MARTIN WALDER

GRAUZONE

ESSAY

I.

Grauzonen sind in etwa beschreibbar: Es fehlen Konturen, es fehlen Schatten, Tiefen, namhafte Farben. Und es fehlt eine Mitte; Zonen haben keine Mitte, sie liegen zwischen etwas oder am Rande von etwas. So kann «Grauzone» zum Abbild von vielerlei werden. Für das Wohnen beispielsweise im Niemandsland von Stadt und Nicht-Stadt, in anonymen Hochhausriegeln (wo verstohlen per Feldstecher von Wohneinheit zu Wohneinheit «kommuniziert» wird), durch Autobahnringe erschlossenen Siedlungsburgen mit Industriekaminhorizonten und langen Plakatwänden entlang staubigen Trottoirs, besser zugänglich durch labyrinthische Tiefgaragen und Fussgängerunterführungen. Weichbild der Stadt, sagt man, obwohl das meiste in Beton gegossen. Grauzone sodann als gesellschaftlicher Raum, «etwa in der Mitte zwischen der untern Oberschicht und der oberen Unterschicht, also da, wo die überwältigende Mehrheit lebt», ein Raum der Unauffälligkeit für die «freiwillig schweigende Mehrheit» (Murer), die zu ihrer eigenen Mitbestimmung Nein gesagt hat. Und im sogenannten Privaten greift die Grauzone dort um sich, wo die Beziehungen zwischen den Menschen unausgesprochen bleiben, zum Beispiel das Alleinsein zu zweit überhandnimmt und selbst im Einzelnen drin die Beziehung «zwischen dem eigenen Kopf und Bauch» im Diffusen verloren geht.

Aus all diesen Abbildern von Grauzone spricht die Erfahrung schleichender Entfremdung, und insofern ist Grauzone für Murer auch zeitlich fassbar: «Die Mitte-siebziger-Jahre -für mein Gefühl eine einzige Grauzone - liegen ziemlich genau in der Mitte zwischen 1968 und 1984», also in der Mitte zwischen dem Jahr des Aufbruchs und dem OrwelIschen Jahr der totalen Anpassung und Kontrolle.

II.

Der Begriff der Grauzone meint nicht nur Zustände, er impliziert auch Verhaltensweisen. Grauzonen lähmen, höhlen aus; nichts und niemand ist greifbar. Dadurch allerdings lassen sie sich auch nutzen - clevere Menschen haben das immer schon gewusst. Und wo es nicht um Nutzung in Dienste der Anpassung geht, so mag immerhin auch Widerstand überleben. Murers Film handelt von solcher Anpassungsverweigerung in einem Raum, der durch Chance wie Bedrohung gekennzeichnet ist.

In diesem Raum hat Murer ein junges Ehepaar ausgesetzt: Alfred (37) und Julia (33). Alfred M. ist ein perfektes Grauzonenprodukt - ein Grauzögling, ehemals kaufmännischer Angestellter, seit über zehn Jahren im gleichen Konzern tätig, offiziel zwar gekündigt und freier Mitarbeiter, in Wirklichkeit aber durch eine unscheinbare Schranktür im Büro in die Innereien des Konzerns hinuntergetaucht, ins Schaltzentrum einer internen Betriebs-Überwachungsanlage, die er, der ehemalige Tonjäger, unterm väterlichen Vertrauensblick des Konzernchefs betreut. Sonst hat Abhörer Alfred berufeshalber zu niemandem mehr Vertrauen, auch zu seiner Frau nicht, mit der er seit acht Jahren kinderlos verheiratet ist. Durchschnittskrisenehe miteinander aneinander vorbei, gelegentliche gegenseitige Gratifikationen inbegriffen: «Als sie in eine schönere Wohnung umzogen, schenkte er ihr ein neues Schlafzimmer, sie ihm ein wildes Tier - aus Porzellan».

Es ist ein anonymes Pirateninserat in einer «grossen Zürcher Tageszeitung», welches die scheinbar perfekte Übereinstimmung von Grauzögling und Grauzone stört: (nächste Seite)

AIfred M. wird, wie viele Tausende, «Opfer» der seltsamen Epidemie, die in alle Medien und in die Bevölkerung getragen wird, respektive aus ihr herausbricht. In der lichtlosen Grauzone flakkern, anonym, plötzlich Lichter auf, die Schatten werfen, Konturen zeichnen, punktuell nur, aber verbreitet: Lichter offensichtlicher Anpassungsverweigerung. Ein pathetisches Wort; man kann Murers Film leicht damit erschlagen. Denn wenn Alfred am Ende als seine - seine! - befreiende Tat die ganze geheime Abhöranlage vor allen Betriebsangehörigen auffliegen lässt, ist das nur «ein gigantischer Schritt» für ihn, aber «ein kleiner für die Menschheit». Die Epidemie, welche der Grauzone gefährlich werden könnte, ist anonym, ist keine «Bewegung», und die «My-home-is-my-castle»-Mentalität eines Taxifahrers von einer Komik, die zu lachen gar keinen Grund hergibt: «Ich habe meine Wohnung zur Republik erklärt, wenn ich aus dem Haus gehe, bin ich im Ausland... Keine Rechte, keine Pflichten». Utopische Aufschwünge bleiben von nur privatem Charakter und sind letztlich sogar fiktiv: Alfred M. hat wohl durch seine Tat das Image des Konzerns kurz verletzt, aber in die Luft fliegt das ganze Haus am Ende lediglich in seinem Kopf. Wo aber die Lichter der Anpassungsverweigerung gleich wieder ausgehen, herrscht auch gleich wieder Grauzone.

Was bleibt als Ansatz? Im Wortspiel mit dem Wort Leben «den Ernst des Nebels kennenlernen» oder «mit dem Nebel davongekommen» - so könnte der Schauspieler Michael Maassen sozusagen aus Beat Kuerts «Schiiten» herüberspaziert, auch in «Grauzone» räsonnieren, wenn ihn Murer einmal kurz auf der Dachterrasse des Hochhauses Alfred begegnen lässt.

III.

Abbilder und Metaphern für die Grauzone gibt es also genügend; nur: was sollen, was können sie leisten? Hätte ein Film über die Grauzone in und um uns die verborgenen Mechanismen ihres Funktionierens analytisch blosszulegen, wie das Murer offenbar vorgerechnet worden ist? Der Filmemacher hat anders reagiert, «klimatisch». Ernennt seinen Film einen Klimafilm, und besser kann man es eigentlich nicht sagen.

Ein Klimafilm lässt sich so verschieden erleben, wie die Leute unterschiedlich klimaempfindlich sind. Das erste Mal ist mir das Klima von «Grauzone» tagelang nachgegangen, eher lähmend, bedrückend, aber Bilder und ein Geräuschszenarium einlösend, die vom Alltag her tief vertraut sind. Lähmend dann auch die doch eher trostlose Bilanz dieser Wochenendgeschichte eines kleinen Anpassungsverweigerers, die stärker wog als die doch eigentlich nicht zu übersehende augenzwinkernde Phantasie des Filmemachers im Umgang mit seiner Grauzone. Die ernste Dichte in der Beschreibung eines vertrauten Klimas ist -und wenn auf Kosten stabiler Dramaturgie - in ihrem fiktiven Entwurf von einer dokumentarischen Präsenz, dies allein ist nicht zu unterschätzen in der Entwicklung des neuen deutschschweizerischen Spielfilms, der dem dokumentarischen Gehalt von Fiktion auch gar misstraut.

Zum dritten Mal habe ich «Grauzone» im Kino Kursaal während des Festivals von Locarno gesehen, mitgetragen von einer durchaus aufgeräumten Stimmung im Saal, die auf Murers Phantasiesprünge, Gags und Arabesken ungebrochen reagierte und dem Film so etwas wie eine fröhliche Verweigerungshaltung zu entnehmen schien. Nachträglich schien sie mir den Film allerdings doch kleiner zu machen, ihn zu sehr zu reduzieren auf den schmalen Galgenwitz eines Produkts, das selber aus der Grauzone kommt.

Die Fragilität von Fredi M. Murers Film gefährdet und ermöglicht seine Qualität dicht nebeneinander.

Grauzone: P: Nemo Film AG, Zürich; P’leitung: Hans Ulrich Jordi, Rose-Marie Schneider; Aufnahmeleitung: Hans Ulrich Jordi, August Erb.

B: Fredi M. Murer; Mitarbeiter und Zulieferanten: Ursula Bischof, Jean-Pierre Hoby, Kurt Marti, Adolf Muschg, Samuel Plattner; R: Fredi M. Murer; Assistenz und Script: Ursula Bischof; K: Hans Liechti, Rainer Klausmann; Ton: Florian Eidenbenz; Beleuchtung: Beni Lehmann, Iwan P. Schumacher; Ausstattung: Bernhard Sauter; Schnitt: Rainer Trinkler; D: Giovanni Früh, Olga Piazza, Jürgen Brügger, Georg Reinhart, Ernst Kühni, Therese Schmutz, Karl Gassmann, Oskar Hoby, Walo Lüönd, Janet Haufler, Mathias Gnädinger, Michael Maassen, u.a. 16 mm/sw/103 Minuten.

Martin Walder
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]