TOBIAS WYSS

TV-STRUKTUREN

ESSAY

Es fällt gar nicht mehr auf, dass ein Gitterzaun die TV-Fabrik abschliesst. Unaufgefordert zeigt jeder dem Computer seinen Ausweis, damit er zur Arbeit auch tatsächlich zugelassen wird. Dass die Gebäude des Fernsehens - in Zürich - so abseits und isoliert liegen, hat man schon lange vergessen.

Es fällt auf, wie sich die Strukturen verfestigt haben - die des Programms und des Betriebs. Dank dem neuen, im Januar eingeführten Strukturplan 80 des Fernsehens DRS ist es endlich allen möglich, zu wissen, dass zum Beispiel ein Dokumentarfilm nicht länger als eine Stunde dauern kann (mehr darf dem Zuschauer doch nicht zugemutet werden). Studiosendungen, vor allem wenn sie durch Diskussionen ergänzt werden, können diese Länge überschreiten. Und natürlich die Unterhaltungssendungen, schliesslich sind Studios und Stars sehr teuer. Womit auch schon die Produktionsbedingungen auftauchen und ich zu erkennen geben muss, dass ich seit zehn Jahren für das Fernsehen DRS arbeite.

Wenn ich darüberschreiben soll, wie es um die Arbeit eines Fernsehmitarbeiters steht, muss ich gestehen, dass es mir Mühe bereitet, von der eigenen Anpassung zu reden. Das beginnt damit, dass ich es während Jahren akzeptiert habe, eine bestimmte Sendung über ein bestimmtes Thema mit bestimmten Mitteln und auf eine bestimmte Länge hin herzustellen. Ein «freier» Filmemacher wird sich vielleicht an den Kopf greifen, wenn er von einer solchen Fabrik-Mentalität hört. Doch für mich stellte sich die Frage, warum ich das mache, gar nie richtig - natürlich auch, weil ich ein Honorar bezog und damit meine Ideen und meine Arbeitskraft verkaufte. Mit dem Geld kam ich sonst nur am Rande in Kontakt, es wurde «verwaltet und disponiert». Konflikte ergaben sich nur selten, weil ich die Produktionsbedingungen als gegeben erachtete. Ich gab alles aus der Hand: die Idee, den Anspruch auf eine Sendelänge, die dem jeweiligen Thema entsprach, und schliesslich auch das Produkt selber. So wurde ich zum «Realisator».

Es ist viel einfacher und auch ungefährlicher, festzuhalten, was sich gerade ereignet, Meinungen und Ereignisse schlicht zu rapportieren. Viel schwieriger und unberechenbarer ist es aber, wenn eine Sendung als Prozess konzipiert wird, an dem sowohl der, der sie macht, als auch der, der sie dann anschaut sich beteiligen können. Von dieser Art Sendungen her gedacht, käme wohl niemand auf die Idee, das Programm in Kästchen - Sendegefässe - zu drängen und Tag für Tag eine vorgeschriebene Sendezeit zu füllen.

Aber denen, die im Betrieb die wichtigen Positionen einnehmen, muss diese Arbeitsweise weltfremd erscheinen. Für sie ist das Fernsehen ein Grossbetrieb, dessen Produktion nur unter strenger Führung funktionieren könne: der Sachzwang als Dogma.

Wenn sich ein Mitarbeiter diesem Zwang entziehen will, fühlt er sich rasch isoliert. Und auch dann, wenn er meint, sein Ziel erreicht zu haben, bleibt das Resultat - von einigen «Glücksfällen», an die er sich dann noch lange hält, abgesehen - eine Mischung von Wunschprojektion, einigen guten Momenten und dem Eindruck, die Produktionsbedingungen nun doch fast optimal ausgenutzt zu haben.

Die Produktionsbedingungen: Bevor ein Realisator weiss, wie er an ein Thema herangehen will, liegt bereits ein Schema vor, an das er sich bei der Produktion zu halten hat. Auf einen Dokumentarfilm von 45 Minuten zum Beispiel entfallen zwei Tage technische Rekognoszierung mit der Equipe, 15 Dreh- und 15 Schnitt-Tage. Kameramann und Tonoperateur finden nur in Ausnahmefällen die nötige Zeit, um sich auch inhaltlich auf die bevorstehende Arbeit vorzubereiten, meistens muss ein Drehtag eingesetzt werden, um sich gemeinsam auf ein Thema einstellen zu können. Oder es wird der einfachere und auch üblichere Weg gewählt, indem man einfach einmal zu drehen beginnt und «spontan» schaut, wie sich das Ganze entwickelt. Die Drehzeit in mehrere Etappen zu unterteilen oder noch zusätzliche Dreh- oder Schnitt-Tage zu bekommen, ist zwar nach etlichen Schwierigkeiten zu erreichen, jedoch immer mit dem Risiko, dass man dann mit einer anderen Equipe arbeiten muss. Seit einiger Zeit sind wieder vermehrt Equipen den Abteilungen zugeteilt worden, was eine grössere Beweglichkeit in der Disposition erlaubt.

Wenn es sich nicht um eine Koproduktion handelt oder nicht «ausserordentliche ästhetische» Gründe dafür vorliegen, wird auf Umkehr-Material gedreht. Ab einer Länge von 40 Minuten (Norm vor allem bei Jugendsendungen) wird ausgemustert, eine Schwarz-Weiss-Arbeitskopie gezogen und schliesslich das Original montiert, das dann direkt auf MAZ überspielt wird. Das Argument der Qualität zählt nicht für reine Fernseh-Produktionen, weshalb auch nicht mit Negativ-Material gearbeitet wird.

Die Flexibilität innerhalb der Planung von längeren Beiträgen ist beim Fernsehen keineswegs grösser als auf dem «freien Markt». Meistens werden Themen schon ein Jahr im Voraus festgelegt, weil ja die Sendegefässe gefüllt werden müssen. Dass dadurch Prozesse kaum mehr berücksichtigt werden können, zeigt sich bei den meisten grösseren Einzelsendungen. Eine Ausnahme bildet das CH-Magazin, das oft seine gesamte Sendezeit für längere Beiträge einsetzt, und das mit wesentlich kürzeren Planungsfristen, als sie etwa bei den spontan-oberflächlichen Kurzbeiträgen üblich sind.

Konsequenzen? Damit entscheidende Änderungen möglich werden, ist meiner Ansicht nach ein verstärkter Kontakt zwischen dem Fernsehen und dem freien Filmschaffen anzustreben. Durch diesen Kontakt könnten Möglichkeiten geschaffen werden, um sich gegen die festgefahrenen Strukturen innerhalb des Fernsehens zur Wehr zu setzen. Eine Abkapselung hingegen der «Freien» von all dem, was irgendwie mit dem TV-Studio zu tun hat, wäre für die Mitarbeiter des Fernsehens und damit für die gesamte Entwicklung der Programm-Politik des Fernsehens schlecht.

Ich habe mich daran gewöhnt, den Grossbetrieb Fernsehen mit wachsender Distanz zu betrachten. Dabei bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass mehr freie Mitarbeiter die Möglichkeiten zur Veränderung der heutigen Strukturen vergrössern könnten.

Tobias Wyss
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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