-Filmemacher. Wie die jüngsten Filme von Imhof (Tauwetter, demnächst Das Boot ist voll), Meili (Kneuss), Koller (Das gefrorene Herz), Bolliger (Landvogt von Greifensee) zeichnet sich auch Der Erfinder) durch einen beachtlichen technischen Standard aus. Kameraführung und Beleuchtung (laut Gloor orientiert an den Gemälden Ankers) sowie Ton sind perfekt; der Schnitt ist sauber, das heisst die Anschlüsse stimmen; die Darstellerleistungen, nicht nur von Bruno Ganz und Walo Lüönd, sondern selbst von Leuten wie Margrit Rainer, Inigo Gallo und Ernst Stiefel, sind durchaus bemerkenswert. Kein Zweifel, Gloor und seine Mitarbeiter beherrschen ihr Handwerk, sie haben ordentliche Arbeit geleistet. Allein, dies alles macht noch längst kernen guten Film.

Schauplatz des Films ist ein Dorf im Zürcher Oberland, womit der Film wenigstens örtlich lokalisiert ist. Den Heimatfilm helvetischer Prägung, so gibt man zu verstehen, hat man überwunden. Das Kino, das man in der Provinz macht, soll kein provinzielles Kino sein; also gibt man sich «kritisch». Im Erfinder fallen ein paar Bemerkungen über Militärs und Krieg, über geldgierige Kapitalisten und «Habermues frässendi» Sozis. Diese Bemerkungen bleiben freilich wirkungs- und folgenlos. Sie sind rein verbaler Art und werden nichtnäherpräzisiert (was besagt schon die Erwähnung von 900 000 Kriegstoten, wenn verschwiegen wird, für was diese gestorben sind?) und vor allem sind sie für die heutige Zeit hoffnungslos überholt: der Spekulant von heute hat es nicht mehr nötig, höchstpersönlich aufs Land zu fahren, um landwirtschaftliche Güter «schwarz» zu kaufen, die er dann in der Stadt zu Wucherpreisen verhökern kann.

Auch mit Hilfe der Montage versucht sich Gloor stets wieder an Gesellschaftskritik, die aber ähnlich wirkungslos bleibt bzw. bleiben muss. Der Film beginnt mit der patriotischen Rede eines hohen Militärs auf dem Dorfplatz; die Bauern und Arbeiter, die ähnlich dekorativ ärmlich ausgestattet sind wie die Arbeitslosen in Wolf Gremms Kästner-Verschnitt Fabian, lässt Gloor auf Augenhöhe filmen, die strammen, eitlen Militärs dagegen aus der Froschperspektive. Auch im Folgenden zeigt sich Gloor stets darum bemüht, die Vertreter des Kapitalismus gern aus Untersicht zu zeigen, was ihnen den gewünschten Herrenmenschen-Anstrich gibt, die Arbeiter und Bauern dagegen aus der Vogelperspektive. Einmal etwa bittet ein arbeitsloser Fabrikarbeiter den Gemeindeammann um Kartoffeln; der sich im Hintergrund befindende Arbeiter wird von Inigo Gallos massivem Körper, der fast bildfüllend im Vordergrund zu sehen ist, förmlich erdrückt. Daneben scheut Gloor sich nicht, für die Charakterisierung von miesen Kapitalisten und ausgebeuteten Arbeitern auch billigste Klischees zu strapazieren. Das ist natürlich eine bequeme Art der Systemkritik, wie Gloor sie betreibt. Er zeichnet Feind- und Freundbilder wie anno dazumal, als hätte ein Marcuse nie gelebt. Vor fünfzig und mehr Jahren hat man in dieser polemischen Weise gegen den Kapitalismus Filme gemacht; aber selbst ein von kommunistischer Seite her finanzierter Film wie Kuhle Wampe blieb komplexer und weniger klischiert in seinen Personenzeichnungen.

Auch sonst macht es sich Gloor mit seinem Film recht bequem. Er bietet von allem ein bisschen und weiss doch nirgendwo richtig zu überzeugen. Da ist mal eine gehörige Portion Drama und Tragik: der gescheiterte Erfinder Nüssli landet in der Anstalt; die Tochter Lisbeth von seinem Bruder Philipp gerät unverheiratet in andere Umstände und wird von ihrem Vater verfemt. Da sind eine, zwei Prisen Action: ein Hase wird über den Haufen geknallt, der Dorftrottel Kobi kriegt einmal eins über den Schädel gezogen. Da ist Wortwitz, etwa von der Sorte «We me sech das wott vorstelle, isch das e unvorstellbari Vorstellig». Da wird Komödie gespielt, vor allem auf Kosten von hinterwäldlerischen Naivlingen, als die Gloor seine Personen zum Teil darstellt: auf die Frage «Hesch Umgang gha?» antwortet Lisbeth: «Wird’s eim de schlächt?»; einmal fragt Nüsslis Frau Martha «Was het de da übercho, wos Rad erfunde het?» und am Schluss, wenn Nüssli schon in den Anstaltswagen verfrachtet worden ist, fragt Sohn Seppli: «Isch dr Vater jetz en Erfinder?» Dazu kommt dann noch eine formale Extravaganz, nämlich eine aus einer rasanten Kamerafahrt bestehende Traumsequenz. Wohin man sieht, Halbherzigkeiten.

Für gewiss nicht wenig Geld hat Gloor die Zeit ums Jahr 1916 rekonstruiert. Abgesehen davon, dass die schmucken Uniformen der Militärs, die Oldtimer und die Dampflok geradewegs aus irgendeinem Heimatmuseum stammen müssen, weil sie so sauber herausgeputzt sind, und dass auch in der übrigen Dekoration eher putzig-niedliches und nur von Zeit zu Zeit handfest-reales dominiert, muss man sich doch auch fragen, wie sinnvoll es heute, 1980, ist, eine Vergangenheit nachzuzeichnen, die kaum mehr Bezüge enthält zur Wirklichkeit von heute.

Gloor huldigt einem (Schein-)Realismus, den spätestens Godard radikal in Frage gestellt hat. Nein, ich fordere nicht einen elitären Film für die cinéphile Intelligenzia, und ich achte auch, dass Der Erfinder kein Heile-Welt-Heimatfilm ä la Franz Schnyder ist. Aber endlich möchte ich im Schweizer Film wieder einmal Menschen handeln und sprechen sehen, wie Menschen wirklich handeln und sprechen (und nicht so, wie es im Drehbuch bis ins letzte Detail vorgeschrieben ist); ich möchte Menschen sehen, die nicht nur leben und leiden, sondern auch lieben, Menschen, die ich mag oder vielleicht auch nicht.

Schweizer Filmemacher, auch Gloor, der ja seine nächste Arbeit in Deutschland realisieren will, beklagen oft das vereiste Klima hierzulande und übersehen dabei, dass ihre Filme eben auch Teil dieses Klimas sind. Und: Wenn das Klima schon so mies ist hier in der Schweiz, dann sollte man doch endlich beginnen, an einer Veränderung zu arbeiten. Und warum sollte diese Veränderung nicht im Kino beginnen?

Der Erfinder: P: Kurt Gloor Filmproduktion; P’leitung: Rudolf Santschi; B und R: Kurt Gloor, nach dem gleichnamigen Theaterstück von Hansjörg Schneider; K: Franz Rath; Musik: Jonas C. Haefeli; Schnitt: Stefanie Wilke; Architekt: Bernhard Sauter; Beleuchtung: Scott und Steve Ramsey; Darsteller: Bruno Ganz (Jakob Nüssli), Walo Lüönd (Otti), Verena Peter (Martha), Oliver Diggelmann (Seppli), Thomas S. Ott (Kobi), Klaus Knuth (Philipp), Babett Arens (Lisbeth) sowie Inigo Gallo, Erwin Kohlund, Klaus Steiger, Ettore Cella, Margrit Rainer, Guide Bachmann, Rene Scheibli u.a. 35 mm, Farbe, 97Minuten

Andreas Berger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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