JÖRG HUBER

FERNSEHEN ALS WANDTAFEL — MAX P. AMMANNS «DRAMATURGIE DES PUBLIKUMS»

ESSAY

Seit 1974 ist Max Peter Ammann Leiter der neugeschaffenen Abteilung Dramatik des Fernsehens DRS. Ein wichtiger Teil der Arbeit der ersten Aufbaujahre bildet eine Reihe von grösseren Spielfilmproduktionen - Beispiele, an denen sich exemplarisch die Frag-Würdigkeit der von Ammann entwickelten Fernseh-Film-Dramaturgie diskutieren lässt.

Ammann ist ursprünglich Theatermann, und seine entscheidenden Erfahrungen hat er nach eigenen Worten im Aufbruch der späten 60er Jahre gemacht: Damals versuchte er -etwa in der Zusammenarbeit mit Stein/Löffler am Zürcher Schauspielhaus - in verschiedenen Formexperimenten theatralische Vorgänge ans Publikum heranzutragen. Die meisten Versuche gerieten jedoch, wie Ammann heute gesteht, zu elitär und wurden vom Zuschauer weder begriffen, noch angenommen. Ein für Ammann glücklicher Zufall gab ihm 1974 die Gelegenheit, dem Dilemma auf der Bühne zu entfliehen und am Massenmedium Fernsehen dieselben Ideen unter andern Voraussetzungen nochmals anzugehen. Erste Ansätze, neue Vermittlungsformen zu finden und sich nicht damit zu begnügen, Theateraufführungen einfach «abzufilmen», wurden in der Telearena realisiert. Die damit entwickelte «journalistische Dramaturgie» (Ammann) war jedoch in ihrer Entwicklungsmöglichkeit schnell erschöpft, und heute wird versucht, im Rahmen der Telebühne sich wieder vermehrt auf die theatralische Gestaltung umfassender Themen zu konzentrieren.

Die gleichen Fragen, die die Theaterarbeit am Fernsehen bestimmen, waren und sind auch für die Filmarbeit von zentraler Bedeutung. «Dramaturgie des Publikums» (ein Begriff von Volker Klotz) heisst der leitende Begriff, der für Ammanns Absicht steht, einem grossen Publikum, das nicht genauer erfasst werden kann, Probleme der Schweizer Gegenwart über Texte von Schweizer Autoren zu vermitteln. Das heisst, dass komplexe Probleme und Sachverhalte in überschaubarer Form und leicht verständlicher Weise dargestellt werden müssen, um beim Zuschauer überhaupt erst ein Interesse zu wecken und dieses dann auch zu erhalten. Das bedeutet auch, dass «psychologisierende Kleinformen und intellektuelle Detailauseinandersetzungen den Kulturinstitutionen überlassen werden müssen, die sich spezialisieren und in einem speziellen Rahmen auf ein spezielles Publikum ausrichten können.» (Ammann)

Die Dramaturgie des Fernsehens, eines Massenmediums, das ein Massenpublikum bedient, muss deshalb, laut Ammann, in der Gestaltung eines Stoffs auf eine Fabel aufbauen, durch die, stimmig und lückenlos, die Handlung entwickelt wird. Nebengeleise sollen vermieden werden. Die Handlung soll sich auf das Geschehen zwischen einigen wenigen, genau umrissenen Figuren beschränken, und die Geschichte soll insofern konkret sein, als sie in Bezug auf Milieu, Stimmung und Atmosphäre genau ausgeführt ist.

Nach Ammanns Meinung muss sich das Filmschaffen des Fernsehens deutlich gegenüber dem Kinofilm abgrenzen: Gegen das amphibische Produkt Fernsehfilm soll das Fernsehspiel gesetzt werden. Diese Differenzierung erfolgt aus der bewussten Reflexion der spezifischen Produktionsbedingungen des Fernsehens und verlangt eine entsprechend Fernseh-spezifische Filmdramaturgie.

Entscheidendes für den einzelnen Film passiert also nicht erst in der Produktion, während der Dreharbeiten, sondern auf dem Weg vom Exposé über das Treatment, das Drehbuch, bis zum konkreten Einstieg des Fernsehens in die Produktion. Wobei auf dieser Stufe die Programmwirtschaft des Fernsehens ein gewichtiges Wort mitzureden hat.

Taktischer Start mit Literatur-Filmen

Als Ammann die Arbeit am Fernsehen aufnahm, war das Projekt der Verfilmung epischer Schweizer Literatur beschlossene Sache. Zur Ausführung ausgewählt waren: Der Stumme nach einem Roman von Otto F .Walter (Regie: Gaudenz Meili), Die Magd nach der Novelle «Durch Schmerzen empor» von Jakob Bosshart (Regie: Louis Jent) und Riedland nach dem Roman von Kurt Guggenheim (Regie: Wilfried Bolliger). Ammann war hier erst in der Ausführungsphase dabei. Unter seiner Leitung wurden dann folgende Filmprojekte realisiert: Das Unglück nach Max Frisch (Regie: Georg Radanowicz), Der Landvogt von Greifensee nach Gottfried Keller (Regie: Wilfried Bolliger), Ursula nach Gottfried Keller (Regie: Egon Günther, DDR), Der Chinese nach Friedrich Glauser (Regie: Kurt Gloor), Der Galgensteiger nach historischen Dokumenten zusammengestellt von Andre Kaminski (Regie: Xavier Koller) (alle 1978), Das gefrorene Herz (1979) nach Meinrad Inglin (Regie: Xavier Koller), alles grössere Filme von eineinhalb bis zwei Stunden Länge, koproduziert mit ausländischen Fernsehanstalten. Kleinere Filme sind etwa Der Handkuss (1979) nach Friedrich Glauser (Regie: Alexander J. Seiler) oder die siebenteilige Serie von 45-Minuten-Filmen Die sieben Todsünden (produziert von der Nemo-Film Zürich).

Laut Ammann sind die grossen Filme in jeder Beziehung Produkte einer Experimentierphase und in der thematischen Auswahl und der Form teils durch taktische Gründe beeinflusst: Mit der literarischen Vorlage etwa versuchte man einerseits bei ausländischen Fernsehanstalten Kredit zu gewinnen für eine längerfristige, kontinuierliche Zusammenarbeit in Form von Ko-Produktionen, und hoffte anderseits, beim Schweizer Publikum auf ein bestimmtes Vorverständnis aufbauen zu können. Die ausgewählten literarischen Werke lieferten mehr oder weniger exakt in den Grundzügen die stilistischen Merkmale, die die «Dramaturgie des Publikums» verlangte. Diese ersten Filmprojekte sollten überdies auch den Verantwortlichen der Abteilung Dramatik wie den Regisseuren Gelegenheit geben, ihre Zusammenarbeit zu erproben und gegenseitig Erfahrungen auszutauschen, um gemeinsam einen Weg zu finden zum «massenpublikumswirksamen Fernsehspiel».

Auf die Frage, ob weiterhin Literatur-Filme produziert werden, meint Ammann entschieden, dass dies Kapitel nun abgeschlossen sei. Es gelte jetzt nicht mehr auf die Klassiker der Literatur zurückzugreifen, sondern sich der filmischen Bearbeitung unserer Gegenwart zuzuwenden. «In vier bis fünf Jahren sind wir so weit.»

Die «Dramaturgie des Publikums» wird jedoch weiterhin bestimmend sein und zwar, wie bis anhin, leitbildhaft für die gesamte Tätigkeit der Abteilung: Sie begründet nicht nur die grossen Spielfilmproduktionen, auf die ich mich in diesem Aufsatz beschränke, sondern auch die kleineren, hausinternen Projekte, wie z. B. Em Lehme si Letscht oder Isewixer, wie auch die Ankaufspolitik von Fremdproduktionen.

Einige Beobachtungen, einige Merkmale

Erste Zeichen für eine Öffnung zum Film wurden vom Fernsehen 1973 durch die erwähnte Ausschreibung zur Verfilmung epischer Schweizer Literatur gesetzt. Den drei ausgewählten Arbeiten gemeinsam ist eine dramaturgische Konzeption, durch die versucht wird, einen literarischen Stoff mediengerecht für ein breites Publikum aufzuarbeiten. In Bezug auf die einzelnen Vorlagen muss man feststellen, dass nicht primär ein Aktualitätsbezug gesucht wurde, sondern eher Aspekte allgemeinmenschlicher Probleme im Vordergrund stehen. Wilfried Bolliger etwa umschreibt den Hauptakzent von Riedland wie folgt: «Letztlich geht es um die Selbstfindung dieser beiden Gestalten» (Rochat und Marie), und um die Selbstfindung von einzelnen Figuren geht es denn auch in den anderen Filmen. Es sind «kleinbürgerliche Trauerspiele» (Bolliger), die in kleinbürgerlichen, bäuerlichen und Arbeiter-Milieu spielen, einem Milieu, das jeweils mit letzter naturalistischer Akribie bis in jedes Detail ausgeleuchtet wird, und das als begründendes und begrenzendes Gefäss für die zentrale Fabel, eine psychologisch kolorierte Beziehungsgeschichte, dient. In einer einfachen, linearen Erzählstruktur wird die Fabel entwickelt: Die zwischenmenschliche Hauptbeziehung enthält alle tragenden Motive, und einige wenige umstehende Figuren helfen, ein etwas farbigeres Beziehungsnetz zu spinnen, das die Hauptbeziehung abdichtet. In der durch wenige Figuren getragenen Handlung spiegelt sich eine umfassende Menschheitsdramatik: ein Schicksalswalten und -schalten, Mord und Totschlag, Eifersucht, Brandschatzung, Reue auch und Treue und abgrundtiefe Einsichten...

In diesen milieubestimmten Kammerspielen wird Schritt für Schritt eine Geschichte abgerollt: Aufbau der Handlung und der Figuren, Bilderfolgen, Dialog und Musik - alles ist festlegend und benennend eingesetzt.

So werden nirgends irgendwelche Nebenhandlungen aufgenommen, und zusätzliche Handlungs- und Zeitebenen werden vermieden. Ebenso werden keine Unterbrechungen eingebaut, keine Öffnungen und Verunsicherungen gewagt, keine Fragen gestellt. Man beschränkt sich auf eine dramaturgisch in jeder Hinsicht eindimensionale Komposition, deren lineare Struktur auch nicht durchbrochen wird, wenn - wie in Der Stumme - die Gegenwarts-Handlung ergänzt und aufgebaut wird durch Rückblenden in die Vergangenheit.

Die einfachen, trivialen Erzählmuster folgen streng den Regeln aristotelischer Dramaturgie: Unmittelbar und gleich zu Beginn wird der Zuschauer in den Kreis der Handelnden miteinbezogen, und ohne Distanzierungsmöglichkeiten bleibt er dann drin, geht mit, leidet das Drama durch, bis zur läuternden Katharsis.

Die Filme öffnen in keiner Weise Räume, sie bewegen nichts. Der Rhythmus ist genauestens bestimmt durch die Erzählstruktur der einfachen Fabel, und alles dient der Verdeutlichung, Hinweisung, Abgrenzung, Benennung, der vorwegnehmenden Beantwortung. Im Dialog sagen die Figuren genau, was sie wissen, meinen und denken und meist parallel auch tun. Ihr teils fast übertriebenes Spiel stellt immer etwas dar. Natur, Wohn- und Arbeitswelt werden ausschnitthaft eingefangen und immer gleich mit einer Bedeutung versehen - als typische Momente mit Signalwirkung. Das Bild mit dem Schwan auf dem See im Regen (Riedland) wird kurz als Erzählmoment eingeblendet und bedeutet «reine Natur». Ein Gegenstand, ein Geräusch, ein konkretes Moment - in der assoziativen Funktion eine Krücke fürs Publikum - leitet immer in dem Moment in die Vergangenheit des Wahrnehmenden über, in dem es der lineare Aufbau der Handlung verlangt (Der Stumme). Und in Die Magd ist alles grundsätzlich so durchsichtig konstruiert und bedeutungsschwanger, dass die Schauspieler trotz übertriebenen Gesten und dramatischen oder verhalten verinnerlichtern Ausdruck auf reine Funktionen reduziert werden.

Zum syntaktischen Grundmaterial dieser sinnfälligen Volksdramaturgie gehören auch die typisierten Charaktere, holzschnittartige Figuren, die in theaterhafter Manier Leben vorstellen und eine Geschichte möglichst echt, lebendig und volksnah spielen, mit derben Sprüchen («volkstümlicher Dialog»), mit expressiver, teils überinterpretierender Darstellung alltäglicher Verrichtungen (wer trinkt, der sauft, der schüttet den Becher runter: das ist lebendig, da ist was los...). Die Psychologie in und zwischen den einzelnen Personen wird denn auch nicht aus diesen selbst filmisch entwickelt, sondern von den Schauspielern und der Kamera den Zuschauern als Sachverhalt mitgeteilt und vorgestellt - aber nicht etwa im Brechtschen Sinn, als distanzierende Verfremdung, sondern als schulmeisterlicher Fingerzeig.

Die «Dramaturgie des Publikums» und die entsprechende verdinglichende, konkretistisch plakative Bild- und Filmgrammatik entstehen aus dem Bemühen, die weit gefassten, unverbindlichen, metaphysischen Themen zu konkretisieren und aktualisieren und sie in einer Fabel, als Leitfaden verpackt, einem breiten Publikum zur Unterhaltung, moralischen Erbauung und Belehrung anzubieten. Die kleinkarrierte, enge, demonstrativ wahrnehmende, lückenlos linear aufreihende Dramaturgie dient dem Bemühen der Macher, sich permanent sowohl des Stoffs, wie auch des Zuschauers zu vergewissern.

Fernseh-Wirklichkeit - helvetischer Alltag

Die Merkmale der «Dramaturgie des Publikums» bleiben bestimmend bis zum jüngsten Filmbeispiel, Seilers Der Handkuss. Hier «löst sich Schwester Klara aus einer lebenslangen Selbstentfremdung und erblüht zu sich selben) (Seiler) -ein zeitloses Märchen, dessen literarische Vorlage Seiler in ihrer klassischen Form als Novelle, in ihrer Geschlossenheit, Gradlinigkeit und Widerstandslosigkeit faszinierte. Auch in diesem Film wird in Bild und Wort genaustens erzählt, was geschieht, oft in recht aufdringlicher Verdoppelung. Die Kamera fährt den Figuren nach, führt sie irgendwohin und holt sie dort wieder ab. Verschiedene stilistische Mittel - assoziative Wiederaufnahmen, sinnfällige Parallelismen, Repetition von bedeutungsvollen Motiven usw. - dienen dazu, den stringenten, lückenlosen Aufbau zu bewahren und den roten Faden offen und gut sichtbar abzuspulen. Sicher hat es in diesem Film leicht ironische Züge, irreale Momente, einen spielerischen Charme in der Erzählung. Doch ist das dramaturgische Grundkonzept zu eng und bestimmend, als dass diese Stimmungselemente zu dramaturgisch eigenständigen Gestaltungsfaktoren sich auswachsen könnten. Sie öffnen die Geschichte nicht, sie bilden auch keine Widerstände.

(Literarische) Vergangenheit aufarbeiten heisst es auch hier und im gleichen Atemzug: Vergegenwärtigung von zeitlosem Gehalt. Doch Seiler glaubt, dass das Entstehen der Glauser-Verfilmung nicht zufällig 1979 und in der Schweiz geschah: «Es ist ein Märchen aus einem Land, in dem es sehr schwer ist, nicht der Anpassung, der Langeweile und schliesslich der Resignation zu verfallen.» Diese zeitkritische Verankerung blieb aber doch in der Absicht des Regisseurs stecken, denn durch die dramaturgische Gestaltung des Stoffs wird dem Märchen das potentiell Subversive entzogen: Es entstand ein Film, der diesem Schweizer Klima in keiner Weise Widerstand entgegensetzt. Doch die Wege der Situierung und Begründung der Fernseh-Filme sind verschlungen, so dass es auch möglich wird, dass Bolliger mit seinem Landvogt versucht, «eine grosse Zuschauerzahl mit den fiktiven Schicksalen einer Handvoll Menschen unterhalten zu können, dabei immer um die Frage kreisend, wo im Leben des Menschen das Selbstverschulden aufhört und kollektives Versagen beginnt und umgekehrt», und dann schliesst: «So meine ich, können Liebesgeschichten politisch gedeutet werden, kann Politik sich hinter Liebe verstecken.» (!)

Und noch einmal, und nicht weniger deutlich, formuliert Lutz Kleinselbeck von der Abteilung Dramatik die Kriterien für einen guten Fernseh-Film, in der Begründung, warum Meinrad Inglins Novelle «Begräbnis eines Schirmflickers» eine geeignete literarische Vorlage für einen Film abgibt: «Vorteilhaft für eine Film- und Fernsehbearbeitung ist die aus dem berichteten Vorfall selbst sich entwickelnde Dramaturgie: der Tod des Stromers zieht alles Weitere ohne Umwege nach. Eine vollkommen aus sich selbst hervorgehende, in sich abgeschlossene Begebenheit...» Und diese runde Perle von «Kleist’scher Aktualität» (Kleinselbeck) wurde dann von Drehbuchautor und Regisseur Xavier Koller mit grossem Aufwand als Innerschweizer Begebenheit koloriert, so etwa mit einer Reihe von kostspieligen Kunstbauten, mundartliche Nachsynchronisation und mit einer durch bestimmte Optiken und vorbelichtetes Filmmaterial erreichte «Verdichtung der Bildatmosphäre» (Koller). Koller hat dadurch den Stoff aber weder thematisch geöffnet, noch ihn filmisch aufgebrochen, sondern ihn einzig im Innerschweizer Boden verwurzelt und ihn mit schmückenden, stimmungsmachenden Ergänzungen zu einer Volkskomödie gemästet: Auch hier wieder sauft man und zotet und greift Weiber, ist man listig und mit menschlichen Schwächen behaftet: man ist lebendig, volkstümlich... Die Kamera als Medium des Erzählers bleibt immer dicht an den Fersen der Figuren, um die lückenlose Entwicklung der Handlung auf einer Ebene zu gewährleisten. Auffallend ist, dass sie, entsprechend dem dramaturgischen Rhythmus, jeweils sehr direkt und unvermittelt die Themen angeht, die einzelnen Figuren frontal einfangt und allgemein in einer offensiven, hinweisend bezeichnenden Weise auf Menschen und Gegenstände zufährt. Besonders deutlich kommt diese sperrige, gewalttätige Kameraführung in Innenaufnahmen zum Ausdruck, sowohl in Das gefrorene Herz (Kamera: Hans Liechti), wie auch in Der Stumme (Kamera: Pio Corradi), hier besonders in den Baracken-Szenen, in denen die Kamera streckenweise in akrobatischen Einlagen von der Decke herunterfilmt, um die Fixierung durch die rein personale Erzählstruktur formal aufzulösen. Das Konzept einer volksnahen Dramaturgie bestimmt also nicht nur den Aufbau der Handlung, sondern unmittelbar die Kameraarbeit, die Dialogführung, das Spiel der Schauspieler, die Musik, den Schnitt: die gesamte ästhetische Konzeption des Films. Es entsteht eine beengende, benennende Filmgrammatik, die überall nur «verschliesst», schulmeisterlich leitet und den Zuschauer bevormundet. Es entstehen Filme, die unterhalten wollen und ablenken, gut konsumierbare, leichte Kost, die nicht über sich hinausweist. Diese Filme provozieren und verunsichern nichts und niemanden!

Dramaturgie und Geschichtsverständnis: ästhetische Form und politische Tendenz.

«Aufarbeitung der Vergangenheit» bedeutet nicht nur Wiedererweckung der Schweizer Literatur zu neuem Leben, von helvetischem Alltag, von Sitten und Brauchtum, sondern auch der nationalen Geschichte, wie etwa in den zwei Filmen Ursula (koproduziert mit dem Fernsehen der DDR, Regie: Egon Günther, Buch: Helga Schütz, beide DDR) und Der Galgensteiger, einem Projekt, das aus der Absicht der Fernseh-Anstalten aus der BRD, Österreich und der Schweiz entstand, gemeinsam je einen Film über die nationalen Ereignisse um 1848 zu machen. In diesen Geschichtsfilmen wird noch deutlicher, wohin die «Dramaturgie des Publikums» führen kann, wenn sie nicht nur vordergründig zur Unterhaltung eingesetzt wird. Der Galgensteiger zeigt die Zeit von 1848, die Sonderbundskriege und die Geburtsstunde einer föderalistischen Bundesverfassung. Erzählt werden diese komplexen Ereignisse wie in einem Bilderbuch: Kriege, Schlachten, Sieg und Niederlage, Politik in den Amtsstuben und in der Tagsatzung zu Schwyz: lückenlos stimmig folgen sich Ereignis auf Ereignis, in Dekor und Kostüm bis ins Detail ausgemalt. Und im Zentrum stehen einige Figuren, die Geschichte machen. Blatt um Blatt wird gewendet, genau beschriftet, datiert, durch einen Kommentar über- und eingeleitet. Und die Hauptfigur hilft dem Zuschauer durch die Wirren - ihr kann man sich anvertrauen sie hat von Anfang bis Ende immer Recht, leidet dafür und triumphiert dann auch und der Zuschauer ebenso. Diese «publikumsgerechte» Dramaturgie begründet aber ein Geschichtsverständnis, das in seiner historischen Grundhaltung und personalisierenden Tendenz Geschichte eher verfälscht, als kritisch aufarbeitet.

Ähnlich problematisch wirkt sich die Dramaturgie auch in der Verfilmung von Kellers Ursula aus: Obwohl der Film recht frei und spielerisch mit der Vorlage umgeht und nicht wie Der Galgensteiger Geschichte doziert, geht auch diese Arbeit nicht auf kritische Weise den Fragen nach, die Geschichte an uns stellt. In Ursula wird von der Wiedertäufer-Bewegung im Kanton Zürich jede äusserlich spektakuläre, malerische Seite aufgenommen und phantasievoll, bizarr ins Bild umgesetzt, doch bleibt das Ganze als filmischer Hexensabbat Selbstzweck: Im Vordergrund stehen barock überquellende Bilder, ein expressiver Gestus, derbe Sprüche und Szenen, ein üppig lautes Volkstheater, das sich in der ausladend inszenierten, kraftstrotzenden Urwüchsigkeit erschöpft und jegliche Zwischentöne auslöscht. Die zentrale Beziehungsgeschichte von Hansli und Ursula führt den Zuschauer an der Hand durch diese wilde Zeit, wie durch eine gekonnt inszenierte Gespensterbahn. Sie vermag aber nicht die historische Situation aufzubrechen und sie konkret mit unseren aktuellen Erfahrungen in Beziehung zu setzen. Die «Dramaturgie des Publikums» springt mit den Erfahrungen und der Geschichte der Massen genau gleich um, wie mit denjenigen der Individuen. Was entsteht, ist eine mechanische Kreuzung von bunt bemalten Schablonen, die, in dem Mass, in dem sie Leben vorstellt, Realität verschleiert. Hier wird denn auch offensichtlich, welche politische Tendenz sich hinter der Annäherung ans Publikum verbirgt.

Vom beengenden Schema zur offenen Dramaturgie

Sollte der Fernseh-Film wieder Bedeutung erhalten, müssen die Verantwortlichen der Abteilung Dramatik ihr Dramaturgie-Konzept grundsätzlich ändern und aus der Polarität von spezifischen Produktionsbedingungen einer Fernseh-Anstalt und der spekulativ definierten Wirkungsmöglichkeit in Bezug auf ein Massenpublikum, aus der das Konzept ausschliesslich deduziert wird, befreien.

Im Fernseh-Film liegt eine Chance, die normierten Muster alltäglicher Fernsehkost zu durchbrechen. Die Filme sollten unsere Alltagserfahrungen, unsere historisch aktuellen Kontext, reflektieren in irrisierenden Spiegelungen, in tausendfacher Brechung, in phantasievoller Verfremdung. Es müsste also eine Grammatik ausgebildet werden, die Denken anstösst, Verunsicherung bewirkt, Fragen aufwirft, die Vielschichtiges gestaltet, Unterbrechungen als Stilmittel verwendet, Hindernisse einbaut, Ungewohntes aufnimmt, die unbequem ist und Spass macht. Die «Dramaturgie des Publikums» sollte aufbrechen, was in unserer Wirklichkeit überall verschleiert, abgerundet und ausgeebnet und vor unserer Erfahrung abgedichtet wird. Sie soll öffnen, spielerisch, anarchisch, ironisch, auch böse, soll gewohntes Sehen irritieren, Verstehen nicht allzu leichtmachen und Wahrnehmen als vielschichtigen, fallenreichen, hinterlistigen Vorgang ernst nehmen. Die Frage bleibt, ob diese Forderungen Illusion bleiben, solange die Produktionsstrukturen und Organisationsformen der Institution beibehalten werden, denn ihre Erfüllung ist sicher nicht nur ein personelles Problem.

Jörg Huber
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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