ELSBETH KUCHEN / HEINZ NIGG

«JUNGI MACHED FERNSEH!» — VIDEOARBEIT MIT KINDERN UND JUGENDLICHEN, ZÜRICH, SOMMER 1980

CH-FENSTER

Als ich das erste Mal vor der Kamera stand, wurde ich tomatenrot. Zu meinem Glück sah man das nicht auf dem Fernseher, denn es war eine schwarz-weiss Kamera. Das erste Mal sah ich mich im Fernseher. Es kam mir vor, als sei ich nicht mehr mich selbst. Wahrscheinlich ging es den anderen auch so.

Franka, 13

Kinder und Jugendliche (auch Erwachsene) sitzen oft allein vor dem Bildschirm, schauen Programme an, die kaum ihrer Altersstufe entsprechen und in den seltensten Fällen mit ihrem Alltag im Zusammenhang stehen. Dadurch werden Emotionen (Sehnsüchte, Ängste, Aggressionen) ausgelöst, Verhaltensmuster und Wertvorstellungen propagiert und damit eine Scheingeborgenheit aufgebaut.

Die Arbeitsgemeinschaft «Jungi mached Fernseh» hat sich gebildet, um Kindern und Jugendlichen den direkten und kritischen Umgang mit dem Medium Fernsehen zu ermöglichen. Mitglieder: Silvia Lutz, Germanistikstudentin; Peter Voellmy, Theaterpädagoge; Heinz Nigg und Elsbeth Kuchen, Videoanimatoren.

Wir führten ein zweiwöchiges Experiment während den Sommerferien 1980 in den Stadtkreisen 4 und 5 von Zürich durch. Wir versuchten mit 14 Kindern und Jugendlichen (gleiches Verhältnis von Buben und Mädchen), die nicht in die Ferien gehen konnten, Video zu machen und sie unter dem Motto «Erlab dis Quartier» dazu anzuregen, mit eigenen Augen sehen zu lernen: Die Teilnehmer sollten damit zu Erfahrungen mit sich selber, der Gruppe und ihrem unmittelbaren Lebensbereich gelangen. Auch versuchten wir, für sie Raum zu schaffen, um auf spielerische Weise Fernseherlebnisse zu verarbeiten und damit ihr Vorstellungsvermögen und ihre Fantasiewelt zu reaktivieren.

Professor Löffler vom Ethnologischen Seminar Zürich erteilte an Heinz Nigg einen Forschungsauftrag, das Experiment wissenschaftlich zu begleiten. Ein Fernsehteam der Universität (Kamera: René Senn, Ton: Peter Feuz, MAZ und Wartung der 1/2-Zoll Videogeräte: Markus Lehmann) dokumentierte das Experiment im Auftrag von Professor Löffler (1-Zoll, Farbe). Die drei 1/2-Zoll Videogeräte für die Kursteilnehmer/innen wurden uns von der Universität zur Verfügung gestellt.

Die Pro Juventute, die Präsidialabteilung der Stadt Zürich, das Schweizer Schulfernsehen und die Schweizerische Bankgesellschaft finanzierten unser Projekt.

Das Experiment fand im ausgebauten Keller und im Visionierungsraum des Filmkollektivs Zürich statt.

Für alle Eltern, Freunde, Nachbarn und Interessenten (Geldgeber, Presse, Medienfachleute) veranstaltete die Arbeitsgemeinschaft zusammen mit den Kindern am Ende des Projektes ein Abschlussfest, an dem wir eine Auswahl der Videofilme zeigten.

Wie bist Du dazu gekommen?

Mirco, 12 J: Ich bin auf der Bullinger-Wiese gewesen und habe Fussball gespielt. Da seid ihr gekommen, Du und Heinz, habt uns gefilmt und Flugblätter -verteilt. Darauf war ein Plan vom Filmkollektiv an der Josefstrasse. Am Montag haben Chrigi und ich das gesucht und gefunden.

Susanne, 11 J.: Meine Freundin Iris hat mich eingeladen. Sie hat so Zettel bekommen und fragte mich, ob ich auch da sei während den Ferien. Ich sagte ja, und sie meldete mich an.

John, 11 J.: In der Schule haben wir Zettel bekommen. Unser Lehrer hat sie uns vorgelesen und da hatte ich plötzlich das Interesse mitzumachen. Die andern haben mich dann ausgelacht, weil sie gemeint haben, ich werde ein Krimistar. Sie waren ein bisschen eifersüchtig. Sie meinten, das koste Geld und dann haben sie etwas vorgehabt mit ihrem Geld und dann haben sie gefunden: Ich mach da lieber nicht mit. Einer von der Klasse genügt.

Zu Beginn konnten die 10-15-jährigen die Handhabung der Videogeräte lernen und verschiedenste Übungen machen. In Kleingruppen produzierten die Mädchen und Buben folgendes: Drei Krimis, ein Liebesfilm, ein Discofilm. / Improvisationen: Zwei Tagesschauen, ein Ritterspiel, sich gegenseitig spontan interviewen. / Interviews: Waschsalon, Coiffeur, Lebensmittelgeschäft, auf dem Markt, im Bus, Strasseninterviews zum Thema Quartier. / Reportagen: Musikladen, Body-Building Center, Migros Imbiss-Ecke, John's zu Hause.

Diese Produktionen sind auf Grund verschiedener Methoden entstanden. Der Erfahrungsaustausch ermöglichte es jedem/r Animator/in, die eigene Arbeitsweise zu überprüfen, zu relativieren und weiter zu entwickeln. Wir unterschieden zwischen dem situationsbezogenen, improvisierenden Arbeiten einerseits und dem geplanten, strukturierten Vorgehen anderseits.

Beispiele aus den Produktionen

1. Beispiel: Die scharmlosen Mörder, Heinz Nigg, Mirco, Chrigi, Peter und Markus: Die Gruppe wollte einen richtigen Action-Film machen und einigte sich auf einen Krimi. Die Kinder erfanden eine Story und schrieben ein Drehbuch. Dies erleichterte den Ablauf der Filmarbeiten und ermöglichte der Gruppe, die einfache «Produktion» in drei Tagen zu realisieren. Die Kinder erfuhren dabei, dass das Video-Erfolgserlebnis nicht so unmittelbar ist, wie bei einer Übung oder Improvisation. Schrifttafeln für die verschiedenen Drehorte wurden geschrieben, Requisiten und Kostüme gesammelt (Ketchup für das Blut durfte natürlich nicht fehlen) und eine Schauspielerliste zusammengestellt. Eine andere Gruppe (Peter Voelimy, Mario, John und Susanne) erklärte sich bereit, bei einer «Co-Produktion» mitzumachen. Peter, Mirco und Chrigi erklärten den anderen die Story und die einzelnen Rollen. Diese wurden verteilt, ebenso die technischen Arbeiten.

Die scharmlosen Mörder: Ein reicher Viehzüchter aus Lateinamerika bringt Geld auf eine Londoner Bank. In seinem Hotel wird Pedro Gonzales von zwei Männern erpresst und später in einem Hinterhof ermordet. Ein Kommissar und ein Polizist sind den Mördern auf der Spur und überführen sie.

Mario: «Zuerst war es schwierig, nach dem Drehbuch der andern zu arbeiten. Nach einer Anlaufzeit wusste ich, was ich zu tun hatte. Die Geschichte war in kurze Szenen aufgeteilt und deshalb ging die Arbeit gut. Auf die Dauer hat es den Mirco angeschissen, weil wir die Szenen ein paarmal wiederholen mussten. Mir machte das nichts aus, weil wir dann die besten Szenen nehmen konnten.»

Kommentar: Peter V.: «In einem Spielfilm ist es wichtig, mit den Kindern auch filmische Überlegungen anzustellen. Nicht nur eine Szene einfach aufnehmen, sondern sich überlegen: wie kann die Szene am besten in Bilder umgesetzt werden. Man sollte mit den Kindern darüber reden, ob man eine Nahaufnahme machen will, oder wie man eine Szene bild-mässig einführt. Zuerst kann man die Kinder machen lassen und sie nachher fragen, wie sie das, was sie zeigen wollen, noch besser verdeutlichen können.»

Elsi: «Neben der Einführung in die Kameratechnik ist es wichtig, dass wir den Kindern einen Freiraum geben, damit sie ihre eigene Bildsprache entwickeln können.»

2. Beispiel: Improvisationen, Elsi Kuchen, Barbara, Franka, Silvio und Mona: Die Kinder der Gruppe wollten sich gegenseitig interviewen, in Anlehnung an die Fernsehsendung «Verstehen Sie Spass». In den Interviews tauchten plötzlich Alltagsfragen auf: Was isst Du gern? Hast Du einen Schatz? Gehst Du gerne in die Schule? Findest du die und die blöd? Das fiktive Gespräch wurde bald zum realen Gespräch. Darauf folgte ein zweites Interview mit extremem Selbstdarstellungscharakter. Auf ihre gegenseitigen Fragen antworteten die Kinder unpräzis und brachten hauptsächlich ihre Stimmungen zum Ausdruck: Durch Schweigen, Grimassen, Einsilbigkeit, Körpersprache. Wichtig für sie war nicht, das Interview für ein Zielpublikum zu gestalten, sie machten es für sich selbst, ein Endlosinterview.

Visionierung: Ein richtiger Hunger, sich immer und immer wieder zu sehen. Wie sehe ich aus - Wie siehst Du aus -Wie und was sage ich - Wie bewege ich mich. Wenn jemand in den Visionierraum hereinkam, reagierten sie sauer. Offenbar empfanden sie ihr Videoband als etwas sehr Persönliches. Als sie gefragt wurden, ob sie am Abend den anderen Gruppen etwas von ihrem Band zeigen wollten, reagierten sie vorsichtig: «Ja, aber dann müssen wir das Band nochmals genau anschauen und einen Ausschnitt bestimmen.»

Kurz vor Ende des Tages. Nur noch zum Plausch schnell eine Tagesschau machen. Staatschefs sterben, Wahlen finden statt, autofreie Sonntage, Gute-Nacht-Geschichte und das Wetter - alles wild durcheinander. Die Kinder wählten ihre Tagesschau für die Visionierung am Abschlussfest aus mit der Begründung: das sei typisches Fernsehen, aber lustig.

Kommentar: Elsi: «Ein Videoband kann man für sich selber oder im Hinblick auf ein bestimmtes Zielpublikum herstellen und betrachten. Auf Band aufgezeichnete Improvisationen sind meistens nur für die an der Improvisation Beteiligten interessant. Ein sog. Zuschauerpublikum ist auf ganz bestimmte Sehweisen konditioniert und reagiert mit Befremden, wenn ein Prozess gezeigt wird anstatt ein geschnittenes Produkt, das auf bestimmten Spannungs- bzw. Entspannungsmechanismen beruht.»

Peter: «Wichtig ist es, auf den Moment zu reagieren und sich der Mittel bewusst zu sein, die einem zur Verfügung stehen. Die Kinder haben so viel «Powern, und es hat so viele gute Mädchen und Buben, dass man oft einfach sagen muss: So, jetzt legen wir los! Beweglich sein im Vorgehen. Die Kinder sind Menschen und nicht berechenbare Schemen. Die Kunst besteht darin, auf die von den Kindern formulierten Bedürfnisse mit der richtigen Arbeitsmethode (strukturiert/ improvisiert) einzugehen. Die Animatoren sollten sich darauf beschränken, Realisierungshilfen anzubieten. Schrittweise vorgehen, nicht überfordern, Erfolgserlebnisse ermöglichen, da die meisten Kinder eine geringe Frustrationstoleranz haben.»

Neben Spielfilmen und Improvisationen war der Gebrauch von Video als Mittel zur Dokumentation vom Alltag wichtiger Bestandteil unserer Arbeit mit den Kindern.

3. Beispiel: Ein Interview in der Migros, Heinz Nigg, Susanne, Peter und Iris: Die Gruppe wollte etwas zum Thema «Arbeit» machen. Die Mutter von Iris arbeitet als Abwascherin in einer Migros-Imbissecke. Schon in der ersten Woche hatte sie sich dazu bereit erklärt, ein Interview zu geben. Die Kinder bereiteten Fragen vor und machten dann ihre Reportage: Eine Einstellung vom Haupteingang der Migros, dann die Mutter von Iris an der Arbeit. Iris interviewt ihre Mutter. Ein zweites Interview mit dem Koch. Gäste an der Imbissecke (Schluss-Schwenk). In einer anschliessenden Gruppendiskussion, die wir ebenfalls aufnahmen, äusserten sich die Kinder über die Arbeit, welche die Mutter von Iris machen muss:

Silvia: Könntest Du Dir vorstellen, so zu arbeiten wie Deine Mutter?

Iris: Ja.

Silvia: Würde Dir das Freude machen?

Iris: Freude nicht gerade. Ich würde es machen, um in den Ferien Geld zu verdienen. Aber das ganze Leben meinen Unterhalt so zu verdienen, das möchte ich schon nicht.

Susanne: Ich finde es langweilig, immer nur abzuwaschen und abzuwaschen und zwischendurch einen Kaffee zu trinken. Wenn ich schon abwasche, dann möchte ich auch einmal etwas kochen oder Patisserie verkaufen.

Peter: Ich habe es auch langweilig gefunden, es war wie Fliessbandarbeit. Es braucht doch ein bisschen Abwechslung in der Arbeit.

Kommentar: Heinz: Unsere Arbeit mit Interviews hat gezeigt, dass die Kinder auch durchaus fähig sind, sich kritisch mit ihren neuen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Die Interviewtechnik könnte noch vertieft werden, damit die Kinder nicht nur mechanisch Fragen stellen, sondern lernen, von einer vorbereiteten Frage auszugehen und dann spontan auf die Antworten des Interviewpartners zu reagieren.

Elsbeth: Das haben wir in meiner Gruppe oft gemacht. Wir haben einmal auf den Bus gewartet. Da sagen die Kinder: Wir machen ein Interview mit diesem Mann, der auch auf den Bus wartet. Sie haben gute Fragen gestellt. Nach Spontaninterviews kann man dann in einem zweiten Schritt – wenn man sich z. B. auf das Thema «Verkehr» geeinigt hat - fragen, was wollen wir nun wissen, und was wollen wir im Videofilm zeigen. Oder man geht strukturiert vor, indem ich ein Thema gebe. Dann bespricht man die Fragen zuerst.

Heinz: Dann ist eben die Gefahr da, dass die Interviews starr werden. Ich möchte den Kindern den Unterschied zwischen einem langweiligen und einem interessanten Interview bewusstmachen; zwischen einem Interview mit stereotypem Antwortcharakter und einem anderen, in dem der Partner frei spricht, ins Erzählen kommt und die Fragen nur Auslöser sind. Das hängt natürlich nicht nur vom Interviewer ab, sondern auch von der Redefreudigkeit des Befragten.

Erfahrungen aus unserem zweiwöchigen Experiment

Gruppenarbeit. Peter: Ich bin der Meinung, dass es gut ist, wenn ein Animator eine Gruppe für eine ganze Woche hat. Da die Einführung in die Videotechnik und der Aufbau der Gruppenarbeit von Animator zu Animator verschieden ist, ist es schwierig, die Gruppen zusammenzubringen und etwas Gemeinsames zu machen. Erst in der zweiten Woche ist eine Zusammenarbeit verschiedener Gruppen sinnvoll.

Elsbeth: Ich glaube auch, dass die Kinder den Anspruch haben dürfen, dass wir voll für sie da sind. Aber es ist ebenso wichtig, dass man die Kinder in die organisatorischen Arbeiten einbezieht. Damit sie lernen, dass nicht alles selbstverständlich ist, dass wir und die Videogeräte nicht einfach «benutzbar» sind.

Heinz: Das bedingt, dass Kinder und Erwachsene miteinander reden können. Am Anfang war ein Chaos, alle haben durcheinander gesprochen. Es braucht Zeit, bis sich Vertrautheit entwickelt.

Video. Heinz: Da Videobänder mehrmals Überspielt werden können, steht man nicht unter Kostendruck. Dies ermöglicht für die Kinder einen unbeschwerten Lern- und Experimentierprozess. Zweiter Punkt: Video ist sofort nach der Aufnahme abspielbar.

Elsbeth: Man kann deshalb aufbauen auf dem, was die Kinder unmittelbar vorher gemacht haben.

Heinz: Mit 8-mm-Film hätten wir nie so flexibel arbeiten können. Wir haben eine richtige «Fernsehexplosion» erlebt. Ich habe nur gestaunt, was die Kinder so alles gemacht haben.

Wie weiter? Das Experiment zeigte uns eindeutig, dass bei den Teilnehmern/innen ein grosses Bedürfnis vorhanden ist, diese Arbeit fortzusetzen. Die Arbeitsgemeinschaft «Jungi mached Fernseh» plant eine Weiterführung des Projektes. Wir möchten während einem Jahr ein bis zwei Mal wöchentlich ein Videoworkshop für Kinder und Jugendliche durchführen. Nur auf diese Weise kann die Videoarbeit weiterentwickelt und vertieft werden.

Spenden können auf folgendes Konto einbezahlt werden: Zürcher Kantonalbank Aussersihl, No. 566.409. Vermerk: «Arbeitsgemeinschaft Jungi mached Fernseh».

Elsbeth Kuchen
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
Heinz Nigg
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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