HANS M. EICHENLAUB

WENN DIE «FRIEDHOFSSCHWERKRAFT» DOMINIERT

ESSAY

In Schiiten, irgendwo abseits der grossen Zentren, draussen in der Landschaft, steht auf einem Hügel im Grünen ein kleines Schulhaus. Mit seinen hohen Bogenfenstern im Erdgeschoss und dem mit einer Glocke versehenen türmchenartigen Dachritter gleicht es von ferne einer Kapelle. Hier hat Armin Schildknecht (Michael Maassen) eine Lehrerstelle angetreten, guten Mutes und mit klaren pädagogischen Zielvorstellungen. Die Einführung in sein neues Reich erfolgt durch Elvira Schupf er (Gudrun Geier), die altgediente Abwartin, die in Worten und Gesten keinen Zweifel darüber aufkommen lässt, wer im Schiltener Schulhaus das Sagen hat. Immer wieder zitiert sie den Lehrer Haberstich, den unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommenen Vorgänger Schildknechts. Das geht soweit, dass die Schüpferin Schildknecht nötigt, zwei Teller Suppe zu essen, Haberstich habe es auch so gehalten! Entsprechend ihrer Einmischungen in Schildknechts Privatsphäre - die es eigentlich schon darum kaum geben kann, weil sich die Lehrerwohnung im Dachstock des Schulhauses befindet -funkt Wiederkehr (Norbert Schwientek), Abwart, Totengräber und Friedhofsgärtner, im schulischen Bereich drein. Hier ist zur geografischen Lage des Schiltener Schulhäuschens nachzutragen, dass es, nur getrennt durch die Hauptstrasse, unmittelbar ans Friedhofareal grenzt. Der Blick durchs Bogenfenster fällt auf den schmiedeisernen Zaun, die beiden das Portal flankierenden Scheinzypressen und die durch Kieswege und Buchshecken aufgeteilten Gräberreihen.

Jeder Todesfall bringt empfindliche Störungen des Schulbetriebes mit sich: Die Turnhalle wird zum Abdankungsraum umfunktioniert, und Wiederkehr ordert in militärischem Ton mitten aus dem Unterricht heraus eingespielte Schülerequipen, sei es, um die Turnhalle zu reinigen, die Bestuhlung einzurichten oder beim Begräbnis die Kränze und Blumengebinde zu tragen. Der Lehrer selbst - so will es die Lokaltradition - setzt sich ans Harmonium, um mit seinen Schülern die Trauerfeier musikalisch zu umrahmen. All diese Einflüsse und Angriffe auf den Unterricht, das Ausbreitungspotential des Todes gegenüber der dem Leben verpflichteten Schule, fasst Schildknecht mit dem Begriff der «Friedhofsschwerkraft» zusammen, die stärker ist als alle seine pädagogischen Ansätze und Anläufe, und an der der Schulmeister schliesslich zerbricht.

Doch vorerst setzt Schildknecht den Friedhofsschwerkräften seine Trümpfe entgegen: Den Nachtunterricht etwa, zu dem sich die Schüler, in Schlafsäcke und Decken eingerollt, versammeln; oder - als Glanzstück - den Nebel-Unterricht, zu dem der Lehrer das alte Harmonium in die neblige Schneelandschaft hinaustragen lässt, und in dessen Zusammenhang der Zuschauer erstaunt zur Kenntnis nimmt, dass «Nebel» rückwärts gelesen «Leben» heisst. Und so rezitieren denn Schildknechts Schüler: «Wir sind noch einmal mit dem Nebel davongekommen», oder «Für den Nebel lernen wir, nicht für die Schule». Doch immer wieder wird Schildknecht abrupt unterbrochen in seinen schulischen Tätigkeiten. Immer wieder bricht der Friedhof, der Tod, ein. Langsam aber sicher geht der Schulmeister an seiner Einsamkeit, seiner Echolosigkeit und an den äusseren Widerständen zugrunde. Ganz zuletzt, weil ihm die Eltern die Schüler seiner «Einheitsförderklasse» vorenthalten. Auf langen Spaziergängen pflügt sich Schildknecht durch Schnee- und Nebellandschaften, die mehr als nur Kälte und Einsamkeit signalisieren. Gegen Schluss liegt er auf dem verschneiten Waldboden und stammelt mit wirrem Blick: «Wenn ich doch nur einen Kompass hätte, der zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheidet!»

Und genau in diesem Zwischenbereich, zwischen Wahn und Wirklichkeit, hat Beat Kuert seinen Film nach dem (1976 bei Artemis erschienen) Roman von Hermann Burger angesiedelt. Kuert arbeitet stark mit der Landschaft als Chiffre: Schnee, Nebel, Kälte, und immer wieder Bäume in einsamer Umgebung. Er evoziert ein morbides Klima, in dem der Tod, oder zumindest der Scheintod, alles Leben, alle Kreativität verdrängt. Kuert hat sich Burgers Romanvorlage nicht sklavisch untergeordnet. Ganz im Gegenteil, er hat eine eigenständige Interpretation gesucht und gefunden. Er hat Personen weggelassen (etwa den Friedhofnarr Stefan Wigger und den Sektenbruder Stäbli, im Roman der Gegenspieler Schildknechts), er hat aber auch eine Figur, wenn nicht gerade erfunden, so doch stark ausgebaut, Schildknechts Lieblingsschülerin Adelheid Binswanger, die im Roman in einem einzigen Nebensatz vorkommt. Zudem hat Beat Kuert den Handlungsablauf in eine lineare Form gebracht. Er hat anstelle der Burger’schen indirekten Rede - derganze Roman ist in der Form eines «Schulberichtes zuhanden der Inspektorenkonferenz» gehalten - eine dialogische Version gefunden, die wesentlich eingängiger ist, als die eher schwer lesbare Vorlage mit ihren literarischen Manierismen und den ausufernden Präzisierungen, die oft vom hundertsten ins tausendste gehen. Ich muss gestehen, bei der ersten Lektüre des Romans konnte ich mir eine Verfilmung kaum vorstellen. Und ein Besuch bei den Dreharbeiten im aargauischen Schiltwald, wo dieses verhexte Schulhaus tatsächlich genau so steht, vis-à-vis des Friedhofs, wie es Burger beschreibt und wie es Kuert abgelichtet hat, vergrösserte sich die Skepsis. Die legere Art und Weise, wie da gearbeitet wurde, wie beispielsweise mit dem Schaumlöscher rund um das von Wiederkehr aufgeworfene Grab Schnee simuliert wurde, das alles schien mir eine Spur zu wenig professionell. Umso grösser ist nun die Überraschung und die Freude über diesen Film und die Kraft seiner Bilder, seiner Musik und seiner Darsteller, allen voran Michael Maassen (der auch am Drehbuch mitarbeitete), der diesen Lehrer Schildknecht so unendlich sensibel und verletzlich verkörpert.

Schilten: P: Beat Kuert, Barbara Riesen, Filmkollektiv Zürich; R: Beat Kuert; B: Beat Kuert, Michael Maassen, nach dem Roman Schilten von Hermann Burger; M: Cornelius Wernle; T: Florian Eidenbenz; K: Hansueli Schenkel: Prod’leiter: Rolf Schmid; Aufnahmeleiter: Marianne Bucher; Beleuchter: Arnold Fischer, Andres Zaugg; Schnitt: Beat Kuert; Kameraassist.: Markus Fischer; D: Michael Maassen, Gudrun Geier, Norbert, Schwientek, Kaarina Schenk u.a. 16/35 mm/Farbe/90 Minuten.

Hans M. Eichenlaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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