HANS M. EICHENLAUB

WURZELN WACHSEN WEITER — GOTTLIEBS HEIMAT VON BRUNO MOLL

CH-FENSTER

«Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ...», und «Ja, wir müssen den Amerikanern schon dankbar sein, dass sie uns tagtäglich beschützen!» Zwei Statements aus dem Off, während die Kamera über den Tisch einer Festgesellschaft schwenkt und schliesslich zwei alte Leute ins Bild bringt: Gottlieb Hoser und Marie von Arx. Dann eine kurze, etwas unbeholfene Festrede zu Ehren Gottliebs, des 90-jährigen Jubilars, dann «Happy Birthday to you», gespielt von der Musikgesellschaft Obergösgen. Mit diesen Aufnahmen aus dem Wirtschaftsraum des Obergösger Schützenhauses beginnt der Film Gottliebs Heimat - Skizzen einer Auswanderung, der Erstling des Oltner Fotografen und Kameraassistenten Bruno Moll.

Gottlieb Hoser wurde 1888 geboren. Als 20-jähriger wanderte er nach Amerika aus; weniger, weil er vom «Land der unbegrenzten Möglichkeiten» träumte: Seine Emigration hatte handfestere Gründe. Aus einfachen Verhältnissen stammend, sah er in seiner Heimat keine Möglichkeit, seinen Traumberuf Landwirt zu ergreifen. So arbeitete er, wie damals viele aus der Gegend um Schönenwerd, in der Fabrik, was gleichbedeutend war mit der Firma Bally. Hoser erzählt im Film (Transkription aus dem Dialekt durch Bruno Moll): «Als ich aus der Schule kam, musste ich in die Fabrik. Das gefiel mir vom ersten Tag an nicht. Bauern konnte ich nicht, mein Vater hatte nicht genügend Geld, waren wir doch vier Knaben und ein Mädchen. Alle mussten in die Fabrik. Da ging ich auch in die Fabrik, aber mit Schmerzen.» Dann machte 1908 der Streik bei Bally seinem ungeliebten Arbeiterdasein ein Ende. Hoser erinnert sich: «Ich weiss nicht mehr, es ging etwas falsch mit einem Arbeiter. Dann begannen sie zu streiken. Dann hiess es halt, wir seien jetzt Sozialdemokraten, jetzt werde gestreikt. Aber es ging nicht lange, denn den Leuten ging das Geld aus. Wir mussten wieder an die Arbeit.» Doch Gottlieb Hoser besann sich anders: «Ich aber dachte, nein, ich gehe nicht mehr zur Arbeit und blieb zu Hause. Ich habe mich dann gefragt, was willst du machen? Knecht sein? Das zahlt nicht. Ein Handwerk erlernen konnte ich auch nicht, da der Vater zuwenig Geld hatte. Ich studierte, was ich machen sollte. Dann dachte ich mir: Ich gehe nach Amerika! Da haben alle Leute gelacht: der gehtn ach Amerika, das kostet Geld, und der hat ja keins. Aber ich hatte schon Geld.»

So brach Gottlieb Hoser am 8. Oktober 1908 an Bord eines französischen Dampfers zu neuen Ufern auf. Nach einer Woche traf er in New York ein. Sogleich begann er an der Eastside als Eisverkäufer. «Aber», so Hoser, «viel Geld war da nicht zu machen. Ich verdiente nur einen Dollar im Tag. Bei vier Dollars Kostgeld die Woche bleibt nicht viel. Ich habe dann gedacht: Ich muss aufhören. So geht das nicht weiter, ich will nicht in der Stadt leben. Das war gerade so gut wie bei Bally. Man konnte ja nirgends hin, nirgends hinausschauen.» So fuhr er 1909 nach New Jersey, wo er drei Jahre lang auf einer Pfirsichplantage arbeitete. Dann kam er durch einen eher makaberen Umstand zu einer etwas heruntergewirtschafteten Farm. Gottlieb Hoser war tüchtig, und er hatte Glück. Er wurde in beiden Kriegen nicht zur Armee eingezogen, er brachte es zu etwas. 1946 setzte er sich, 58-jährig, zur Ruhe, seinen drei Söhnen je eine Farm überlassend. Noch im selben Jahr besuchte er mit seiner Frau zum erstenmal die Schweiz. 1947 kehrten die beiden nach Amerika zurück und bezogen in Florida ein Haus. Dort erlebte Gottlieb Hoser aus nächster Nähe die ersten Raketenstarts von Cape Canaveral. Nachdem seine Frau 1973 verstorben war, kam Gottlieb 1975 erneut in die Schweiz. In Obergösgen traf er auf Marie von Arx, seine Jugendfreundin. Nach einigem Hin und Her nahm er sie mit nach Florida. Doch als der auch schon über 80-jährigen Frau das Heimweh unerträglich wurde, zogen die beiden zurück nach Obergösgen. Gottlieb erklärt im Film: «Und dann ist’s halt, eins, zwei, drei - ich weiss selber nicht, wie’s gegangen ist - sind wir beieinandergeblieben.» Mitte Januar feierte Gottlieb Hoser seinen 90. Geburtstag, im Mai ist er in Amerika gestorben. Die letzte Einstellung von Gottliebs Heimat - Skizzen einer Auswanderung werde ich nicht mehr vergessen: Vor einem kleinen Bauernhaus sitzt eine alte Frau, Marie von Arx, auf einem Stuhl an der Sonne. Daneben steht ein zweiter, leerer Stuhl. Dann kommt Gottlieb von einem Spaziergang zurück. Er trägt einen breitkrempigen Hut und geht am Stock. Er nähert sich den beiden Stühlen, rückt den leeren, bevor er sich setzt, etwas näher, und dann beginnen die beiden miteinander zu plaudern. Dieses Schlussbild strahlt, allein durch Gesten und Blicke, eine packende Harmonie aus, vielleicht auch das, was wir unzureichend mit «Glück» bezeichnen.

Den Ausgangspunkt zu Bruno Molls erstem Film bildete eine einstündige Radiosendung, in der Gottlieb Hoser aus seinem abwechslungsreichen Leben erzählt. Moll begann sich für diesen alten Mann zu interessieren, der da in derselben Gegend lebte wie er selbst Er besuchte Gottlieb Hoser und lernte auch Marie von Arx kennen. Er ergänzte das Radiomaterial mit eigenen Interviews mit Gottlieb und, nach dessen Tod, vor allem auch mit Marie von Arx. Noch bevor die Finanzierung des Films sichergestellt war, filmte Moll beim Geburtstagsfest und ebenso Gottlieb bei einem längeren Spaziergang. Zum Glück, denn beim eigentlichen Drehbeginn lebte Gottlieb nicht mehr. So war Moll gezwungen, zu seinen Tönen Bilder zu suchen, die Äusserungen der beiden zu illustrieren. Er hat zu dieser so starken Geschichte auch starke Bilder gefunden. In New Jersey etwa, wo ihn einer der Hoser-Söhne zu den Ruinen von Gottliebs erster Farm führte, in den unheimlichen Strassenschluchten New Yorks, aber auch in der Umgebung von Gösgen, der alten und neuen Heimat von Gottlieb Hoser. Als ganz besonderer «Fund» erwies sich Marie von Arx, die auf faszinierende Art und Weise und mit einem bewundernswerten Erinnerungsvermögen erzählt und so die Aussagen Gottliebs ergänzt und zum Teil auch korrigiert und relativiert. Da wird deutlich, dass Gottlieb 1908 nicht nur der Fabrik wegen weggegangen ist. Da waren auch seine Gefühle für die damalige Marie Näf mit im Spiel, auch wenn er sich in seinen Erinnerungen herauszureden versucht: «Heiraten! Da bist du verkauft, dann musst du dein Lebtag in die Fabrik!»

Bruno Moll tritt Gottlieb Hoser mit fast bedingungslosem Respekt entgegen. Es ist vielleicht der natürliche Respekt des 30-jährigen, der seine 30 Jahre diesen 90 Jahren gegenübersieht. Eine imposante Vorstellung: Hoser kam in Amerika an, als das Ford-T-Modell die Massen zu erobern begann, er erlebte in Florida die ersten Weltraumstarts, und er sah schliesslich vor seiner Nase den Gösger Kühlturm in den Himmel wachsen. Doch dieser Respekt hat Moll nicht die Sicht verdeckt, im Gegenteil, er hat ihn konstruktiv umgesetzt, in die Liebe und die Zärtlichkeit, mit denen er den beiden alten Menschen begegnet.

Gottliebs Heimat - Skizzen einer Auswanderung. R, B, P: Bruno Moll; K: Edwin Horak; Ton: Florian Eidenbenz; Schnitt: Vendula Roudnicka. 16 mm, sw und Farbe, 52 Minuten

Hans M. Eichenlaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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