MARTIN SCHAUB

VON GELD UND GEIST — EINIGE UNORDENTLICHE GEDANKEN ZUR EIGENDYNAMIK DER SCHWEIZER FILMPRODUKTION

CH-FENSTER

Von einer Stehe aus, so scheint mir, lässt sich die Struktur des gegenwärtigen schweizerischen Filmschaffens einiger-massen genau überblicken: Vom Stapel aller in einem Jahr bei der Sektion Film im Bundesamt für Kultur eingereichten Drehbücher und Produktionsdossiers. Fast alles, was an unabhängigem Film in der Schweiz entstehen soll, wird zuerst einmal auch in «Bern» vorgelegt. Was einen Herstellungsbeitrag in Aussicht gesteht bekommt, wird in der Regel realisiert. Was in Bern keine Gnade findet, kommt nicht oder unter wesentlich anderen Bedingungen zustande, meistens unter den ärmlichsten.

Bis diese ungeheuerliche Teilung in Schweizer Film und Off-Schweizer Film vollzogen ist, werden Berge von Papier produziert. Viele Abgewiesene machen einen zweiten Anlauf, ersuchen um Wiedererwägung oder präsentieren neue, bessere Eingaben. Ein Experte des Begutachtungsausschusses liest pro Jahr etwa 7000 Seiten Drehbücher und Produktionsunterlagen, um dem Departementsvorsteher seine Empfehlungen abgeben zu können. Er liest sie auch tatsächlich, weil er weiss, dass die Empfehlung bzw. Ablehnung darüber entscheidet, ob ein Film unter zumutbaren Bedingungen entsteht, oder im Offside oder allenfalls gar nicht. Der Schreibende hat sich dieser Arbeit während siebeneinhalb Jahren unterzogen und beklagt sich keineswegs über den beträchtlichen Arbeitsaufwand. Vom seelischen Druck kann man objektiv nicht reden. Nur soviel: den bin ich müde geworden.

Kommen wir wieder zu den Sachen. Infolge personeller Schwierigkeiten in der Sektion Film, vor allem aber infolge der frühzeitig im Jahr 1979 leeren Bundesfilmförderungskasse, fanden im Sommer des vergangenen Jahres keine Begutachtungssitzungen statt. Über die Produktion des Jahres 1980 entschieden vier Begutachtungssitzungen: im November 1979, im Februar, April und Juni des laufenden Jahres; möglicherweise werden im Herbst noch einige wenige Projekte für dieses Jahr in Bern eingehen. Im Wesentlichen ist die Sache Mitte des Jahres gelaufen.

Hier die nackten Zahlen: Insgesamt sind in Bern 55 Gesuche um Herstellungsbeiträge eingegangen. (Zweimalige Präsentationen werden nur einmal gezählt.) Die Summe der erwarteten Bundesbeiträge belief sich auf rund 6 Millionen Franken. Das Produktionsvolumen der geplanten 55 Filme überstieg 25 Millionen Franken. Der Begutachtungsausschuss beantragte Produktionsbeihilfen in der Höhe von rund 2 Millionen Franken, und zwar an sieben Spielfilme, sechs grössere Dokumentarfilme, acht kurze Dokumentar-, Spiel-, Trick- und experimentelle Filme. Er überzog das Budget für Herstellungsbeiträge um rund 500000 Franken, die - falls alle Vorhaben Zustandekommen - bereits das Budget von 1981 belasten werden. Die «Erfolgsquote» der Gesuchsteller liegt bei rund 33 Prozent. Eigenartigerweise - und entgegen oft vorgebrachter Vorwürfe - gilt diese «Erfolgs- bzw. Misserfolgsquote» in allen Branchen des Schweizer Films einigermassen gleich: auf 21 Spielfilmprojekte kommen sieben Herstellungsbeiträge, zehn grössere Dokumentarfilmprojekte können gar mit sechs Bundesbeiträgen rechnen, 24 «andere Filme» bringen es auf acht Bundeszuschüsse. Was anzahlmässig «stimmt», tut es allerdings anteilmässig nicht mehr: 1,5 Millionen Franken gehen in den Kino-Spielfilm; nur 0,4 Millionen fliessen in die Produktion von grossen Dokumentarfilmen, und die acht Beiträge an «andere Filme» machen insgesamt lediglich etwas über 0,2 Millionen aus. (Über die Fragwürdigkeit der hier genannten Kategorien bin ich mir im Klaren; aber irgendwie müssen Grenzen gezogen werden.)

Teure Spielfilme, bescheidene Dokumentaristen und «Debütanten»

Nur drei der 21 beim Bund eingereichten Spielfilmprojekte bewegen sich in der Grössenordnung der ersten (Genfer) Spielfilme. Der Rest lässt die Budgets von Charles mort ou vif?, La Salamandre, La lune avec les dents, Haschich und La pomme weit hinter sich, übertrifft sie zum Teil um ein Mehrfaches. Die Professionalisierung und Standardisierung des Films in der Schweiz scheint überall da unumgänglich, wo ein Film im Kino ausgewertet werden soll.

Acht weitere Projekte bewegen sich in der Kostenspanne von 530000 (Beat Kuerts Nestbruch) bis 750000 Franken (Francis Reussers Seuls). Sie sind nach professionellen Ansätzen berechnet, aber konsequent klein dimensioniert: Filme, die in den kleinen Studiokinos der Städte laufen werden und nur vereinzelt «aufs Land» dringen werden. (Falls sie überhaupt zustande kommen, aber das will ich nun nicht mehr immer beifügen.)

Der Rest der dem Bund zur Förderung eingereichten Projekte, schliesslich insgesamt zehn, sollen zwischen 975000 und 2745000 Franken kosten. Mit Ausnahme eines einzigen Falles handelt es sich bei diesen Projekten um Ko-Produktionen (minoritär, egalitär und majoritär schweizerische; alle Spielformen kommen inzwischen vor).

Der Bund hat sieben Spielfilmproduktionen seine Unterstützung gewährt oder in Aussicht gestellt: einem Projekt der «Billigklasse», drei Projekten der «16/35-mm-Klasse» und dreien der «Superklasse». Im Prinzip darf ein Herstellungsbeitrag bis zu 50 Prozent der Herstellungskosten (bzw. des schweizerischen Anteils der Herstellungskosten bei Ko-Produktionen) gehen; davon allerdings sind die gewährten Subventionen mehr oder weniger weit entfernt. Soweit ich sehe, beträgt die Bundesbeteiligung nur in einem Falle - Francis Reussers Seuls - mehr als ein Drittel.

Das teuerste beim Bund eingereichte Projekt für einen Dokumentarfilm von über einer Stunde Dauer war auf etwas mehr als 300000 Franken veranschlagt. Die Dokumentaristen arbeiten noch immer auf der oben erwähnten Kostenebene der ersten Genfer Spielfilme. Die Stichworte «kleine Equipe», «16 mm», «bescheidene Gagen», «Kollektivarbeit» usf. gelten beim Dokumentarfilm (auch jenem von ausgewiesenen Autoren) noch. Man bekommt hier noch viel Film für wenig Geld. Dementsprechend gehen die Subventionsanteile an die Gesamtkosten zum Teil relativ hoch.

Ebenso bescheiden wie die Dokumentaristen haben jene zu sein, die «Bern» erstmals um einen Herstellungsbeitrag bitten. In den wenigsten Fällen ersuchen die Projektverfasser den Bund um Beiträge in der Höhe des halben Budgets. Sie sind bereit, einiges mehr als die öffentliche Hand, manchmal ein Vielfaches zu investieren. Und man kann sich an den Fingern einer Hand ausrechnen, dass in diesem Bereich noch immer eine ganze Menge Gratisarbeit angeboten wird. Die Dokumentaristen, die jungen Filmautoren, die Experimental- und Trickfilmer arbeiten noch immer wie die Pioniere des Neuen Schweizer Films.

Aber ihnen geht es schlechter, weil die Spielfilmautoren ins Kraut geschossen sind, die etwa 70 Prozent des wenigen zur Verfügung stehenden Geldes an sich reissen.

Eine Produktionspolitik des Bundes?

Da wohl in den nächsten Jahren nicht mit einer Verdoppelung oder Verdreifachung des Filmförderungskredits des Bundes zu rechnen ist und die Mühlen der «Aktion Schweizer Film» langsam mahlen, werden die Sektion Film im Bundesamt für Kultur und ihre Experten vielleicht doch einmal gezwungen sein, eine Produktionspolitik - neben, vielleicht sogar manchmal gegen die bisherige Qualitätspolitik - zu entwickeln. Ich erkläre das: Prinzipiell werden sämtliche Projekte in Bezug auf alle beurteilbaren Qualitäten geprüft. Die Budgets werden, soweit das überhaupt «vom Schiff aus» möglichst, auf ihren Realitätsgehalt befragt. Die Empfehlungen werden (fast) ohne Rücksicht auf Genres, Vernünftigkeit des Produktionsvolumens, Art und Weise der Restfinanzierung ausgearbeitet. Wer dem Begutachtungsausschuss eine definierte Produktionspolitik - zum Beispiel «Bevorteilung der ernsten Problemspielfilme» oder «Überbetonung des gesellschaftskritischen Dokumentarfilms» oder diese oder jene «Schwerpunktsetzung» - vorwarf, hat ihm bestimmt vorgegriffen. Wie die Jury für Filmprämien versuchte der Begutachtungsausschuss, «rein» zu bleiben, qualitätsbezogen, offen für alles.

So hat er die Filmförderung Jahr für Jahr in Engpässe manövriert. Für ihn war ein Film ein Film (ein Projekt ein Projekt), und wenn er gerecht (was immer das heissen mag in einem Gebiet, wo auch das freie Ermessen seine Rolle spielt) sein wollte, konnte er keine Projekte abweisen, die ebenso ausgereift waren wie andere. Bei der Menge an eingereichten Projekten war es unmöglich, sich auf einige ganz wenige zu beschränken. Die Kriterien für eine noch schärfere Selektion fehlen oder wären ganz und gar subjektiv. Jede Verfügung des Departementsvorstehers wäre anfechtbar.

Eine Produktionspolitik hingegen liesse sich objektiv darstellen und auch durchführen. Sie müsste sich abstützen auf eine Langzeitbeobachtung der schweizerischen Filmproduktion und auf ein Konzept der Intervention in ihre Entwicklung. Gesetzlich liesse sie sich herleiten von der Bestimmung, dass Bundesbeiträge an die Herstellung von Filmen nach Qualitätskriterien und nach dem Kriterium der Notwendigkeit möglich sind. Den Terminus «notwendig» könnte man schliesslich auch relativ extensiv auslegen.

Verschiedene Konzepte wären vorstellbar. Eines davon würde beispielsweise konsequent auf jede «Fernsehförderung» verzichten, d. h. Projekte, die ganz deutlich auf die Bedürfnisse und die Distribution des Fernsehens abgestimmt sind, von der Filmförderung ausschliessen. (Einige vom Bund in den letzten Jahren unterstützte Dokumentarfilme waren im wesentlichen Fernsehfilme. Würde sie der Bund nicht mehr unterstützen, müsste sie das Fernsehen als Fremdproduktionen - wie einige Spielfilme - selber finanzieren, was ja schliesslich gar nicht eine so abwegige Vorstellung ist. Allenfalls könnte der Bund den Produzenten beim Erwerb der nichtkommerziellen Rechte beistehen, aber inzwischen haben die Realisatoren mit dem Fernsehen in dieser Beziehung schon selber recht vorteilhafte Abmachungen ausgehandelt: das Fernsehen bezahlt grosso modo die Aufführungsrechte, nicht aber das Autorenrecht.)

Eine weitere Weichenstellung könnte darin bestehen, dass der Bund sich nicht mehr an grossen, mit allen kommerziellen Überlegungen und Vorkehrungen operierenden Produktionen beteiligt, auch wenn die Projekte den Experten des Begutachtungsausschusses noch so gefallen.

Dazu eine Präzisierung. Schauen wir uns ein paar in Aussicht genommene Hauptdarsteller in den grossen Filmprojekten dieses Jahres an: Kurt Gloor arbeitet (in Der Erfinder) mit Bruno Ganz. Pierre Mateuzzi dachte (für L’ogre de Barbarie) an Anna Prucnal, Corinne Marchand und Michel Galabru. Michel Soutter und seine Produzentin setzen auf Anouk Aimée und Marthe Keller. Christine Pascal und das Film et Video Collectif fassten gar Isabelle Adjani ins Auge. Alain Tanner würde (in Les années lumières) gerne mit Burt Lancaster oder Sterling Hayden arbeiten. Das alles sind nicht nur, aber vor allem auch kommerzielle Überlegungen.

Eine Filmförderung, die ihre bescheidenen Möglichkeiten erkennt, könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass solche grossen Produktionen (Ko-Produktionen) auf den eigenen Beinen gehen müssten, und dass es inzwischen - bei der gewachsenen Reputation der Autoren - auch möglich sein sollte. Sie könnte sich konsequent auf die Unterstützung jener (kleineren) Filme konzentrieren, die bestimmt ohne Bundeshilfe nicht zustande kämen. Und das heisst - bezogen auf die oben gemachte Kategorisierung der Spielfilmprojekte -auf die «Billigklasse» und die «16/35-mm-Klasse».

Mit einer solchen - vorübergehenden - Produktionspolitik könnte eine weitere Kostenexplosion der Spielfilme allenfalls gesteuert und könnten im besten Falle wieder «innere Explosionen» gefördert werden.

Ich weiss, wie unpopulär und für gewisse Filmemacher geradezu skandalös nur schon solche Überlegungen sind. Aber manchmal scheinen sie mir eben nötig. Zum Beispiel jetzt, da man sieht, dass die Gesamtentwicklung leider an eine obere Grenze gestossen ist. Ich fasse zusammen.

Bei der mageren Filmförderung, dem übervorsichtigen Engagement des Fernsehens (vor allem im Dokumentarfilmsektor), der bescheidenen Risikofreundlichkeit der Schweizer Filmkaufleute, bei den hohen Lebens- und Laborkosten (und den entsprechenden Löhnen) scheinen mir einige Filme und Pläne für neue Filme zu ansehnlich, fast hochstaplerisch. So wie die Dinge stehen, ist die Schweiz ein Filmland der «Low-budget-Filme». Zu rasch haben sich die begabtesten Schweizer Filmautoren in immer grössere Projekte gestürzt. Und einige recht grosse Filme haben sich bereits schlechter kommerzialisieren lassen als die Filme der bescheidenen Anfänge. Der Professionalismus hat nämlich seine Grenzen; er bezieht sich auf die technische Fertigung, und nur selten auf die kommerzielle Planung und Absicherung der Filme. Film-wirtschaftlich sind viele Filme der letzten Jahre ziemlich schlecht durchdacht. Zum Teil waren bestimmte Produzenten fahrlässig, weil sie immer mit einem beträchtlichen Teil «nichtkommerziellen Geldes» haben rechnen können.

Zwei Zürcher Filmemacher haben demonstriert (und demonstrieren auch dieses Jahr), dass sich grössere Projekte durchaus kommerziell auf die Beine stellen lassen. Rolf Lyssys Die Schweizermacher ist ohne Bundeshilfe entstanden. Und Markus Imhoof hat seinen neuen Spielfilm zum alten Thema Das Boot ist voll schliesslich auch ohne Bundeshilfe (um die er zwar nachgesucht hatte) finanzieren können. Rolf Lyssys neue Komödie, Kassettenliebe, die im Herbst angefangen werden soll, kommt ohne Geld des Bundes aus. In die Ehrengalerie von Autoren, die Filme machen wollen, die weder von Gremien begutachtet noch von Stiftungen und Kulturfonds mit Trinkgeldern und Treueprämien ausgestattet werden, gehören schliesslich auch Claude Goretta, Niklaus Schilling, Jean-Luc Godard und Niklaus Gessner. Gut, sie machen keine «Schweizer Filme», sie «gehören nicht mehr uns», aber ein bisschen skeptisch gegenüber dem Gejammer und den Drohungen mit Emigration darf man wohl sein. Warum soll ein Schweizer Filmautor nicht auch einmal einen internationalen Film machen? Zum Beispiel Alain Tanner: sein neues Projekt hat eigentlich keine «engere Heimat»; es könnte in Kanada so gut wie in Spanien oder in Irland realisiert werden (ich phantasiere nicht; daran haben in dieser Reihenfolge Produzent und Autor gedacht). Tanner hat jedenfalls mehr Chancen, sein Projekt zu verwirklichen ohne Filmförderung als einer, der noch nicht so reputiert ist wie er. Manchmal hat man (auch im Begutachtungsaus-schuss) von der Stützung der Position des Autors durch Herstellungsbeiträge gesprochen; aber Alain Tanner scheint mir doch stark genug zu sein.

Es geht nicht nur um die Autoren, ich weiss. Der Schweizer Film hat sich eine Infrastruktur geschaffen: Maschinen, die benützt, und vor allem Techniker, die beschäftigt sein müssen. Es gibt schon etwas wie einen Produktionsdruck. Ich glaube, es gibt da im Moment nur eine (Übergangs-)Lösung: einfrieren. Dieses Land ist (im Moment) nicht bereit, seine eigene Filmproduktion weiter zu entwickeln. Man weiss es.

Die Not muss wieder erfinderisch machen. Das ist die -skandalöse, ernüchternde, realistische (wie auch immer) -Folgerung und Forderung der gegenwärtigen Verhältnisse.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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