FRIEDRICH KAPPELER

PROVINZ IST IN DEN KÖPFEN — ANMERKUNGEN ZU STOLZ ODER DIE RÜCKKEHR

CH-FENSTER

Unter den ersten vier der von der Nemo-Film im Auftrag des Fernsehens DRS realisierten Sieben Todsünden sticht ein Film besonders hervor: Friedrich Kappelers Stolz oder Die Rückkehr. Auf das gesamte Projekt werden wir später, wenn alle Filme vorliegen, eingehen. Den in einer Dokumentation des Fernsehens DRS publizierten Aufsatz von Friedrich Kappeler drucken wir hier nach, weil er uns gefällt, und weil er zeigt, dass hier ein Regisseur einen Film wirklich aus privaten Erfahrungen heraus geschaffen hat. bg.

Die Entzauberung

Im letzten und zu Anfang dieses Jahrhunderts, als das Photographieren noch nicht Allgemeingut, sondern ein Handwerk für Spezialisten war, konnte selbst ein Photograph in einer kleinen Ortschaft seine künstlerischen Fähigkeiten in seiner täglichen Arbeit und vor allem in seinen Portraitaufnahmen zur Geltung bringen. Jedoch hat sich, das will der Photograph im Film nicht wahrhaben, die allgemeine Einstellung zu Photos geändert, diese unterliegen heute ähnlichen Gesetzen, wie andere Marktprodukte; sie müssen schnell hergestellt werden und verlieren ebenso schnell ihre Aktualität.

Farbphotos und Sofortbilder verbleichen rasch. Es gibt Passbildautomaten und jeder ist Photoamateur. Was für einen Photographen auf dem Land noch zu machen bleibt, sind Hochzeitsreportagen, Routineaufnahmen von Industrieprodukten, ab und zu ein Gruppen- oder Passbild.

Hat es mit der Kleinstadt zu tun, wenn einer, der einmal die Hoffnung gehabt hat, dort als künstlerischer Photograph sein Leben zu verdienen, sich im Alter nur noch als «altmodischer» Handwerker vorkommt?

Ich möchte auf die Frage oben auch mit meinen eigenen Erfahrungen antworten, da ich, ursprünglich zwar kaufmännisch ausgebildet, in die Kleinstadt zurückgekommen bin, um dort zu filmen und zu photographieren.

Die Arbeit

Arbeitet jemand in einem «künstlerischen Beruf», werden die Produkte, die er herstellt, untrennbar von seiner Person.

Im Städtchen werde ich von den verschiedensten Leuten regelmässig auf meine Arbeit, selbst auf meinen ersten Film, der nun bald zehn Jahre zurückliegt, immer noch angesprochen. Einmal ist ein Film von mir im Fernsehen ausgestrahlt worden und anderntags verlangte ich in der Metzgerei Kalbsleber, da fiel es dem Metzger, der mich bestimmt mag, ein zu sagen, «aber klar, jetzt können sie es sich ja wieder leisten».

Aus dem Verhaftetsein des künstlerisch Arbeitenden mit seinen Produkten erwächst der Wunsch (oder Ansprach) nach gesellschaftlicher Legitimation, denn durch die grundsätzliche Infragestellung (nicht Kritik) seiner freien Arbeiten empfindet sich mit der Zeit auch deren Erzeuger als «gesellschaftlich» fragwürdig.

Kürzlich hat mich jemand aus meiner Verwandtschaft im Ernst gefragt, ob ich etwas dafür bezahlen müsse, damit meine Filme im Fernsehen ausgestrahlt werden. Es kommt auch vor, dass ich in der Beiz von Kollegen, worunter auch Studenten sind, zum Beispiel gefragt werde, ob ich eigentlich auch schon mal gearbeitet hätte. Selbstverständlich habe ich Freunde an meinem Wohnort, und es gibt da Leute, die sich wirklich interessieren, aber das hat eigentlich wenig mit der Kleinstadt zu tun.

Das Klima

Wahrscheinlich kann eine Kleinstadt einen «Kulturschaffenden» nur akzeptieren, wenn er sie lobt; oder sie lobt sich selber, indem sie jemand auszeichnet, der ihr Beweis ist, dass dort regionale Kultur möglich ist. Der Mass-Stab aber bleibt das kleine Terrain.

Als ich einmal für den Kulturpreis meines Wohnorts vorgeschlagen wurde, waren die Gründe der Ablehnung keine fachlichen, wie ich dann gerüchteweise erfahren habe, sondern mein Alter, mein Elternhaus und die Weise, wie in meinen Filmen die Region dargestellt wird.

Neben den oft unsinnigen und unmenschlichen Erwerbstätigkeiten, die heute von vielen ausgeübt werden müssen, ist künstlerische Arbeit ein Privileg, auch wenn es erarbeitet werden muss und auch wenn damit kaum jemand den sicheren Lebensstil eines Lehrers (oder z.B. Polizisten) führen kann. Die Infragestellung von kultureller Arbeit als Erwerbstätigkeit ist aber berechtigt, weil sie aus der Einsicht kommt, dass die in der «Produktion» Tätigen «unsere Kultur?» wirtschaftlich überhaupt ermöglichen (möglicherweise oft ungewollt).

Eigentlich muss ich jenem Schulkollegen recht geben, der mir sagt, ihr sogenannten Künstler habt es doch gut, ein Beruf, wo ihr etwas von euch geben könnt und dafür noch Preise bekommt, während wir in die Fabrik müssen, eine goldene Uhr und die Pension erhalten, wenn es schon zu spät ist. (Er fährt ein schmuckes Auto, lebt mit Frau und Kind und spart für ein eigenes Haus, und manchmal bin ich nicht mehr so sicher, ob ich mir das nicht auch wünsche.)

Die Frage nach der gesellschaftlichen Legitimation einer Tätigkeit, die eben in der Kleinstadt direkter an einen herangetragen wird, scheint im gewissen Sinn eine «ethische» zu sein, indem sie voraussetzt, dass derjenige, der sie sich stellt, oder stellen muss, daran glaubt, dass der Mensch auf «etwas» zustreben soll und dass eine gerechtere Gesellschaft verwirklicht werden soll, die von jedem Einzelnen Hingabe an dieses Ziel erfordert. Ob jemand das will und ob seine Arbeit ein Beitrag an dieses Ziel sein soll, wird wohl jeder selbst entscheiden müssen.

Der Photograph

Unter dem Begriff Heimat, den wir heute nicht mehr so gerne hören, kann sich der Photograph im Film noch etwas vorstellen; mehr noch, er hat etwas im Sinn mit seiner Heimat. An das Besondere der Region glauben bedeutet für ihn zugleich, dorthin zu gehören, wo «man» aufgewachsen ist. Auch seine Photographien, denkt er, gehörten irgendwie zu den Landschaften, in denen sie entstehen, sein Unterfangen des Chronisten sei möglicherweise in der nächsten Stadt schon lächerlich.

Er hat sich einmal vorgestellt, mit «guten» Photos und freischaffend sein Brot zu verdienen, trotzdem aber im Ort zu bleiben. Er hat versucht, die «Freiheit», die ihm sein Beruf bietet, durch Ernsthaftigkeit wettzumachen. Dieses hat aber nicht zu einer besonders grossen Produktivität geführt, sondern eher zum Bestreben, etwas «Seriöses» und Verständliches zu schaffen; also keine Experimente.

Mit der Zeit hat sich die Gruppe von Freunden am Ort, die einmal etwas ähnliches wollten, wie der Photograph, irgendwie aufgelöst. Die Schwierigkeit nun, in der Kleinstadt akzeptiert sein zu wollen, trotzdem aber eine ideelle Distanz zu ihr zu wahren, versucht er durch den Kompromiss zu lösen; etwas zu arbeiten, was man dort als rechtschaffen anschaut und dennoch «Künstler» sein wollen. Auf das Drängen seines Vaters (des Grossvaters im Film) ist er bereit, ins Photogeschäft der Familie einzutreten. An seinem «Berufs-Traum» von früher fängt er an zu zweifeln. Die Aufnahmen, die er einst mit Hoffnung und Leidenschaft gemacht hat, sind jetzt sein Hobby.

In der örtlichen Kunstkommission ist man der Meinung, was so ein Photograph neben seiner Arbeit noch aufnehme, sei doch seine Sache, dafür brauche einer doch nicht speziell beachtet zu werden.

Weil ihm das Kaufmännische wenig entspricht, führt er den Photoladen einfach so weiter, wie er ihn übernommen hat, allerdings so korrekt wie möglich, denn da jetzt eine Familie zu ernähren ist, ist das «Mehr-Geldverdienen-müssen» kein Vorwand. Seinen Kollegen im Städtchen gegenüber gibt er sich nun als Geschäftsmann, wie sie, nur kann er nicht von Expansion berichten. Schliesslich geht er immer seltener an den Stammtisch.

Im Film hat der Photograph das Alter, da andere langsam an die Pension denken, und versucht nun ebenfalls seinen Sohn, der verunsichert aus dem Ausland zurückkehrt, zu überreden, ins Photogeschäft einzutreten. Wie dieser sich hartnäckig weigert, dämmert dem alten Photographen am Ende (des Films) die schreckliche Erkenntnis, selber ein «Patriarch» geworden zu sein, wie sein eigener Vater, den er gerade deswegen so abgelehnt hat.

(Die Photos, die im Film gezeigt werden, stammen von Hans Baumgartner, aus Steckborn. Baumgartner hat, obwohl er in der Kleinstadt geblieben ist, die vorhin beschriebene Abhängigkeit umgehen können, weil er Lehrer war und anfänglich nur in seiner Freizeit Photographien hat, um schliesslich, nach einigen Beurlaubungen, die Photographie zu seinem Beruf zu machen.)

Die Photographien

Der Werdegang und die Lebenssituation des Photographen haben auch langsam angefangen, die Wahl der Motive und die Art, wie er sie aufnimmt, zu beeinflussen. Menschen erscheinen immer seltener auf seinen Photographien, dafür immer häufiger die Schönheit der Landschaft. In der Zeit des Wartens auf Anerkennung hat er das Vertrauen in die Kraft seiner Aufnahmen irgendwie verloren, und er sieht auch keine Möglichkeit und Notwendigkeit mehr, seine eigene Problematik zu seinem Thema zu machen.

Der alte Photograph, der sich kaum noch als Chronist seiner Region versteht, scheint fast zu wünschen, dass die Landschaften und Häuser, nachdem er sie aufgenommen hat, historisch werden; so hätte auch der Bildband, den er immer noch hofft einmal herausgeben zu können, seine (regionale) Bedeutung. Seine Aufnahmen von Landschaften sehen jetzt so aus, als dürfte diese nie wieder jemand betreten, als sollten sie bald verschwinden.

Nur wenn er einmal zornig ist und redet, gibt er preis, dass er mit seinen Bildern auch eine Hoffnung hat: die Hoffnung auf das Anhalten der Zerstörung.

Jedenfalls ist es nun sein Stolz, dass seine Aufnahmen, die er kaum noch in seinem Schaufenster aushängt, in seinem Atelier in Schachteln bereitliegen, um vielleicht erst von einer späteren Generation einmal entdeckt zu werden.

Auf diesen Photographien wird das Licht zum magischen Stoff. Der Photograph ist inzwischen schweigsam geworden, hart gegen sich selbst und hart gegen die andern.

Provinz ist auch auf der Landkarte, Provinz ist vor allem in den Köpfen.

Friedrich Kappeler
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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