LUZI RAGETH

ZUCK - ZUCK

ESSAY

Ratatata. Immer wieder rein - raus. Die Bolzen, die die Plastikfolie weiterziehen. 24-mal die Sekunde. Blockhaft rein in die Aussparung und dann wieder raus. Die Bolzen, die reinschlagen in den Zünder, der John Waynes Kugeln (un-)sterblichen Charakter verleiht. Der vierschrötige Matrose, für 50 Mark. Nur Licht wird durchgelassen. Schaut das Mädel die Kamera an? Dieses dreckige Biest weiss im Moment des Gefilmtwerdens genau, dass das Metallgehäuse bald schon durch aber Tausende gieriger Augen ersetzt wird. 24 Bilder die Sekunde und genauso 24-mal schwarz. Ohne diesen Informationsentzug wäre alles grau. Also nicht mehr für unser Auge gemacht, für das sogar ausgeleuchtet werden muss, weil es nach zu differenzierender Betrachtung verlangt. Pech für Orgasmus-Dompteure, die die Lust auf die Ebene bannen können, dass es zu allerbester Letzt noch an Körperwärme fehlt. Erschiesst doch der, der am Drücker ist, sich selbst, und der vor der Kamera winselt und schnaubt, und schreit und hechelt, verflucht der nicht sich selbst, in seinen Ketchup getränkten Wunden. Der Schauspieler schiesst, der Schauspieler stirbt. Selbstmord auf zwei Personen verteilt. Das Vertrauen darauf, dass es nicht aus der Leinwand herausspritzt. Rein - raus. Ein ganzes Geholper um austauschbare Schauspieler und Stars. Aber ist nicht der Star die Rolle, die er vertritt, und die Rolle ist der Darsteller, den sie heiligspricht? Echtheit resultiert aus der Einlebefähigkeit des kniezerschürften Romeo oder des muskelumspielten Ben Hur. Da fallt er tot um und steht als Star wieder auf. Heimelige Filme in Cinemascope, und immer der menschlichen Aufnahmefähigkeit angepasst. Sie kommen. Rein - raus, rein - raus. Momente durchziehen. Kiffig schlürft der Projektor das lichttechnisch behandelte Material in sich hinein, und gibt es, eigentlich unverändert, nur etwas wärmer, wieder hervor. Nur Licht wird durchgelassen. Die Optik ist der lachende Dritte. Sie garantiert dem Semmel, der grinst, wenn sie «im Laufe der Zeit» den Seitenwagen klauen, sie garantiert dem die Unberührtheit. Und dann solltest Du den zur Welt kommen sehen, wenn Du ihm an die Frontscheibe spuckst! Es kann nicht aus der Leinwand herausspritzen.

Sesselgebundener Voyeurismus. No - Ki - No! Die Realität lässt Filme ablaufen und Mädchen tanzen wie vor zwanzig Jahren. Rein - raus. Zuckige Hüften zu schnellen Zungen zu bebenden Bolzen zu bebenden Fingern zu schnellen Autos auf holpriger Strasse. Alles fliegt und alles bebt. Bebt unter der Leichtigkeit einer Projektion. Das Nichts der durchleuchteten Luft zwängt sich in meine Vorkammern. Beklemmtes Atmen. Kompression! Alles geht viel schneller auf Bildern. Informationsentzug oder verstärkte Wahnehmungshilfe. Wer wird angesprochen? Wer kann aber auch den Atem so lange anhalten? Sitzen Sie bequem, während andere ertrinken? Indien: Saudreck. Und doch: Die grösste Filmproduktion der Welt. Mehr als Hollywood. Der heilige Wald. Holiwuud 1941. In Indien nur Frösche - küssende Dinger und Prinzen. Nur Märchen in verpolterter Umwelt, und in Amerika schon lange der Antiheld, der durch eine scheinbar perfekte Umwelt stolpert. Bildchen, Bildchen, hüpf mal wieder. Der obere Bildrand soll runterfallen und die Füsse müssen mal am Kopf angesetzt werden! Viel Glück. (!) Lebensnäher als das Leben, doch der Drehmoment sollte zählen, nicht nur der Drehbuchmoment. Für alle da und für niemanden zu halten. Wo bleibt die Intuition? Ein zerstückelter Traum. Gequantelt auf 24 Stückchen die Sekunde. Serviert in dünnen Scheiben. Dürfen’s zwei Meter mehr sein? Nein! Durchrattern.

Traum um Traum. Situation an Situation. Über kurz oder lang. Geschachtelt und die Zeit verziehend. Jeder Film ist eine Erfahrung, ein wirklichkeitsgebundener Traum. Traumhafte Wirklichkeit. Bilder, von denen sie noch nicht geträumt haben! Sich überschlagende Realitäten rennen an der Linse vorbei. Gehaltvoll. Kopflastig. Esoterisch. Schlecht. Umwerfend. Schön... Unheimlich, was man mit Wahrheiten alles machen kann. Der Simpel denkt sich aber auch seine Petersilie zur Suppe. Und ob das nun ein Naturgesetz ist (nochKäse reinschnippeln), oder nicht: Es wäre nicht so holprig auf der Meinungs-Strasse, wenn das jeder tut. Filme, die für den «Normalmenschen» gemacht sind, sprechen ja höchstens den Durchschnitt an und nicht den Einzelnen. Fremdidentifikation vor Kramer und vor der Leinwand. Zack zack zack - Zentimeter um Zentimeter. Plastikfolie durchzockern und am Schluss sind manchmal alle so tief aufgekratzt. Das war aber nicht der Film, sondern der Betrachter. Dieser ist der wahre Gärtner im Hirngestrüpp und nicht nur der Regisseur. Und die durchgeblasenen Farben: Zerfiltert oder schwarz/weiss. Übertönt oder sanft angehaucht. Oder echt. An die Wand gesengte Wahrheit. Alles bleibt an der Wirkung hängen. Ratatata!

Kein Zuhause

Das Geratter im Heimkino. Die Freunde sind zu Gast. Knabbern Gesalzenes. Trinken gespritzten Orangensaft. Quälen sich auf den bequemen Sesseln. Verdauen visuell Unverdautes. «Die Familie kommt strahlend und winkend aus dem weissgetünchten Hotel mit dem azurenen Hintergrund raus. Die Krüngels tapsen vor... Schon kommen wir ans Meer, der Hund mit der strähnigen Schnauze. Die frierend-zögernde Mummi, die sich das Wasser ans Badekleid streicht. Das Kleine hat Salzwasser geschluckt und reibt sich hustend die zündroten Augen. Und dann die grosse Welle! Aber da waren bei wieder trockener Kamera gerade Manöver. Verwackelte Panzer donnern zu James-Last-Musik mit selbstgebrummten Geräuschen durch die gebüschelte Gegend... Die hustende Kirche aus dem fahrenden Bus. Kurve... Ein Panoramablick vom Hotel aus.» Mir wird schlecht dabei. «Es dreht sich. Flitzende Büsche an jagende Häuser an tanzende Telegrafenmasten.» Im Geratter des Warenhausprojektors. Stop. Zurück. «Mummi erschrickt, als sie’s merkt, und das Mineralwasser schiesst ihr zur Nase heraus. Nach vom. Zurück. Nach vorn. Zurück. Jetzt sehen es alle. Mittlerweile ist der Film verbrannt. D.h., die braune Mummi mit Wasserschweif an der Nase.» Weiter! Die Salzstengel liegen schon auf. Im Whisky ist das Eis geschmolzen. Der Film reisst und wird geflickt. Eben konnte man sich in die Augen blinzeln. Markus hat einen roten Kopf, weil er die zwei Sekunden ohne Badehose so schlecht verdaut wie der Gast das Selbstgebackene. Mutter schaut in der Küche nach dem rechten. Und weiter rattert’s an der schlechten Linse vorbei. Film by Kodak. Weiss. Aus. Alle mögen sich daran erinnern. Spule zurückspulen. Aufstehen. Sich strecken. «Tja. Schön. Sie waren also in Spanien!»?

Präsenz

Morgens, früh, wenn ich zur Schule gehe, zur Arbeit gehe, oder sonst aus dem Hause gehe, oder vielleicht auch von woanders weggehe und so nach Hause komme, vielleicht habe ich auch schon draussen geschlafen, brauche also nirgendwo weg zu gehen, das Schlafen selber ist auch nicht wichtig, vielleicht habe ich nur so getan als ob, oder nicht einmal das, sogar der Morgen ist unwichtig, Mittag, Abend, oder eben Morgen, und es ist auch unwichtig, dass ich überhaupt draussen bin. Da habe ich plötzlich das Gefühl von Ruhe, habe ein zärtliches und sehr tiefes Rauschen im Ohr. Ein Meeresrauschen über Wasser. Der Wald ist da. Blow up. Ich schau mich nach einem toten Mann um. Da ist immer einer.

Ich höre das Pfeifen der Schüsse. Das dumpfe Stampfen galoppierender Pferde. Das Singen von Eisenbahnschienen. Das ist die Abrechnung. Spielt mir bitte das Lied vom Tod! Dann beginnt es zu regnen, strömt unendlich. Da ist auch Lina Wertmüller, die dem ganzen nicht Einhalt gebietet. Es hört trotzdem auf und weit draussen seh’ ich Marcello Mastroianni, wie er die schöne lange weisse Rutschbahn hinuntergleitet. Der Arme. Hat während dem ganzen Film nie mit einer gekonnt. Aber auch schon damals nicht mit Anita Ekberg und trotzdem war’s geil! Paradox, dass er nicht auch Casanova spielen durfte. Was Frauen schielen! Ich bin ja da im Nirgendwo, sehe tanzende Helikopter. Schlimmer als Walküren. Überall schiessen Flammen hoch. Angst ist da. Es ist wirklich die Apokalypse.

Da tauchen auch diese weissen Gesichter auf. Ich stütze den Kopf in die Hände, wische mir auch den Schweiss von der Stirn, halte mir die Augen zu. Da tanzt McDowell in diesem nächtlichen Blau. Stramm. Die Beine durchgestreckt. Die Hand zur Faust geballt. Den Daumen weit abspreizend. Stolz. Caligula.

Ängstlich. Auf der Flucht nach vorne. Der Wind bläst mir um die Ohren und ich hab’ Angst, wenn wir im Clockwork orange auf die Brücke zurasen. Derselbe Wind, den ich spüre, wenn ich im amerikanischen Freund zum Zug raushänge. Ein Affentempo, und rauf und runter, durch ganz San Franzisco, vorne unten am Auto befestigt. Ich bin von Steve McQueen abhängig, doch kann ich ihn auch gegen Superman austauschen, der mich durch New Yorks Strassen fliegt. Da muss ich über mich selbst lachen. Ich schiesse durchs All und werde von Laserkanonen attackiert. Da geht es mir zu weit. Lieber sitze ich mit der Schygulla im zerbombten Haus, hab’ echt Gefühle für Maria Braun.

Überhaupt Gefühle. Ich akzeptiere sie als Person, lasse mich von ihrer Haltung berauschen. Die Stimmung, die ich beim Betrachten der roten Lippen auf schwarzem Grund in der Rocky Horror Picture Show habe, finde ich immer und immer wieder. Das Gefühl, wenn ich im Man who fell to Earth die Hanteln wie Federn niederfallen sehe, auch. Etwa so wie wenn im Zabriskie Point der Kühlschrank hochschiesst. Die mit Ölfarbe braungefärbten Haare im Performance. Das alles ist und bleibt da wie andere Lebenserfahrungen auch.

Luzi Rageth
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]