ULRIKE JEHLE / WERNER JEHLE

MUTWILLIGE AUSWAHL

ESSAY

Wir haben uns durchgefragt und immer zur Antwort bekommen: Ja habt Ihr das noch nicht und jenes nicht, und dann war doch in Mendrisio unten noch eines und in Neuenburg. Wir hätten hundert Kinos bringen müssen. Jetzt sind es sechs. Was ist interessant an diesen wenigen? - Zwei stammen von Klassikern, von Le Corbusier und Max Bill, und sind doch fast vergessen. Wir holen sie aus der Versenkung. Es sind das Scala in La Chaux-de-Fonds und das Cinevox, das in Neuhausen am Rheinfall stand. Das Etoile von Werner Frey faszinierte uns, weil es im Innern - statt mit Talmi zu glänzen - mit einer an den Photobalg, der auch vor die Arriflex gehört, erinnernden Form die Leinwand rahmt, also beim Film bleibt im architektonischen Vokabular und nicht auf die Flucht in die Exotik sich begibt. Ähnliches gefiel uns an den Projektionsmaschinen in der Vitrine des Ateliers in Basel: die Ehrlichkeit, die Versicherung der Kino-Architekten, dass hier Filme abgespielt werden und nicht geträumt wird. Rino Tamis Corso, im Design die konkrete Kunst der fünfziger Jahre verarbeitend, sehen wir in der Nähe von Doesburgs Strassburger «Aubette». Das Festival-Kino Vacchinis auf der Piazza Grande in Locarno ist das einzige Beispiel eines Open-Air-Kinos in der Schweiz und ein herrliches dazu.

Scala, La Chaux-de-Fonds

Architekt: Le Corbusier, damals noch Charles-Edouard Jearmeret 1916?

Die Urheberschaft Charles-Edouard Jeannerets, der 1917 La Chaux-de-Fonds definitiv verliess und sich in Paris als Le Corbusier niederliess, ist umstritten. Vermutlich ist Architekt Cha-pallaz weitgehend beteiligt am Projekt. Trotzdem tragen die Pläne in den Archiven die eigenhändige Unterschrift Charles-Edouard Jeannerets. Erstaunlich ist es, dass verschiedene Elemente dieses Baues, die Rückfassade etwa, Züge aufweisen, die für spätere Arbeiten Le Corbusiers massgeblich werden; die gestaffelten Kuben z. B.

Etoile, Zürich Architekt: Werner Frey 1951/52

Blickfang des Etoile war ohne Zweifel der riesige schwarze Photobalg im Inneren, der zur Vermeidung von Reflexen den Projektionsschirm einfasste. Die Wände des im ganzen symmetrischen Saales waren dunkelblau, die Decke war aus akustischen und optischen Gründen wellenförmig. Die Farbigkeit des Raumes sollte durch die Kleider der Besucher entstehen. Die Beleuchtung war ausschliesslich indirekt. Werner Frey hatte mit Roman Clemens schon das «Studio 4» an der Nüschelerstrasse eingerichtet.

Corso, Lugano Architekt: Rino Tami 1957

Als Teil eines Wohnblockes wurde das Corso in Lugano 1957 errichtet. Es sollte, in der Nähe eines unter Denkmalschutz stehenden Gebäudes des 15. Jh., nicht zu hoch werden, deswegen verzichtete Tami auf einen Balkon. Man betrat den Zuschauerraum etwa in der Mitte der Schrägen und war mit verschieden abgestuften, jedoch ineinandergreifenden Flächen konfrontiert, die als weisse und schwarze Dreiecke so komponiert waren, dass ihr Ausgangspunkt der Lichtstrahl der Projektion war, und ihr Ende in der dunklen Fläche der Projektionswand lag.

Cinevox, Neuhausen am Rheinfall Architekt: Max Bill 1958

Das neben ein Wohngebäude platzierte Kino hatte seinen Eingang im Wohnhaus. Der Innenraum des inzwischen abgebrannten Kinos sollte in der Art und Anordnung der Bestuhlung, der Neigung des Zuschauerraumes und der Farbgebung und Beleuchtung den Besucher ganz auf die Wahrnehmung des Filmes konzentrieren.

Atelier, Basel

Architekt: Gutmann und Schwarz 1979

Rolf Gutmann hat mit dem Einbau des «Ateliers» in die Passage unter «seinem» Theaterplatz die Gelegenheit wahrgenommen, die Technik des Kinovorführens transparent zu gestalten. Da wird nicht versucht, Theatercharakter zu suggerieren, da wird «work-shop», Vorführraum, technische Ehrlichkeit demonstriert. Wo sonst trifft man die Projektionsmaschine im Schaufenster an?

Das Atelier mit seinen 138 Plätzen ist der Typus des neuen Studiokinos, das seit zehn Jahren die grossen Säle abzulösen beginnt. Es können hier auch schwierige Filme der Avantgarde gezeigt werden. Es wird mit einem kleinen Publikum gerechnet. Architektonisch gesehen ordnet man sich ein in einen grösseren Zusammenhang, im Falle des Ateliers in den Theaterkomplex an einer städtebaulich interessanten Stelle, in der Nähe des Zentrums.

Festival-Kino, Locarno

Architekt: Livio Vacchini 1971

Auf der Piazza Grande in Locarno werden seit 1971 während des jeweils im August stattfindenden Festivals Filme am Abend vorgeführt. Dazu hat Livio Vacchini eine räumliche Fachwerkkonstruktion entwickelt, auf die die grosse Leinwand am nördlichen Platzende gespannt wird. Die Projektion an der anderen Seite kommt aus einer Kabine, die aus zusammengesetzten Swimmingpoolwannen besteht. Die «Wände» dieses Kinos sind die Fassaden an der Piazza Grande.

Die Einrichtungen, die der Festivalbetrieb erfordert - Leinwand, Podium für die Vorstellung eingeladener Filmschaffender, zweitausend Sitzschalen und Projektionskabine -, sind in die städtebauliche Situation gepasst, ja steigern diese nachgerade dadurch, dass sie den Platzraum an einer Seite durch die Membrane der Bildwand betonen, ohne ihn abzuschliessen.

Ulrike Jehle
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
Werner Jehle
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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