BERNHARD GIGER

DAS GESICHT HINTER DER GLASSCHEIBE — DAS ENTTÄUSCHENDE ENDE DER GESCHICHTE ANTOINE DOINELS

ESSAY

L’amour en fuite sei, so François Truffaut, der letzte Film der Antoine-Doinel-Reihe. Antoine scheint nun endlich gefunden zu haben, wonach er lange suchen musste: Sabine, die fünfundzwanzigjährige Schallplattenverkäuferin, könnte die Frau für’s Leben sein. Sie ist keine Intellektuelle wie Colette1, sie hat nichts gemeinsam mit der schönen Abenteurerin Fabienne, der Frau des Schuhladenbesitzers, für den Antoine als Detektiv arbeitete2, sie ist, obschon sie ihr am nächsten steht, auch nicht wie Antoines erste Frau Christine, der es beim ersten Kuss fast schwindlig wurde und die später dann erfahren musste, wie wenig romantisch die Ehe ist3. Schliesslich ist Sabine auch nicht so exotisch und verlockend wie die Japanerin Kyoko4.

Sabine ist kein Mädchen mehr, aber ganz erwachsen ist sie auch noch nicht. Sie ist ein bisschen verspielt und ein bisschen romantisch, sie ist hübsch, hat aber doch nicht so viel Sex, dass ihr auf der Strasse gleich jeder Mann nachgaffen würde. Sie ist nicht zu dumm und auch nicht zu eigenwillig, eine, die zwar weiss, was sie will, die aber auch jederzeit spürt, was sie einem Mann, wenn sie ihn nicht verärgern will, zumuten kann. Sabine würde Samstagnacht in der Diskothek nicht auffallen, könnte aber ebenso bei einem literarischen Geplauder im Strassencafé mithalten. Sabine ist eine ganz gewöhnliche Frau - die Erfüllung einer bürgerlichen Männer-Sehnsucht.

Dass Antoine Doinel, nun schon über dreissig Jahre alt, in seinem letzten Film ausgerechnet zu einer Frau wie Sabine findet, überrascht vorerst. Dem kleinen Jungen aus Les quatre cents coups hätte man eine andere Zukunft gewünscht. Aber er hat sich rasch angepasst an das Leben, gegen das er sich als Kind noch sträubte. Der kleine Ausreisser ist zum anständigen jungen Mann geworden: wenn - in Antoine und Colette - irgendein zugelaufener Gigolo die von ihm verehrte Colette sozusagen vor seinen Augen entführt, läuft er nicht davon, sondern setzt sich mit ihren Eltern vor den Fernseher.

Antoine läuft in den späteren Filmen nicht davon, weil er es nicht mehr aushält, dass man ihn auf eine so gemeine Art kaputtmacht, sondern weil er völlig unfähig ist, sich irgendwelchen Konflikten zu stellen, weil er Angst vor seinen eigenen Gefühlen hat. Früher ist er davongelaufen, weil er seinen starken Gefühlen und Sehnsüchten nachgeben wollte, musste, heute läuft er davon, weil er zu diesen nicht mehr stehen kann.

«Der Film ist rekapitulierend, sein Ende definitiv», sagt François Truffaut5. Der Film zeigt, zum Teil in Ausschnitten aus früheren Filmen, wie Antoine als Schriftsteller scheitert, wie seine Ehe auseinanderfällt, wie er nicht merkt, dass sein Charme gar nicht so betörend wirkt, wie er meint, sondern manchmal einfach lächerlich ist.

Und vor allem zeigt der Film einen Mann, der kaum einmal richtig über sich selber nachdenkt, der sich drückt vor einer Bilanz.

L’amour enfuite, das Ende der Doinel-Geschichte, ist enttäuschend - für einen, der einige Filme Truffauts die schönsten und ergreifendsten findet, die je gedreht wurden, ganz besonders. Francois Truffaut hat aus Antoine Doinel, dessen Darsteller Jean-Pierre Leaud ihm äusserlich immer mehr gleicht, und der vieles gespielt hat, was der Filmemacher selber erlebte, eine Figur gemacht, deren weiteres Leben wirklich nicht mehr interessiert.

Die Dinge, so wie sie sind

1959, als Les quatre cents coups als offizieller französischer Beitrag für das Festival von Cannes ausgewählt wurde, schrieb Jean-Luc Godard:

...die erste Form von Talent im heutigen Kino besteht darin, dem mehr Bedeutung zuzumessen, was vor der Kamera ist, als der Kamera selbst, zunächst die Frage zu beantworten: ‹Warum?›, um dann antworten zu können auf die Frage: ‹Wie?›. Anders gesagt, der Inhalt geht der Form voraus, bedingt sie. Wenn er falsch ist, ist logischerweise auch sie falsch, das heisst, ungeschickt.

Godard sparte auch nicht mit Vorwürfen an die damals bekannten Vertreter des französischen Kinos, an Allegret, Autant-Lara, Delannoy, Duvivier, Labro, Carne und andere (die gleichen, die Truffaut in seinem fünf Jahre früher erschienenen Aufsatz «Eine gewisse Tendenz im französischen Film»6 auch kritisierte): Wir können euch nicht verzeihen, dass ihr nie Mädchen gefilmt habt, so wie wir sie mögen, Jungen, denen wir täglich begegnen, Eltern, wie wir sie verachten oder bewundern, Kinder, die uns überraschen oder gleichgültig lassen, kurz, die Dinge, so wie sie sind.7

Die Filmkritiker der «Cahiers du cinéma», die sich nicht scheuten, in ihren Filmbesprechungen so persönlich zu werden, dass manchmal nur noch Freunde sie verstanden, die in der Verehrung für ihre Väter und Patrons, Hitchcock, Wehes, Renoir, Rossellini, ganz bewusst masslos wurden, drehten die ersten Filme zu einer Zeit, da der internationale Film - und dieser formte weitgehend die damalige Kinolandschaft - nur noch Fliessbandarbeit leistete und Hollywood am Anfang seiner härtesten Krise stand. Über den französischen Film schrieb Truffaut: «... man kann ohne Übertreibung sagen, dass die hundert und ein paar französischen Filme, die jedes Jahr gedreht werden, immer die gleiche Geschichte erzählen.»8 Kommt dazu, dass diese Filme, abgesehen von ein paar «typischen» Kleinigkeiten, auch in einem anderen Land hätten gedreht werden können. Die französischen Regisseure hatten zwar, was Renoir in Amerika so sehr vermisste, den Rotwein und den Brie, in ihren Filmen jedoch war nichts davon zu spüren. Frankreich hatte in ihren Filmen mehr Ähnlichkeiten mit dem im Studio hergestellten Frankreich der amerikanischen Filme als mit dem, das Renoir in seinen Vorkriegsfilmen oder Jacques Becker in einigen seiner Nachkriegsfilme abgebildet hatten.

Nicht nur dem französischen, sondern dem internationalen Film überhaupt waren Phantasie und Ideen ausgegangen. Mit falschen Gefühlen wurden faule Melodramen konstruiert, deren einzige Absicht darin bestand, den Zuschauer für zwei Stunden von seinen alltäglichen Sorgen abzulenken.

Gegen diese Phantasielosigkeit setzte die Nouvelle Vague ihre eigenen Filme. Keine Fliessbandprodukte, sondern Autorenfilme. Persönliche Filme, in denen man Bild für Bild spürte, dass sie gemacht werden mussten, dass ihre Autoren etwas zu sagen und zu zeigen hatten. Herzblut war in diesen Filmen - in Les quatre cents coups besonders viel.

Der Weg ins Studiokino

Die Filme kamen an, bei den Jungen vor allem. Und sie weckten auch grosse Hoffnungen: die Nouvelle Vague, das war für viele so etwas wie ein Wundermittel gegen die Verelendung und die Verdummung des Kinos. Man hat darum viel, zu viel von ihr erwartet. Auch wenn einige Filme der Nouvelle Vague zu den wichtigsten gehören, die seit dem 2. Weltkrieg gedreht wurden, bleibt festzuhalten, dass sie auf die Entwicklung des Films in den sechziger und siebziger Jahren keinen entscheidenden Einfluss hatte. Der Autorenfilm wird heute von jenen Filmemachern, die ein «anderes», gegen die industrialisierte Produktion gerichtetes Kino machen, abgelehnt, weil er zu einem neuen System der Stars und Meister geführt hat. Und der internationale Film beherrscht heute das Kino in einem noch nie dagewesenen Masse.

Die Vertreter der Nouvelle Vague haben sich entweder selber isoliert oder dem internationalen Standard angepasst. Godards konsequente Haltung hat ihn auf einen langen Weg in die Einsamkeit geführt, der in einem Videostudio in Grenoble endete - in «Numéro deux» sieht man ihn allein und müde in seiner Videofabrik sitzen. Rohmer und Rivette haben sich nie besonders darum bemüht, ein breites Publikum zu erreichen, Chabrol rutschte allzu oft in den reinen Kommerz ab und seine Entlarvung des Bürgertums, dem er selber angehört, wurde in den späteren Filmen, einmal abgesehen von Violette Noizière, immer zynischer und bösartiger. Oft schien es, als ob er den Menschen nur noch verachte. Truffaut schliesslich hat seine mehr und mehr zu spürende Hilflosigkeit dem Leben gegenüber dadurch verdrängt, dass er ihm vorwarf, es sei nicht so harmonisch wie der Film und «nicht so gut organisiert, nicht so interessant, nicht so dicht und intensiv wie die Bilder, die wir organisieren.»9 Dabei entwickelte er sich, vor allem nach La nuit americaine, zu einem konventionellen, schon altmodisch zu nennenden Regisseur, der besser ins Hollywood der dreissiger und vierziger Jahre als ins Europa der späten sechziger und frühen siebziger Jahre gepasst hätte. Truffauts - filmischer - Beitrag zu 1968 beschränkte sich auf eine Widmung an Henri Langlois, dem Leiter der Pariser Cinémathèque, die er an den Anfang vom 1968 entstandenen Baisers volés setzte. Der Film beginnt auch mit einem Schwenk auf die Cinémathèque, die sich zu der Zeit gegen staatliche Eingriffe wehren musste.

Die Nouvelle Vague hielt nicht, was von ihr erwartet wurde. Das hängt jedoch nicht nur mit der Arbeit ihrer Autoren zusammen. Denn entscheidend für die Art ihrer Arbeit war auch die Situation der Kinowirtschaft, die sich gegen Ende der sechziger Jahre zu verändern, das heisst zu verbessern begann -ausgelöst durch das Abflauen der Krise Hollywoods und der damit verbundenen, nicht erwarteten, Produktionssteigerung, die in den siebziger Jahren geradezu gigantische Formen annahm. «Der wirtschaftliche Aufschwung des neuen Hollywood lässt sich in das Jahr 1972 zurückdatieren. Zum ersten Mal wieder konnten die meisten grossen Filmgesellschaften positive Geschäftsbilanzen aufweisen und an ihre zahlreichen Aktionäre Gewinne ausschütten; zum ersten Mal wieder stieg auch die Zahl der Zuschauer, die noch ein Jahr zuvor, 1971, mit wöchentlich 16 Millionen Kinobesuchern ihren absoluten Tiefpunkt seit Kriegsende erreicht hatte.» (Peter Figlestahler10.) Man kennt unterdessen die Geschichte dieses «New Hollywood», die Erfolgs-Geschichten von jungen, tüchtigen Männern, die sich mit billigen, rasch heruntergekurbelten, in vielen Fällen von Roger Corman produzierten Filmen die Routine aneigneten und dann zu den gepflegten und gehätschelten Wunderkindern Hollywoods heranwuchsen. Was sie gemacht haben, war von ihnen aus gesehen dasselbe, was die Autoren der Nouvelle Vague gemacht hatten. Cinéma des auteurs à l’americaine.

In den sechziger Jahren gab es neben den grossräumigen Kinos auch kleinere Säle - häufig in den Quartieren - die sich «Cinéma d’art et d’essay» nannten. Ihr Programm umfasste vorwiegend europäische Filme, aus Amerika wurden, wenn sie überhaupt bis nach Europa kamen, eigentlich nur unabhängige, zumeist in New York produzierte Filme gezeigt (Shadows von John Cassavetes). Unter den europäischen Filmen waren auch jene der Nouvelle Vague. Das Publikum dieser Kinos setzte sich grösstenteils aus Studenten und Lehrlingen zusammen. Anfangs der siebziger Jahre verschwanden sie.

Einerseits wurde ihre Arbeit übernommen von den neu geschaffenen, städtischen oder vom Lichtspieltheaterverband unabhängigen, alternativen Spielstellen. Andererseits ging ein Teil der Filme in die Studiokinos (Kinos mit ungefähr 150-200 Plätzen), die im Laufe der siebziger Jahre zu einer Art «anderes Kino» des kommerziellen Filmsystems wurden, vergleichbar der kleinen Kammer eines Stadttheaters. Im Studiokino liefen Filme, die kein grosses Publikum anlockten, weü sie im Unterschied zu den Publikumsmagneten von ihrem Inhalt und ihrer Form her doch zu herausfordernd und provozierend waren. Filme aber, die in einem kleinen Kino die Chance hatten, drei oder vier Wochen zu laufen, die also, obschon es, aus der Sicht der Kinowirtschaft, «schwierige» Filme waren, sowohl für den Kinobesitzer wie für den Verleiher zum Geschäft werden konnten. Die Nouvelle Vague fand in diesen Kinos eine ihr entsprechende Abspielstelle, vor allem Truffaut, Chabrol und vielleicht Rohmer profitierten von ihnen. Godard hingegen fand, ausser bei «Tout va bien», keinen Zugang mehr zu ihnen, seine Filme liefen in den alternativen Spielstellen, stiessen aber in einigen Fällen nicht einmal dort auf starkes Interesse. Das Publikum der Studiokinos war, zuerst wenigstens, ein Kulturpublikum, die Höhepunkte aus dem Studiokino gehörten ebenso zum Pflichtprogramm eines gut informierten Intellektuellen wie der neue Handke oder die Stücke Fernando Arrabals.

Das Studiokino vermochte keine eigene Kinoform zu finden, es fing an, das «grosse Kino» zu kopieren. Nicht mehr Filme wurden angeboten, sondern Namen, Hitparaden ersetzten eine vielseitige Programmation. Dieses Starsystem war eine direkte Folge der schon fast brutalen Art, mit der Hollywood den Zuschauern seine Filme aufdrängte. Neben der Übermacht Hollywoods war die einzige Überlebenschance des Studiokinos von einem gewissen Punkt an wirklich nur noch der Geniekult.

Das Kino, das Geschichten konstruiert

Francois Truffauts Filmographie ist ein deutlicher Ausdruck der eben beschriebenen Entwicklung. Er, dem 1958, ein Jahr vor der Aufführung von Les quatre cents coups die Akkreditierung als Journalist zum Filmfestival in Cannes verweigert wurde, arbeitet heute regelmässig für amerikanische Gesellschaften, er ist gewissermassen eines ihrer kulturellen Aushängeschilder.

Nach Les quatre cents coups drehte er Tirez sur le pianiste. Für viele war dieser Film schon Grund genug, von ihm wieder Abschied zu nehmen, die traurig-ironische Gangster- und Liebesgeschichte passte ihnen nicht ins Bild, das sie sich von Truffaut gemacht hatten. Gerade dieses Bild aber war falsch, Truffaut war nicht der grosse Erneuerer, als der er gefeiert wurde. Wenn man heute seine Aufsätze und Kritiken liest11, überrascht seine Arbeit bis zu La nuit americaine nicht. Sicher, Truffaut wollte unabhängig sein, darum hat er schon 1957, zur Zeit seiner ersten Kurzfilme, die Firma «Les Films du Carosse» gegründet, die bis heute alle seine Filme produzierte oder mitproduzierte. Aber er wollte unabhängig werden, um die Filme zu drehen, die ihm entsprachen. Truffaut hat sich nie politisch engagiert und er hat sich auch nie für eine radikale Veränderung oder, wie Godard eine Zeitlang, gar eine Zerstörung des Kinos eingesetzt. Ganz im Gegenteil, er schwärmte - mehr oder weniger offen - von einem vergangenen Kino, das Geschichten konstruiert und sie nicht auf der Strasse suchen geht. Truffaut hat mehr als einmal gesagt, dass er Dokumentarfilme nicht möge. Analysen, die Distanz schaffen zum behandelten Thema, haben ihn nie interessiert. In einem Gespräch hat Peter Michel Ladiges ihn gefragt, ob die Hotelzimmer-Szene in La sirene du Mississippi, in der die Leuchtschrift «Cinema» ausgerechnet in dem Moment zu sehen ist, wo es zwischen Deneuve und Belmondo zum ersten grossen Krach kommt, nicht auch dazu da sei, um «die Emotionen zu dämpfen, etwas Distanz zu schaffen». Truffaut gibt ihm zur Antwort: «Nein, so etwas mache ich sehr selten.»12

Auch wenn diese Filme keineswegs revolutionär sind: Francois Truffaut hat einige der schönsten Liebesgeschichten des Kinos gemacht (meistens nach literarischen Vorlagen), Filme über die Unmöglichkeit der Liebe, Tirez sur le pianiste, Jules et Jim, La sirene du Mississippi, Les deux anglaises et le continent. 1969 drehte er L’enfant sauvage, der den Berichten des Dr. Itard, der 1798 ein wildes Kind gefunden hat, folgt. Gewidmet ist der Film Jean-Pierre Leaud, dem Darsteller des Antoine Doinel. Truffaut hat mit diesem Film sein Verhältnis zu Leaud, zur Figur also des Doinel, geklärt. Truffaut selber spielt Itard, der den Wolfsjungen in langer, mühsamer und von manchem Misserfolg begleiteten Arbeit zum Menschen erziehen will. Mit schwarz-weissen, ruhigen und einfachen Bildern wird die Arbeit Itards beschrieben. Aber diese Erziehung ist zugleich auch eine Schule des Sehens, der Film eine Abhandlung über die Aufgaben und Möglichkeiten der Kinos. Schon die kleinsten Fortschritte in seiner Arbeit bestärken Itard darin, dass er auf dem richtigen Weg ist. Der Film ist in seiner strengen Schönheit überaus faszinierend, Truffaut legte damit aber auch ein Geständnis ab, das nachdenklich stimmt: es gibt nur die kleinen Veränderungen, wer an etwas anderes glaubt, träumt Utopien nach, die niemals zu verwirklichen sind. Zudem hat sich Truffaut in L’enfant sauvage selber als Lehrer dargestellt, als ein Wissender, dem Zweifel und Resignation zwar nicht fremd sind, der aber, wie sich schlussendlich herausstellt, richtig gehandelt hat. Traurig, wirklich traurig ist nur, dass es einem schwerfällt, ihn in den Filmen, die er seither realisiert hat - abgesehen von Les deux anglaises et le continent - als Lehrer zu akzeptieren.

Ein weiteres Geständnis legte Truffaut im 1972 gedrehten La nuit americaine ab. Der den Stummfilmstars Dorothy und Lilian Gish gewidmete Film ist die Illustration des Vorwurfs an das «unharmonische» und «schlecht organisierte» Leben. Truffaut verfällt hier ganz der Faszination der durch und durch konstruierten Geschichten, der künstlichen Kinowelt. Er demonstriert - als Regisseur Ferrand - seine Unfähigkeit, mit dem Leben etwas anzufangen, Konflikte in der Equipe werden nicht ausgetragen, sondern vom Regisseur über Nacht ins Drehbuch aufgenommen. Damit nähert sich Truffaut seinem Doinel, der sich in der Welt seiner halbwahren Geschichten auch wohler fühlt als im ganz normalen Alltag.

Das Glashaus

Seit La nuit americaine drehte Francois Truffaut fünf Filme. Was schon in ein paar früheren zu spüren war - etwa in La mariée était en noir, Domicile conjugal und Une belle fille comme moi - bestätigte sich in diesen fünf Filmen mit aller Offenheit: man spürt nicht mehr Bild für Bild, dass sie gemacht werden mussten. Das Herzblut ist eingetrocknet. Truffaut interessiert nicht mehr die Frage: «Warum?», sondern vielmehr die Frage: «Wie?». Er ist zum Stilist geworden.

Sicher, L’histoire d’Adele H. ist ein «schönem Film, die Schönheit geht aber aus von diesem neuen, unvergesslichen Gesicht -jenes von Isabelle Adjani - das Truffaut für den Film entdeckte. Um dieses Gesicht herum baut er den Film. Doch Isabelle Adjani hat leider nicht viel mehr als ein schönes Gesicht, ganz bestimmt ist sie keine grosse Schauspielerin. Man nimmt ihr ihre Verzweiflung nicht ab, es scheint, als ob sie sich - wie früher die Stars in Hollywood - vor allem darum bemühe, sich ins richtige Licht zu stellen. So bleibt denn der Film, der immerhin von einer Frau berichtet, die langsam wahnsinnig wird, merkwürdig kühl.

Ähnliches gilt für La chambre verte, in dem Truffaut einmal mehr die Hauptrolle spielt. Die Geschichte des Journalisten Julien Davenne, der nur noch für die Toten lebt, berührt nur kurz. Man hat immer wieder das Gefühl, alles schon einmal gesehen zu haben: Davenne entzieht sich, wie so mancher Held Truffauts, dem Leben und baut sich eine eigene Welt sein grünes Zimmer ist der Roman Doinels, der Lebensbericht des Mannes, der die Frauen liebt (L’homme qui aimait les femmes) - die Erziehung des Wolfsjungen wiederholt sich in der Szene, in der Davenne dem taubstummen Jungen Georges einen Brief in die Zeichensprache der Taubstummen übersetzt, und auch hier schliesslich hat der männliche Held ein gestörtes Verhältnis zu der Frau, die ihn liebt – ein Verhältnis, das man von Tirez sur le pianiste an durch das ganze Werk Truffauts immer wieder findet.

Francois Truffauts Filme gehören heute zu den Spitzenprodukten des Studiokinos - wenn auch nicht zu den finanziell einträglichsten. So uninteressant sie geworden sind, so uninteressant und in seiner gegenwärtigen Form fragwürdig ist auch das Studiokino. Und so wie Truffaut für viele noch immer der bekannteste Vertreter der Nouvelle Vague ist, einer Bewegung also, von der die Legende sagt, dass sie das Kino verändert habe, so zehrt das Studiokino noch immer von seiner einstigen Bedeutung. Aber im Studiokino laufen keine «anderen» Filme mehr, es ist zu einem von der Wirklichkeit ebenso isolierten Raum geworden wie das «grosse» Kino.

In La chambre verte sieht man Truffaut einmal, wie er ein Gespräch in der Redaktion belauscht. Er steht hinter einer Glastür, das Glas löst die Konturen seines Gesichts auf. Trotzdem ist sein traurig-verzweifelter Gesichtsausdruck noch zu erkennen. Es scheint, als ob ihn das Gespräch, das er belauscht, beunruhige. Das ist auch die Situation des Regisseurs Truffaut. Er betrachtet die Welt wie durch ein Glas, er möchte etwas sagen, kann sich aber nicht mehr mitteilen.

Marie-France Pisier in Antoine et Colette, Episode aus L’amour à vingt ans,1961/62.

Delphine Seyrig in Baisers volés, 1968.

Claude Jade in Baisers volés und Domicile conjugal, 1970.

Hiroko Berghauer in Domicile conjugal.

Gespräch von Simon Mizrahi mit F. T., Paris, Januar 1979; deutsch in der Pressemappe der Janus Film und Fernsehen Frankfurt,

F. T.: Line certaine tendance du cinema franpaise, Cahiers du Cinema, No 31, Januar 1954, deutsch in: Der Film, Band 2, Piper-Verlag, München 1964.

Jean-Luc Godard: Mit Les 400 coups vertritt Truffaut Frankreich in Cannes, Arts, Nr. 719, April 1959; deutsch in: Godard Kritiker, Reihe Hanser 83, München 1971.

F. T., Eine gewisse Tendenz, a. a. O.

F. T. in einem nach der Uraufführung von La nuit americaine am 14. Mai 1973 in Cannes gegebenen Interview für Le Monde.

Peter Figlestahler: Zwischen Krise und Boom, der wirtschaftliche Aufschwung Hollywoods; in: New Hollywood, Reihe Film des Hanser-Verlages, München, Wien 1976.

F. T.: Die Filme meines Lebens, Aufsätze und Kritiken, Hanser-Verlag, München, Wien 1976.

Gespräch von Peter Michel Ladiges mit Franpois Truffaut; in: Franpois Truffaut, Reihe Film I des Hanser-Verlages, München 1974.

L’amour en fuite. Frankreich 1978; P: Les Films du Carosse; P’leitung: Marcel Berbert; B: F. T., Marie-France Fsier, Jean Aurel, Suzanne Schiffman; R: F. T.; R’assistenz: Suzanne Schiffman; K: Nestor Almendros; Szenenbild: Jean-Ferre Kohut-Svelko, Pierre Compertz; M: Georges Delerue; T: Michel Laurent; M: Martine Barraque-Curie; D: Jean-Ferre Leaud (Antoine Doinel), Marie-France Pisier (Colette), Claude Jade (Christine), Dani (Liliane), Dorothee (Sabine), Rosy Varte, Marie Henriau, Daniel Mesguich, Julien Bertheau, Jean-Ferre Ducos, Ferre Dios, Alain Olivier u. a. 35 mm, Farbe, 94 Minuten (2725 Meter).

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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