MARTIN STEINMANN

ZWEI KINOS UM 1930

ESSAY

Der Film besass in seiner Geschichte wechselnde Konnotationen, die sich in den Räumen spiegelten, in denen er gezeigt wurde: Am Anfang in den Buden von Schaustellern, als etwas Seltsames, wie «die dickste Frau der Welt». Und auch später, in den Räumen um 1920, die starkfarbig ausgemalt waren, in den nüchternen Räumen um 1930, und so weiter.

Im letzten Heft der Zeitschrift «ABC» bezeichneten die Herausgeber, die Architekten Schmidt und Stam, die Maschine als «Diktator unserer gemeinsamen Lebensmöglichkeiten», nämlich als Voraussetzung einer allen zugutekommenden Wirtschaftlichkeit. Einige Abschnitte handeln auch von Kunst. Darin schreiben die Herausgeber, dass diese vor der Gefahr stünde, den Zusammenhang mit der Allgemeinheit zu verlieren, weil sie nicht mehr mit der Wirtschaftlichkeit rechne, das heisst nicht mehr für die Allgemeinheit produziere1. Vom Film ist nicht eigens die Rede, aber er entspricht ihrer Forderung am meisten, wegen den Bedingungen, unter denen er entsteht: technisch aufgeteilt wie ein industriell produzierter Gegenstand, wirtschaftlich selber eine Industrie.

Diese Bedingungen, die auch für die Baukunst gelten, mussten die Aufmerksamkeit des Neuen Bauens, das seinerseits die ästhetischen Folgen aus ihnen zu ziehen suchte, auf den Film als Kunst lenken. Umso erstaunlicher ist die geringe Zahl der Kinos, die von Vertretern des Neuen Bauens stammen: Das «Roxy» in Zürich, 1930-32 gebaut von Hubacher und Steiger, und das «Cineac» in Amsterdam von Duiker, 1934. Das «Universum» in Berlin von Mendelsohn kann nicht eigentlich zum Neuen Bauen gerechnet werden. Dazurechnen kann man vielleicht noch einige Räume, die unter anderem zum Zeigen von Filmen dienten, so das «Corso-Theater» in Zürich, umgebaut von Burckhardt 1933-34, oder das «Theater Gooiland» in Hilversum wieder von Duiker, 1934-36.

Ein Vergleich der beiden Kinos in Amsterdam und Zürich ist besonders aufschlussreich, weil sie - in der Sprache des neuen Bauens - gegensätzliche «Bilden) der Grossstadt entwerfen: das «Cineac» die Grossstadt als «Maschine», das «Roxy» dagegen als «Gebrauchsgegenstand». Dieser Gegensatz findet sich auf verschiedenen Ebenen. Betrachten wir als erstes die äussere Erscheinung der beiden Kinos:

Das «Cineac» liegt an der Ecke eines Häuserblockes der engen Reguliersbreestraat. Mit Geschick nützte Duiker das unregelmässige Grundstück aus, indem er den Kinoraum diagonal anordnete, sodass der Eingang an die Ecke zu liegen kam. Die Konstruktion besteht aus einem Gerüst aus Stahl, das an dieser Ecke in Form einer zweigeschossigen Stütze sichtbar gemacht ist. Die Grenzen des Grundstückes sind durch einen besonderen Belag auf der Ebene der Strasse angedeutet. Die Wand der beiden unteren Geschosse aber liegt hinter der Stütze zurück und schneidet die Ecke in einer zusammengesetzten Bogenlinie. Die beiden oberen Geschosse springen bis zur Ecke vor, wobei sich die Fassaden auf beiden Seiten in ihrer Gestaltung entsprechen. Auf diese Weise verband Duiker diese Fassaden, um die Wirkung des recht kleinen Gebäudes zu steigern. Am wirkungsvollsten sind dabei die diagonalen Teile: das hochaufragende Gerüst auf dem Dach mit dem Schriftzug «Cineac», das in seiner Stellung der zurückliegenden Wand der beiden unteren Geschosse entspricht, und diese Wand.

Der Schriftzug, der von weitem auf das Kino aufmerksam macht, erscheint, wegen seiner Stellung, von der Reguliersbreestraat aus wie eine der bekannten, diagonal aufgenommenen Grossstadt-Fotografien von Moholy-Nagy: Er gehört zur Ikonografie der Grossstadt.

Wie der Name sagt, war das «Cineac» ein reines Aktualitäten-Kino, betrieben von der Zeitung «Handelsblad». Nach Duikers Vorstellung stellte es eine fortschrittlichere Form der Zeitung dar. Einen kurzen Artikel begann er mit den Worten: «Dieser Artikel soll eine Beschreibung des Kinos geben: der Einrichtungen, die notwendig sind, um die Zeitung und ihre Leser zusammenzubringen»2.

Von dieser Welt der Nachrichten, der Schlagzeilen ist die Erscheinung des «Cineac» denn auch bestimmt und es erinnert nicht umsonst an den Entwurf der Brüder Vesnin für ein Gebäude der Zeitung «Pravda», entstanden 1921, der verschiedene Einrichtungen zur Projektion von Schlagzeilen -sogar auf Wolken - aufweist. Architektonisch aber ist Duikers Entwurf viel reifer: das «Cineac» gehört zu den schönsten Werken des Neuen Bauens!

Wie das «Pravda-Gebäude» ist das Gebäude von Duiker gewissermassen durchsichtig: während es dort die Redakteure sind, denen man von der Strasse aus zuschauen sollte, wie sie arbeiten, sind es hier die Operateure, die mit ihren Projektoren beschäftigt sind. Durch die Ausrichtung des Kinoraumes in die Tiefe des Grundstückes liegt die Projektionskabine über dem Eingang; sie ist in ihrer ganzen Breite verglast. Film ist auf diese Weise kein geheimnisvoller Vorgang mehr, wie in den Buden der Schausteller; Film ist ein Vorgang, der bestimmte Maschinen und bestimmte Handgriffe an diesen Maschinen erfordert.

Ganz anders das «Roxy», das im Hof eines Geschäftshauses an der Bäckerstrasse liegt. Aus der Notwendigkeit, für ein an dieser Stelle bestehendes Kino neue Abortanlagen einzurichten, ergab sich der Gedanke, ein Gebäude für verschiedene Zwecke zu bauen, wie es einer Grossstadt entspräche. (Bauherr war der Vater von Hubacher.) So entstand ein Geschäftshaus, das im Erdgeschoss Läden enthält, in vier oberen Geschossen Bureaux und im zurückgesetzten obersten Geschoss Wohnungen. Im Hof wurde ein neues Kino eingebaut, unter dem eine der ersten Autohallen in Zürich lag. Die Bebauung enthielt schliesslich auch ein Restaurant. Ein Inserat von damals wies auf das grossstädtische Angebot in einer entsprechenden Lage hin: «zu fuss in 4 minuten zur sihlpost, in 7 minuten zum hauptbahnhof».

In seiner Erscheinung folgt das «Z-Haus», wie es heisst, der Kurve, die die Bäckerstrasse bildet. Seine Fassade erhält dadurch die Gespanntheit, die Mendelsohn in verschiedenen Entwürfen, etwa im Kaufhaus Schocken in Chemnitz, gebaut 1928, zum Merkmal der neuen Grossstadt-Architektur gemacht hat. Da die Konstruktion aus minimal bemessenen, zweistieligen Rahmen aus Beton besteht, deren Enden beidseitig auskragen, hat die Fassade keine tragende Funktion: Die grossen Flächen der Ladenfenster, die Bänder der Brüstungen und der Bureauxfenster laufen ununterbrochen von einem Ende der Fassade zum anderen und schaffen einen Eindruck des Leichten, Durchsichtigen, Konstruktiven, ohne aber diesen Eindruck ins Konstruktivistische zu steigern.

Während in Duikers Entwurf die Neonschriften in genau berechneter Stellung und Grösse für die verschiedenen Standorte ein Bestandteil der Architektur sind und «Grossstadt» inszenieren, zeigt das «Z-Haus» als einziges Zeichen, von der Badenerstrasse aus sichtbar, ein grosses Z. (Dieses Z, das die Bebauung als das Neueste, Letzte bezeichnen sollte, ist heute entfernt.) Das Kino selber, dessen Kassenraum den Platz eines Ladens einnimmt, war nicht anders beschriftet als ein Laden: Es war eine Funktion des «Z-Hauses» unter anderen, unterschieden einzig durch die besonderen Bedingungen dieser Funktion (zwei Tür-Paare, für die hinein- und hinausströmenden Besucher, und so weiter).

Bei der Veröffentlichung des «Z-Hauses» in der Zeitschrift «Werk» schrieb Peter Meyer über die Gelassenheit, die dieses auszeichnet: der Entwurf gewinne seine durchaus legitime Wirkung nicht durch Formen, die «von aussen» hinzugefügt seien, sondern durch die Folgerichtigkeit, mit denen seine Mittel dem Zweck dienten. Damit weise er auch städtebaulich über den Individualismus der Gegenwart hinaus, der jedes Gebäude zwinge, sich mit allen Mitteln von seinen Nachbarn zu unterscheiden3. Der Unterschied zu Duikers Entwurf springt in die Augen: Dort Grossstadt als «machine à émouvoir», hier Grossstadt als Gebrauchsgegenstand. (1933 untersuchten die Internationalen Kongresse für Neues Bauen, in denen Steiger eine bedeutende Rolle spielte, eine Reihe von Städten. Dabei dienten die grundlegenden Funktionen wohnen, arbeiten, sich erholen und der Verkehr als Parameter, um die Grossstadt in der Vielgestaltigkeit ihrer Erscheinungen als Gebrauchsgegenstand zu verstehen.)

War bis zu diesem Punkt vom Äusseren die Rede, von der Wirkung der beiden Gebäude auf den «Mann von der Strasse», so muss nun auch noch das Innere im einen wie im anderen Fall kurz betrachtet werden:

In seiner Grundform ist der Raum des «Cineac» ein «Kuchenstück», er verengt sich gegen die Leinwand. Sein hinterer Teil weist einen Balkon auf, unter dem im ersten oberen Geschoss die Projektionskabine untergebracht ist. Von der Kante des Balkons senkt sich die Decke gegen die Leinwand. Seitlich schliesst sie schalenartig an die Wände an, was dem Raum eine stromlinienförmige Wirkung gibt. Diese ist aber nicht stilistisch begründet, wie die bekannten, Schnelligkeit konnotierenden Kühlschränke um 1950, sondern akustisch, in den Bedingungen des Kinos. Die «Maschine» ist nicht nur Metapher, das Kino ist eine Maschine: für die Vermittlung von Nachrichten.

Da es sich um ein Aktualitäten-Kino handelt, mit ständig wechselnden Besuchern, ist auf Ein- und Ausgänge grosses Gewicht gelegt: Sie sind streng getrennt und sie sind auf den Böden mit grossen Pfeilen bezeichnet, wie auf einem Diagramm von Ganglinien.

Das «Roxy» ist im Wesentlichen ein rechteckiger Raum, der keinen Balkon aufweist. Nur zwei kurze Wände verengen ihn ein wenig gegen die Leinwand. Die Ein- und Ausgänge befinden sich hinter diesen Wänden, sodass der Raum gewissermassen von der Leinwand her betreten wird. Die Decke ruht auf vier Stützen, oder richtiger: vier Stützen tragen die schräg ansteigenden Deckenränder, die ein Feld von 8 x 15 Metern bilden. Dieses Feld liess sich mit einem Mechanismus öffnen, der die darüber gespannte Decke auf Bahnen nach vorne und nach hinten auseinanderschob. So war es bei gutem Wetter möglich, Filme unter freiem Himmel zu zeigen: In dieser Verbindung von gegensätzlichen Eindrücken, von natürlichen und von solchen, die mittels der Technik gemacht waren, liegt ein Schlüssel für das damalige Lebensgefühl. Es scheint aber, dass von diesem Mechanismus nur am Anfang Gebrauch gemacht wurde.

Der Raum selber war nüchtern; Hubacher und Steiger nahmen weder akustische noch andere Bedingungen des Kinos zum Anlass, um ihn in seiner Wirkung zu steigern. Auch hier ist die Projektionskabine aufschlussreich, von der nur die Öffnungen vom Raum aus sichtbar sind, in der Beschreibung des Entwurfes in der Zeitschrift «Werk» durch die Architekten aber schwingt Emotion über die dahinter aufgestellten Projektoren mit: Sie werden einzeln genannt, samt den elektrischen Apparaten, Stromlieferungs- und Umformerapparaten und so weiter, «im Ganzen eine Anlage, die für den Betrieb einer Eisenbahn genügen würde».

Hans Schmidt und Mart Stam: Kunst. In ABC (1927-28), Serie 2, Heft 4, Seite 12.

Jan Duiker: Moderne Theaterbouw. In Handelsblad, 2. November 1934; abgedruckt in «Duiker 1890-1935», Amsterdam 1972.

Peter Meyer: Neuzeitliche Geschäftshäuser. In Werk (1934), Heft 1, Seiten 1,6.

Martin Steinmann
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]