VERENA ZIMMERMANN

DREI MINUTEN IN DER FREMDE

CH-FENSTER

In einem nüchtern-hellen Fabrikraum: Eine Frau sitzt vor einem Stapel grosser Papierbogen. Einen nach dem andern der Bogen hebt sie ab, überfliegt ihn mit den Augen, legt ihn auf einen neuen Stapel rechts von sich. Hier und da kommt ein Bogen auf die linke Seite. Aussortiert, weil ein Fehler darin ist. Es geht schnell. Man spürt, es muss schnell gehen.

Das Bild steht schon eine ganze Weile auf der Leinwand. Die Kamera blickt von hinten auf die Frau. Unbeweglich. Man sieht immer nur den Rücken, die Papierstösse, die Bewegungen des Kopfes, der Arme und Hände.

Mamma: Es ist die Mutter von Nino Jacusso, der in seinem Film Emigration Bilanz zieht, wie er sagt, über zwanzig Jahre Leben im Ausland. Das Leben seiner Eltern: des Vaters, der zuerst in einem französischen Kohlebergwerk gearbeitet hatte, silikosekrank nach Italien zurückkam, wieder auswanderte und in der Schweiz als Knecht, dann als Bauhandlanger in Solothurn Arbeit fand; der Mutter, die in einer Papierfabrik arbeitet und heute, kurz vor der Rückkehr nach Italien, sagt: «Ich kehre zurück, alt und krank. Ich kenne nichts anderes als Fabrik und Zuhause. Ich bin achtzehn Jahre in der Schweiz und kenne kein Vergnügen. Und jetzt bin ich auch noch krank.»

Weil sie krank wurde, hat sie nun eine A rbeit, bei der sie sitzen kann.

Auf der Leinwand ist immer noch das gleiche Bild. Die Hände hasten weiter. Es ist lärmig in diesem Fabrikraum. In den Lärm mischt sich ein Schnulzenschlager. Ein deutscher Sänger singt schmelzend etwas von Liebe und schönem Leben. Fast alle Frauen, die hier arbeiten, sind Italienerinnen.

Ich sehe immer noch die Frau am Sortiertisch. Die Papierstapel vor ihr haben ihre Höhe verändert. Die Frau holt bei jeder Bewegung weit aus. Es muss mühsam sein. Ich, im Kinosessel, merke, dass ich zusehe: einem Film, der nicht mitzureissen braucht, um zu fesseln. Ich beginne, in der Vorstellung die Bewegungen nachzuvollziehen. Es sind keine guten Bewegungen; sie müssen sich dem Format, der Höhe der Stapel anpassen. Ein-, zweimal geht das, aber was bewirken hundert oder tausend «unnatürlicher», den Körper vergewaltigender Bewegungen?

Ich überlege, wie lange die Kamera jetzt schon das Bild festhält.

Die Frau arbeitet weiter. Das Tempo und die abtötende Eintönigkeit machen das zur Schwerarbeit. «Eine reine Frauenarbeit», sagt später ihr Vorgesetzter. Sechzig Frauen und acht Männer arbeiten hier. Die Männer sind an der Schneidemaschine. «Das ist eine Arbeit, die nur Männer ausführen können, weil es ziemlich schwer ist», erklärt der Vorgesetzte noch. Die schweren Stapel vor ihrem Arbeitsplatz laden die Frauen selbst um.

Nach einer langen Zeit teilt eine ins Filmbild eingeblendete Schriftzeile mit, dass Frau Jacusso bisher drei Minuten gearbeitet hat. Die Einstellung bleibt. Noch unterbricht nichts die Bedrückung. Eine zweite Einblendung folgt: Es bleiben noch 477 Minuten bis zum Feierabend. - Die Kamera hat mehr als drei Minuten das gleiche Bild gehalten.

Es war eines der stärksten Bilder an den diesjährigen Solothurner Film tagen, und die drei Minuten haben zu den spannendsten Filmminuten während dieser Woche gehört. Zu den längsten auch. Sie sind gerade deshalb so aufregend. Sie teilen tatsächlich etwas mit, klatschen nicht hastig einen Eindruck mit dem nächsten und übernächsten zu. Sie lassen die festgehaltene Situation spüren, bringen den Zuschauer zur bewussten Kenntnisnahme, zur Konfrontation, weil ihre von keinem Kommentar geraffte Dauer etwas im Kino Ungewohntes ist, also auch Gewohnheiten des Zuschauers zuwiderläuft.

Nach dem Erlebnis der drei langen Minuten erschrickt man über der Vorstellung von vierhundertachtzig solcher Minuten pro Arbeitstag.

Nino Jacusso beginnt mit dieser Einstellung den Bericht über seine Mutter und ihre Arbeit, nach dem doppelsprachigen, italienisch und deutschformulierten Vorspann. Später erzählt die Mutter von früher, die Arbeitskolleginnen schildern ihr Leben, die Arbeit, die nach der Fabrik zu Hause weitergeht. Wie später die Männer, reden sie über die Schweizer, über Schwarzenbach: «Viele gehen von selbst weg deswegen, oder kehren nicht mehr zurück.»

Abends, zu Hause, sitzen die Mutter und der Vater beim Essen. Wie immer vermutlich. Sie steht auf, als er ihr den Teller reicht, weil er vom Topf auf dem Herd noch nachgeschöpft haben möchte.

«II giorno dopo» - «Der Tag danach»: Nino Jacusso begleitet seinen Vater mit der Kamera auf dem Weg zur Arbeit. Der Vaterfährt mit dem Velo zu einem Neubau. Auch hier wird wieder Zeit miterlebbar, wenn auch die bewegte Situation der Fahrt nicht vergleichbar ist mit der ersten beschriebenen Szene.

Im Ganzen ist das Leben für den Vater anders als für die Mutter: Seine Arbeit ist abwechslungsreicher, bringt Resultate, an denen Erfolg sichtbar wird: wenn eine Wand schön verputzt ist, wenn schwieriges Material exakt verarbeitet wird. Man spürt, auch da wird mit der Zeit gerechnet, geht der grösste Teil des Gewinns in die Tasche eines andern. Aber man hat auch das Gefühl, dass bei den Männern auf dem Bau mehr Selbstbewusstsein, mehr Selbstschätzung als für die Fabrikfrauen möglich ist.

Etwas Ähnliches zeichnet sich abends im Wirtshaus ab, wo die Männer über die Schweiz reden, über die Dankbarkeit, hier sein zu können, auch wenn sie wissen, dass sie hier vor allem aus Interesse, nicht aus Rücksicht leben «dürfen». Sie wissen auch: «Das letzte Wort haben immer sie, die Schweizer».

Soviel auch bis zum Schluss noch berichtet, erzählt und gezeigt wird im Film - vielschichtig und aus unterschiedlichen Blickwinkeln -, in der Erinnerung fügt sich alles in die langen drei Minuten, so, als hätte man es während dieser lang erlebten und hier lang beschriebenen Einstellung in der Papierfabrik erfahren. Und zu diesem Bild fügen sich andere Bilder, auch der Mutter: die stehenden Bilder ganz am Schluss, nach den Szenen von der Gesprächsrunde der Männer. Sie wirken wie ein stummer Kommentar: die Mutter allein beim Abwaschen.

Es sind ungewohnte Mutterbilder, keine rührend-liebliche Albumbilder. Aber wahr sind sie und voller Zärtlichkeit. Von dieser Zärtlichkeit lebt der Film ganz wesentlich, und gerade aus seiner persönlichen Perspektive erhält das sicher für viele Emigranten-Leben Typische seine Kraft und Gültigkeit.

Emigration. P: HFF, München; R, Schnitt, Ton: Nino Jacusso; K: Thorsten Näter. 16 mm, sw, 90 Minuten

(Nino Jacusso bereitet einen zweiten Teil zu seinem Film, die Rückkehr der Eltern, vor)

Verena Zimmermann
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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