MARKUS JAKOB

DREI BESONDERE ARTEN, FERNZUSEHEN

ESSAY

Im bolzgeraden Stadtzentrum Turins sind die Häuser schwarz von Abgasen. Einzig in der prunkvollen Via Roma sind Arbeiter damit beschäftigt, die Marmorsäulen zu polieren. In die Bars streben fleissige Bürger mit totenbleichen Gesichtern und kippen in Sekundenschnelle ihre caffès, natürüch mit Grappa. Eine diskrete Art, sich vollaufen zu lassen, eleganter Stil wie alles hier. Dann klemmen sie sich noch eine der gefällig gestapelten Pralinenschachteln oder ein pralles Körbchen voller Marzipan mit buntem Band, oder gar ein überlebensgrosses Stofftier unter den Arm, Tröster der zu Hause harrenden Ehefrauen. Im Schutze solcher Präsente kann die Heimkehr noch um eine Stunde oder zwei hinausgezögert werden, doch um elf sind die Bars leer, da ja Fleiss und Industrie des Morgens ein frühzeitiges Aufstehen verlangen. Bloss etwa zwei Streifenpolizisten laben sich da noch an Limonade, bevor sie mit ihren Kindergesichtern auf das grossstädtische Nachtgesindel losgelassen werden. Arme Burschen.

Schliesslich finden wir um Mittemacht noch eine volle Bar, da läuft ein Fernsehapparat. Die Italiener haben es sich für einmal auf den Stühlen bequem gemacht. Ein Boxkampf ist zu sehen.

Ach ja, wie oft sind wir mittwochs vor einem Europacupspiel in der Stadt umhergeirrt, um ein entsprechend eingerichtetes Lokal zu finden. Haben den Nacken verrenkt, weil die besten Plätze längst besetzt waren, Bier bestellt, den FC Zürich verflucht, einen Doppelpass bewundert; der Rasen war knöcheltief, in der Wirtschaft herrschte deshalb doppeltes Behagen. Denn auch wenn mancher Trunkenbold sich in der Kneipe eher zu Hause fühlt als in seinem Zweizimmer-Logis im zweiten Stock, so bleibt doch in jeder Wirtschaft ein Gefühl der Anonymität und der Ungebundenheit - so wie sich auch auf dem Fussballstadion unter freier Himmelskuppel der Bürger, der üblicherweise jede seiner Handlungsweisen vorsichtig abwägt, der übertriebene Gefühlsäusserungen meidet und sich ihrer schämt, wenn sie ihm dennoch unterlaufen, zu Gesten des Entzückens und Ausrufen der Empörung hinreissen lässt, und ihm die Idee, sie könnten unangemessen sein und seinem Ansehen oder gar seiner Laufbahn schaden, in diesem besonderen Falle fern liegt. Dieselbe anonyme Atmosphäre findet sich auch vor dem Bildschirm in der Wirtschaft wieder, und dies entspricht natürlich der Anonymität oder Beliebigkeit, die dem Geschehen auf dem Bildschirm innewohnt. Da treffen sich zwei Äusserungen zeitgenössischen Lebens, beide «live» und doch in ihrem Wesen nicht fassbar, die zueinander passen, wie Hinz zu Kunz gehört.

Der Boxkampf in Turin nimmt seinen unentschiedenen Ausgang. Der Wirt schaltet das Gerät ab; die Wirkung könnte nicht grösser sein, wenn ein Uniformierter knüppelschwingend das Lokal beträte, denn nun erheben sich, wie durch ein unsichtbares Band geeint, sämtliche Gäste blitzgeschwind von ihren zum Apparat hin gerichteten Stühlen und verschwinden ohne zu murren mit ihren Konfektschachteln in der Nacht. So einfach hat es ein Wirt in Italien, wenn er Feierabend machen will! Schon streut ein Gehilfe Sägemehl auf den Marmorboden, ein einsames letztes Paar rettet seinen Tisch davor in eine Ecke, um sein Gespräch zu Ende zu führen.

Doppeltes, x-faches Gaffen

Man blickt in ein Schaufenster, und in diesem steht eine Reihe weiterer Schaufenster, wenn es gestattet ist, einen Fernsehapparat mit einer Auslage, Fernsehbilder mit Waren zu vergleichen.

Zehn, zwanzigmal das gleiche Fernsehbild wiederholt sich hier, wie im Schaufenster nebenan Cola-Büchse neben Cola-Büchse steht. Der Apparat ist die Verpackung der Bilder, und keiner wird die ohnehin bedeutsame Frage der Verpackung eines Produkts ernster nehmen als der Hersteller von Fernsehapparaten, der eigentlich Familienserien, politische Diskussionen und Kriminalfilme verkauft. Jeder Stadtbewohner kennt die Verblüffung und die Faszination, die ihm widerfährt, wenn er arglos auf eine Fernsehwand stösst und ihm links und rechts, oben und unten Dorothea Furrer zulächelt. Versuchen Sie die 23 Unterschiede herauszufinden! Nie wird deutlicher, warum man das Fernsehen ein Massenmedium nennt.

Die Vervielfachung bekannter Bilder bewirkt den Eindruck, sie seien eingefroren, sie ständen still, auch wenn möglicherweise gerade ein Indianer gleichzeitig zwanzigmal hinter einen Pappfelsen springt, um sich vor den Schüssen eines Trappers in Sicherheit zu bringen. Dem Auge des Passanten bleibt jedoch nur die Wahl, entweder den Sinn der Szene auf einem einzelnen Bildschirm zu erfassen, oder das Ganze als abstraktes choreographisches Meisterstück anzusehen. Schwanensee mal zwanzig gleich Reichsparteitag. Wie wenig wird freilich dieses Defilée mit der Wirklichkeit des frierend um Mitternacht auf der Gasse stehenden Zuschauers zu tun haben. Lächerlich wird er wieder mal das Bolschoi-Theater oder den Indianer finden. Gottseidank dringt der Dialog nicht durch das Schaufenster. Ein Fernsehapparat kann übrigens als erotische Lichtquelle gebraucht werden, und es spielt keine Rolle, ob ein Indianer, das Testbild oder ein irrer Zeilenraster flimmert. Dieser Raster wird nach Wirtschaftsschluss weiterhin als zwanzigfache Nullbedeutung die Gasse bescheinen, bis im Elektrizitätswerk ein stummer Mechanismus den Zauber auslöscht, wer weiss wann, wer weiss wie, wer weiss warum.

Es hätte sich keiner träumen lassen, dass ihn solcherweise die Television im Stiche lässt, als er vor zwanzig Jahren im Schaufenster einer Radiohandlung seine erste Fernsehübertragung erlebte. Schaufenster-Fernsehen ist archaistisch. Trotzdem bilden sich auch heute noch Trauben von Neugierigen vor den Bilderauslagen; sie bleiben allerdings nicht zu ihrem Feierabendvergnügen oder weil sie zu Hause keinen Apparat besitzen vor dem Fenster stehen, sondern weil sie sich en passant informieren wollen. Weil sie aus den Augenwinkeln etwas mitgekriegt haben, das sie anspricht: sei es ein Slalomfahrer, ein seltenes Tier, ein hungerndes Kind, ein leichtgeschürztes Mädchen oder ein Ölscheich in einem Cadillac. Dann verweilen sie eine Minute und gehen ihres Weges mit einem Bild im Kopfe, das ihnen durch das Fernsehen nahegebracht wurde und sie gerade deshalb umso weniger angeht. Erledigt. Den Lauf der Jahreszeiten erkennt man heute sicherer als an den herkömmlichen Zeichen daran, dass im Herbst im Fernsehen vermehrt Schnee, im Frühling viel Grünes auftaucht.

Klick: Umschalten

The Man Who Fell To Earth in Nicolas Roegs Film zeigte am anschaulichsten, was Fernsehen ist oder sein kann. David Bowie vor einer gewaltigen Bildschirmwand, und die verschiedenen wie wahnsinnig auf ihn hereinprasselnden Programme zeichnen sich auf seinem Gesicht ab, zerren an seinen Gesichtsmuskeln, ziehen ihm die Mundwinkel zu einem behaglichen, verzückten Lächeln auseinander, die Augen funkeln ekstatisch. Werden wir lernen müssen, verschiedene Programme gleichzeitig zu erfassen?

Die Leistung unserer Augen, unserer Nerven ist schon jetzt gewaltig genug; schwindelerregend ist die Vorstellung, dass in jeder Fernsehsekunde zehn Millionen Zeichen auf uns einstürzen, die wir scheinbar mühelos aufnehmen und verarbeiten. Diese schleichende Überforderung gleicht der Beanspruchung eines Fussgängers im modernen Strassenverkehr, der ja auch nichts davon weiss, dass das Zusammenspiel seines Gleichgewichtszentrums, seiner Augen und Ohren und seines nach und nach ausgebildeten Instinkts auf die Dauer eine Leistung erbringt, die diejenige eines Hundertmeter-Läufers bei weitem übertrifft.

Dennoch kennt die Lust am Fernsehen keine Grenzen, sind der Reize nie genug. Der moderne Fernsehzuschauer hält in der Hand ein kleines Kästchen mit Sensortasten, mittels dessen er sich die Bildschirmwand ersparen kann. Die Fernbedienung hatte zweifellos eine Umwälzung ersten Grades unserer Sehgewohnheiten zur Folge, denn innerhalb von Augenblicken führt man sich nun Hänschen Rosenthal, Catch-as-catch-can, eine Folklorefahrt durchs Obergoms, einen Melville-Reisser und eine Strassenschlacht in San Salvador zu Gemüte; Zack und Klick, und unser Erstaunen über die so nahe gebrachte Welt sollte in jedem einzelnen Falle eigentlich schon gross genug sein, doch im Zusammenhang der verschiedenen Verrücktheiten überspringt Dalli-Dalli endgültig die Grenzen des Verstandes. Im sauersüssen Eintopf der Programme ist die Bedeutung der einzelnen Zutaten nicht mehr genau zu erfassen. Kulinarische Vergleiche eignen sich fürs Fernsehen ja bestens. Alles ist schön zu seiner Zeit.

Der moderne Fernsehzuschauer legt sich mit dem Fernbedienungskästchen in die Horizontale, setzt sich die Prismenbrille auf, und wird nach längerem Hin- und Herschalten das Bedürfnis verspüren, bei einem Programm zu verweilen. Fernbedienung ist die beste Programmzeitschrift, könnte man annehmen. Dennoch stellt sich nach einigen Minuten die Frage: «Was sehe ich eigentlich?» Das will aus der Sendung selbst nie ganz klarwerden, sondern braucht Bestätigung schwarz auf weiss. Schaltet denn der Kopf nicht ebenso schnell wie die Tatzen? Wahrscheinlich beansprucht die reception von Fernsehbildern nur einen geringen Teil unseres Fassungsvermögens; jedenfalls entstehen nur mühsame Gedankengänge, aber massenhaft sprunghafte Assoziationen. Möglich, dass sie in den Augennerven stecken bleiben oder gar direkt in die Blutbahn gelangen. Fernsehen ist ein physiologisches Wunder. Umschalten: Eine windige Sache.

Markus Jakob
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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