PATRIZIA LOGGIA

BILD FÜR BILD LASSE ICH MICH HINEINZIEHEN — «DAS VERBOT MACHT DEUTLICH, WIE WICHTIG ES IST, EIGENE BILDER UND FILME ZU HABEN»

CH-FENSTER

Verzweifelte Suche nach Ausdrücken, nach verständlichen Gedankengängen: Nichts schwieriger, als Erlebtes, welches noch in mir arbeitet, und das, worin ich lebe, nachvollziehbar in Sätzen festzuhalten, auszuformulieren.

Wut, Angst, die mich zeitweise völlig blockieren. Genau wie an einer Demo, wenn du vor jener bewaffneten, uniformen und unmenschlichen Wand stehst. Genau wie wenn du Zeitungen liest, Radio hörst, Fernsehen schaust. Berechtigte Angst: Schläge, Strafverfahren, Repressionen, Berufsverbote. Heinz Nigg ist der Lehrauftrag definitiv entzogen worden.

Nicht alleine sind wir der Überzeugung, dass sich Forschung, und somit Wissenschaftsproduktion - eine der wichtigsten Grundlagen der Ideologiebildung - verändern muss: Forschung, die sich nicht des Elends und der Bedürfnisse der Leute bemächtigt, um sie dann in verdaulicher Theorieform in die bestehende Ordnung zu integrieren. Forschung vielmehr, die bewusst aktiv in soziale Prozesse eingreift, um den Vorgang der Selbstbestimmung zu unterstützen, sich selbst dabei mitzuentwickeln und immer allen Beteiligten unmittelbar und verständlich zur Verfügung zu stehen. Forschung primär für den Menschen, nicht für Politik und Wirtschaft! Dass sich die Wissenschaft verkauft hat, ist in den letzten Monaten wieder überdeutlich geworden - am beharrlichen Schweigen ihrer Exponenten.

Nicht verboten wurde der Film Harlan County USA. Vielleicht, weil Amerika so weit weg liegt, weil es in der Schweiz keine Minen, keine solchen «unterprivilegierten» Menschen gibt (auch keine Gewerkschaften, die eine solche Bewegung mittragen könnten). Vielleicht, weil es erst Morde braucht, um ein Recht auf freie Meinungsäusserung zu haben, Aktualität zu besitzen und das zu bekommen, was einem zusteht. Bild für Bild lasse ich mich hineinziehen, aufwühlen -gerade weil es um mir und dir Wohlbekanntes und Grundsätzliches geht. Ahnungen konkretisieren sich: ein über Jahre hinaus dauerndes Mitarbeiten und Kämpfen. Ein Mitleben, nicht nur als fremder Beobachter. Ein echtes Interesse, keine intellektuelle Neugierde. Und sehr viele Gefühle. Kaum aus dem Kino hinaus, löst sich die Spannung von Wochen: die Krise in der Videogruppe war eine unvermeidliche. Es braucht Zeit, um den Knäuel von Gefühlen, Zielen, Ambitionen zu entwirren, Zeit, um die neue politische Dimension zu erkennen. Konflikte, die aus verschieden grossem Engagement, verschiedenen Schwerpunkten und persönlicher Betroffenheit resultieren - Gegensatz zu einer Sache, die ich langsam zur meinen Wachsen spüre, die mehr und mehr Raum fordert.

Letzten Frühling war es noch anders. Sich zurückhalten bei den Stürmungen der Konzerte von Jimmy Cliff, Peter Tosh, Nina Hagen - eine erneute, stärkste, und zum Glück letzte Schulkrise zu überwinden. Meine Wut und Aggression wurden noch von Lehrern und Schulsystem absorbiert. Ein kräfte-verschleissender Alleingang.

Die Anliegen der «Unruhestifter» fanden in den Zeitungen Platz, nicht in jeder aber Verständnis. «Selber machen, statt Idole konsumieren», «Wir wollen eine Bewegung auslösen» -neben Protesten und Forderungen breitete sich ein «neues» Selbstverständnis aus; der Wunsch, aus der Konsummaschinerie auszubrechen. Dann im Sommer, am Hönggerbergfestival. Trunken von Musik, Wein, Menschen, inmitten einer zu Rhythmen ausflippenden Masse, hörte man Markus, der zur Bekämpfung kommerzieller Veranstaltungen, zur Ausbreitung unserer Kultur und Lebensweise, so verschieden sie auch unter uns sei, aufrief. Trotz oder gerade wegen dem leichten Anflug von Pathos: der Aufruf hatte Erfolg. Man kam sich näher, gründete die «rar» (rock als revolte - kultur für öis), machte durch Flugblätter und Feste auf sich aufmerksam, versuchte die Diskussion in der «Szene» aufrecht zu erhalten ... Inzwischen war es kälter geworden.

Nach dem grossen Loch des Maturstresses irrte ich doch noch in den Erkenntniseinöden der Uni herum. Unsägliche Mühe, mich zwischen «Uni oben» und «Gasse unten» zurechtzufinden. Mich als Frau in einer wieder von Männern gemachten und beherrschten Welt, Sprache, wohlzufühlen. Eine ständig wachsende Frustration vor diesem elitären Wissensberg.

Den starken Wunsch, Ethnologie nicht bloss lesend zu erarbeiten, sondern selbst zu erleben, glaubte ich in der Lehrveranstaltung «Community-Medien» teilweise realisieren zu können. Suchen nach Methoden der emanzipatorischen Handlungsforschung, einer kritischen Einstellung zur traditionellen Sozialwissenschaft. Mittel- und Ausgangspunkt: das Medium Video/Film mit seinen unendlichen (auch gefährlichen) Möglichkeiten. Unser Ansatzpunkt lag primär in den Sozialwissenschaften und nicht in filmspezifischen Fragen. Neben der unerlässlichen Konfrontation mit Theorien, die eine direkte Bedeutung für unsere Praxis haben konnten (Quartier- und Gemeinwesenarbeit; Einsatz von Video in kommunalen Bereichen; Städteplanung; Ethnologie und Film; Kulturarbeit und -animation im Ausland, Kulturbewegungen und -initiativen an den Beispielen Berlin und Frankreich), waren es aber die Bilder der gezeigten Filme, die Erfahrungen, die die heftigsten Diskussionen auslösten. Dies waren der Seebacherfiim - über die Tagung von Zürcher Bürgerinitiativen in Seebach, Frühjahr 79 - und der Film Luisenstrasse, Ausschnitte über ein Wohnstrassenprojekt im Kreis 5, die der betroffenen Bevölkerung fortlaufend und dann gesamthaft an einem Informationstag der Behörden gezeigt worden waren (den Spielplatzfilm von Heinz, über die Spielplatzsituation im Kreis 4, sahen wir im Laufe des Semesters). Auftürmen vieler Fragen, Zweifel:

Wie verhindern wir den durch Technik und «Wissen» bedingten Macht- und Führungsstatus? Ist es möglich, Einfluss-und Manipulationstendenzen zu kontrollieren? Was für eine Form garantiert eine grösstmögliche Mitsprache und Berücksichtigung Einzelner? Sollen Probleme, Konflikte im Film schon verarbeitet werden? Wie werden wir mit unserer Beobachterrolle fertig? - und es wurden deren immer mehr. Lähmende, deine Phantasie und Spontaneität erstickende Überlegungen. Versuch, sich daraus mittels klar (und brav) formulierter Richtlinien zu retten: Unser Bereich beschränke sich auf den der Videoanimation, also richte sich die Arbeit in erster Linie nach den Bedürfnissen der Zielgruppen. Mit ihnen und für sie würden die Bänder, über die sie auch verfügen könnten, produziert. Es ginge primär darum, den Dialog in der Gruppe, gegen aussen und mit den Behörden zu ermöglichen - denn nur ein artikulierter Widerstand macht einen Konflikt öffentlich!!!

Der Prozess der Themenwahl unter den neu Dazugekommenen war langwierig. Vermutlich hat man als Student -im Bewusstsein so vieler Probleme - etliche Mühe, sich wirklich betroffen zu fühlen! Nach einem kurzen technischen Einführungskurs, endlich die ersten Aufnahmen im Lichthof der Uni. Das unbeschreibliche, prickelnde Gefühl, wenn du die Kamera erstmals in den Händen hältst, das Gewohnte durch das Objektiv mit neuer Neugierde suchst! Dann: dabei sein an einigen «rar»-Versammlungen (die «rar» hatte sich inzwischen gewandelt; autonome Arbeitsgruppen gingen gezielt Problemen nach, diskutierten ihre Schwierigkeiten und das weitere kollektive Vorgehen an gemeinsamen Sitzungen), mit denen, die ich schon kannte, darüber reden - es wurde plastischer. Auch die anderen Hessen sich langsam hineinziehen.

Wir fassen Mut, erscheinen mit den Geräten und bringen unser Projekt vor, unsicher, nach geeigneten Worten suchend. Das Ganze klingt plötzlich so absurd, daneben. Zunächst einmal Schweigen. Stille. Unwohlsein, Schwitzen. Einige zögernde Fragen. Dann, wie eine Flutwelle: Skepsis, Misstrauen, Aggressionen, Wut. Die «rar»-Leute wehren sich, Objekte einer gegen sie gerichteten Forschung zu sein, für unsere Uni-Karriere be- und ausgenützt zu werden. Andere wiederum entgegnen dieser nicht unberechtigten Angst mit Zweckegoismus; Video biete eine gute Möglichkeit, den Kampf auf mehreren Ebenen weiterzuführen. Ich fühle mich nicht gut in der Rolle der Vertrauensperson. Die Befürchtungen, das Material könne in falsche Hände geraten und gegen sie verwendet werden, versuchen wir durch das Versprechen, im Notfall die Bänder zu löschen, zu beschwichtigen. Vorübergehender Verzicht aufs Filmen, Akzeptieren des Vorschlags oder Kompromisses, als autonome Videogruppe der «rar» beizutreten: die Annäherung über die verschiedenen Arbeitsgruppen soll ein sich gegenseitiges Kennenlernen, ein Vertrautwerden mit dem Medium ermöglichen.

Aber es kam anders. Es begann eine Zeit von stundenlangen Sitzungen. Unendliche politische Diskussionen, die sich dann in der Beiz, bei sehr viel Wein, Bier und Gelächter zu persönlichen Gesprächen wandelten. Ich beteiligte mich immer mehr aktiv an der «rar» - die anderen Studenten bekamen zusehends Identifikationsschwierigkeiten (es ist ein Unterschied, ob man die Leute gern hat oder sie bloss toleriert, ihre Anliegen, aber nicht sie selbst versteht). Unsere vorgesehene Arbeit erschien mir immer mehr als eine Utopie, ein Luxus. Wir hatten zu wenig Zeit, zu wenig echtes Interesse. Die Geräte mussten bestellt, abgeholt, zurückgebracht werden, bei jeder technischen Panne ratloses Herumstehen usw. - trotz unseren privilegierten Voraussetzungen waren wir zu sehr abhängig.

Nach der unerlaubten «Silvesterfeier» an der Limmat-str. 18/20 und dem Beitritt in die IGRF (Interessensgemeinschaft Rote Fabrik; ihre Initianten werden seit Jahren von der Stadt an der Nase herumgeführt), wurde das Raumproblem immer dringlicher. Ein ideales Objekt und politisches Druckmittel drängte sich von selbst auf: die Rote Fabrik. Kurzerhand beschloss man, am 9.März dort ein Fest durchzuführen. Unerwartet viele Leute (ein Polizeieinsatz war nicht unrealistisch), die unschlüssig herumstanden, wartend. Erst Musik und Theater schienen aufrütteln zu können - immer noch stärkste Ausdrucksmittel unserer Inhalte. Der Versuch einiger, doch noch eine Diskussion anzureissen, ging schliesslich in wildem Tanzen aller unter. Wir filmten zu dritt, völlig von den Geräten in Anspruch genommen - nachträglich das traurige Gefühl, nicht richtig teilgenommen zu haben.

Die Aufnahmen waren gut. Für uns hatten sich folgende Möglichkeiten der Materialauswertung herauskristallisiert: die eine besteht darin, die Originalaufnahmen direkt oder zusammengeschnitten immer unmittelbar in der nächsten Diskussion einzusetzen. Damit kann man spontane Reaktionen anregen, Auseinandersetzungen und Entscheidungsprozesse in Gang bringen und diese gleichzeitig dokumentieren. Die andere Möglichkeit ist, dass man einen grossen oder mehrere kleinere Filme produziert, durch die die Anliegen der Gruppe ungezielter an eine breitere Öffentlichkeit getragen werden sollen.

Die Diskussion fand dann am darauffolgenden Mittwoch im Drahtschmidli statt. Nach etlichen Meinungsverschiedenheiten wurden Verhandlungen mit dem Stadtrat gutgeheissen, und man lud Vertreter zur nächsten Versammlung ein.

Unser Beitrag zum 2. April wird ein 20 Min. langer Film, ohne Kommentar (innerhalb von 4 Tagen visioniert, illustriert, geschnitten - ein riesiger Aufsteller). Es bleibt beim Applaus, denn die Frage, ob die «rar» mit anderen Organisationen zusammen ein Komitee («arf» - arbeitsgruppe rotefabrik) gründen soll, um auf einer breiteren Basis effizienter wirken zu können, ist wichtiger. Auch diesmal sind wir wieder mit der Kamera dabei, doch es gibt Schwierigkeiten. Die Kassetten klemmen, das Mikrophon genügt nicht, da die Leute im ganzen Saal verstreut sind, ich sie ewig suchen muss -der Widerspruch, da und doch nicht dabei zu sein wird für mich unerträglich, ich höre auf).

Krise in der «rar». Wir setzen den Film ein, es entsteht ein gutes Gespräch. Man beginnt sich auch für uns zu interessieren, für unsere Probleme, es werden Vorschläge, Wünsche geäussert, einige möchten mitmachen - ein Erfolgserlebnis, das mir wieder Zuversicht gibt.

Überhaupt scheint sich in Zürich viel in Bewegung gesetzt zu haben. Dann, der entscheidende Tag: das alternative Sechseläuten in der Langstrasseunterführung. Spätestens jetzt ist allen klar: es gibt einen heissen Sommer! Noch deutlicher wird es in der Roten Fabrik am 17./18. Mai. Staunend starre ich auf die Bühne, wo einer nach dem anderen zu reden beginnt: über Kultur, Gewalt, Militanz, über seine Wut, seine Erlebnisse, es sprudelt nur - ein erster Schritt zur Handlung. Diesmal filme ich nicht, bin froh, dass ein paar aus der «rar» die Geräte spontan übernommen haben, Interviews machen, filmen. Sie sind es auch, die dann den zweiten Film schneiden -den wir nie zeigen werden, da sich die Ereignisse überstürzen.

30. 5. Aufgeregt, zittrig, inmitten einer ebenso nervösen Menge. Trotz Seifenblasen, den bemalten Gesichtern und originellen Sprüchen ahnen alle, dass etwas geschehen wird. Da kommt die Polizei aus dem Opernhaus hinaus, drängt uns von der Treppe hinunter. Pfiffe, Buhrufe, Beschimpfungen. Ich versuche mich nur auf die Kamera zu konzentrieren. Heinz hat schnell begriffen, führt mich sicher, ich kann ungestört filmen. Wir gehen auf die Seite, wo der Kordon schon aufmarschiert, kampfbereit. Es geht los. Die ersten Steine fliegen, die ersten Barrikaden werden gebaut. Auf der Suche nach Eindrücken, Meinungen, beginnen wir Jugendliche und Passanten zu interviewen. Sogar Opernhausverwaltungsrat Jecklin äussert sich - mit einem Lächeln und einem Flugblatt in der Hand. Alles bekannt, doch es schüttelt mich. Tränengas, Wurfgeschosse - wir werden Richtung Bellevue gedrängt. Eingeschränkt in meiner Bewegungsfreiheit, meine Wut unterdrückend, habe ich Mühe, weiterzufilmen. Alles, was um mich herum geschieht, gefiltert wahrzunehmen - es nimmt auch ein wenig die Angst. Es wird langsam zu dunkel, wir beschliessen, die Geräte und die Bänder sicherzustellen.

Am Samstagmorgen wird das Material von einer Stunde auf 7'30 Min. zusammengeschnitten. Die Tagesschau will eine Minute ausstrahlen, ohne dass wir Einblick in den Kommentar bekommen. Wir lehnen ab.

1.6. Vorführung an der Pressekonferenz der «arf». Bereit, mit dem Chefredaktor der Tagesschau zu verhandeln, lehnt dieser nun ab. Begründung: der Film sei tendenziös. Am Nachmittag zeigen wir ihn im Neumarkttheater, filmen dann die erste und überwältigende Vollversammlung (W) im Festzelt.

Mittwoch: VV im Volkshaus. Neben Tagesschau und Blickpunktsendung vom Montag zeigen wir auch den «Krawall-film». Dann Weiterfilmen des Cabarets von emilie und sigi.

Laufend kommen Bestellungen von Jugendgruppen, Einzelpersonen. ZDF und Blickpunkt möchten eine 16-mm-Kopie.

6.6. Nachdem wir mit Heinz Nigg die Ringvorlesung «Was verstehen wir unter Ethnologie» gehalten haben, die eine heftige Diskussion unter den Studenten ausgelöst hat, kommt die Verfügung von Gilgen.

9.6. Uni-Grosskundgebung, trotz Verbot Vorführung des Films.

Seither hat sich vieles für mich geändert. Druck, Drohungen, Beschuldigungen von allen Seiten - ich wehre mich, in den Teufelskreis von Rechtfertigung, von Wissenschaftsdiskussion hineingezogen zu werden. Als Teil der Bewegung ebenso konsequent in der Verweigerung, verneine ich heute auch diesen idealistischen Forschungsbegriff. Es nützt nicht viel, Reformen in bestehenden Institutionen durchsetzen zu wollen, es geht darum, die Aufteilung zwischen «Wissenden» und «Nichtwissenden» aufzuheben, bestehende willkürliche Ordnungen und Systeme niederzureissen. Ich versuche es, indem ich aussteige.

Patrizia Loggia
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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