BERNHARD GIGER

DER ENGE TROTZEN - HIER UND JETZT — FAHREN ODER BLEIBEN? SCHWEIZER FILME ANTWORTEN

CH-FENSTER

Auf der Kleinen Schanze in Bern steht das Denkmal von Oskar Bider. Er hat am 13. Juli 1913 auf einem Flug von Bern nach Mailand als erster die Alpen überflogen. Die von Hermann Haller entworfene Statue schwingt sich kühn in die Luft, so, als ob sie gleich vom Sockel wegfliegen würde gegen die Alpen, die an Föhntagen zum Greifen nah liegen. Auf der Kleinen Schanze hatte ich die ersten Liebeserlebnisse mit meiner Schulfreundin. Später trat ich dort in einem Strassen-theater auf, schrie Texte von Wolf Biermann in ein Megafon: «das Land ist still.. . noch.»

Einer von denen, die bei diesem Strassentheater mitmachten, Pierre, ist heute Stadtrat, übersetzt Aufsätze und Gedichte von Timothy Leary und schreibt selber kurze Geschichten. Ich weiss nicht, wie aktiv er wirklich ist, und ich weiss nicht, wie viel seine Aktivitäten bewirken, aber das interessiert mich eigentlich auch nicht. Mich beeindruckt hingegen, dass er die Theorien von damals umzusetzen versuchte, dass er das, obschon es oft mühsam ist, immer noch tut. Er hat nicht so rasch aufgegeben wie ich. Ein anderer, Max, macht noch immer Theater, ich habe ihn im BuSiPo-Film Preis der Angst wiedergesehen. Beide, Pierre und Max, haben weitergeführt, was wir damals angefangen hatten. Sie fanden, jeder auf seine Art, eine «Heimat». Verglichen mit ihnen bin ich ein Heimatloser.

Ich schreibe Artikel für liberale Blätter und bin beleidigt, wenn mich jemand fragt, ob ich das politisch verantworten könne. Ich unterschreibe linke Initiativen und trinke Pommery. Ich möchte verreisen und bin immer noch da. Ein Unbehagen plagt mich, Sehnsucht erfasst mich, aber ich bin noch nicht einmal zum Bahnhof gegangen. Oskar Bider, o bitte, nimm mich mit.

Leben in der Schweiz

Am 18. Februar 1979 wurde in der Schweiz die Atomschutzinitiative mit 965271 zu 919923 Stimmen abgelehnt Nach der Abstimmung wurde in Zeitungskommentaren festgehalten, dass die hohe Zahl der Ja-Stimmen mehr sei als nur ein Achtungserfolg für die Initiative, dass die Meinung der Minderheit nicht einfach unter den Tisch gewischt werden dürfe, sondern in zukünftigen Diskussionen über die Kernenergie berücksichtigt werden müsse. Das wird bestimmt auch gemacht werden; man wird denen, die sich gegen den Bau von Atomkraftwerken wehren, nicht mit der gleichen kaltschnäutzigen Überheblichkeit begegnen können, wie das noch vor der Abstimmung da und dort gemacht wurde. Bundesrat Ritschard wird, wann immer er kann, die sorgenvolle Miene eines Mannes aufsetzen, der lange und intensiv in sich gehorcht hat, um einen bedeutenden Entschluss zu fassen, und viel Verständnis aufbringen für die Zweifel und Ängste der Atomkraftwerk-Gegner.

Aber dieses Verständnis hilft denen, für die es aufgebracht wird, nicht weiter, sie bleiben eine Minderheit, so wie sie es früher schon waren, bei der Waffenausfuhrverbotsinitiative etwa oder bei der Initiative über straffreien Schwangerschaftsabbruch. Volksinitiativen, die tiefgreifende Veränderungen anstreben, haben in der Schweiz keine Chance. Man ist sich in den meisten Fällen einig darüber, dass ihre Anliegen zwar durchaus ernsthaft diskutiert werden müssten, dass aber die Forderungen der Initianten letztlich doch zu extrem seien. Und extrem sein heisst, sich unschweizerisch verhalten. Ob ein Vorschlag zur Veränderung bestehender Gesetze oder zur Einführung neuer Gesetze tauglich ist oder nicht, wird lange und gründlich untersucht, wenn’s sein muss solange, bis er wieder veraltet ist.

In der Schweiz gibt man sich am liebsten mit dem zufrieden, was ist. Nicht ganz zu Unrecht, denn es lässt sich hier, auf den ersten Blick wenigstens, recht gut leben. Und wer bereit ist, dann und wann ein Auge zuzudrücken, kann sich’s hier gemütlich machen. Wer aber dann, wenn andere ein Auge zudrücken, nicht wegschauen kann oder will, dem vergeht nach und nach die Lust auf dieses gute Leben; er verliert mit der Zeit die Hoffnung darauf, dass sich hier je etwas ändern werde.

Die Schweiz hat sich zwar schon verändert. Die Helden aus den alten Schweizer Filmen wirken heute lächerlich oder vermögen höchstens noch ein paar nostalgische Gefühle für die schöne, von der bösen Welt abgeschnittene Heimat zu wecken. Die Schweiz ist zum «modernen Kleinstaat» geworden. Aber diese Wandlung hat die Probleme, die die Schweiz mit sich selber hat, nicht gelöst, die Veränderungen haben nur an der Oberfläche stattgefunden. Die Schweiz will heute international etwas zu sagen haben, lässt sich aber von ihren internationalen Partnern kaum etwas sagen. Die Schweiz will Handel treiben mit der Welt und entwickelt doch immer wieder einen eigenartigen Stolz darauf, dass sie nicht ganz zur Welt gehört.

In einem der fünf Kurzfilme, die Henry Brandt 1964 für die Landesausstellung in Lausanne gedreht hat, in La course au bonheur, sieht man einen kleinen Jungen im Fond eines Mittelklassewagens sitzen. Am Steuer sitzt der Vater, neben ihm die Mutter, der Wagen fährt über eine breit angelegte Strasse. Aus den Augen des Jungen ist Angst zu lesen und die Frage: was macht ihr mit mir? Er begreift nicht, dass der Sonntagsausflug im neuen Wagen für die Eltern ein Ereignis ist, der Beweis, dass es ihnen gut geht. Die Eltern haben auch Angst, das kann der Junge jedoch nicht wissen, so, wie er nicht wissen kann, dass ihre Angst eine andere ist als die seine, jene nämlich, den Anforderungen der Leistungsgesellschaft nicht zu genügen. Und er kann auch nicht wissen, dass die Eltern ihre Angst, überhaupt die Gefühle, verdrängt haben, dass eine Waschmaschine, ein Fernseher und ein neuer Wagen für sie wichtiger geworden sind als die Gefühle.

Im Gösgen-Film sieht man, wie die Polizei brutal gegen die Demonstranten vorgeht. Um sich vor dem Tränengas zu schützen, binden sich die Demonstranten Tücher vor ihre Gesichter. Auch die Polizisten haben die Gesichter verdeckt, mit Helmen und Gasmasken. Weil sie keine andere Möglichkeit mehr sah, ihre Anliegen vorzubringen, ging die Volksbewegung gegen Atomkraftwerke zur direkten, gewaltfreien Aktion über, wurde aber mit Tränengas und Knüppeln zurückgedrängt und dann auch noch beschuldigt, die demokratischen Spielregeln verletzt zu haben.

Unter den Demonstranten sind viele Jugendliche, die noch keine zwanzig Jahre alt sind. Am 18. Februar hat sich die Mehrheit der Stimmbürger nicht nur über die Forderungen dieser Jugendlichen hinweggesetzt und ihnen damit die Zukunft verplant, sie hat ihnen darüber hinaus auch das Recht abgesprochen, zukünftig selber zu stimmen (die Herabsetzung des Stimm- und Wahlrechtsalters von 20 auf 18 Jahre wurde mit 964105 zu 933676 Stimmen abgelehnt). Ein 18-jähriger muss zwar einmal mit den Atomkraftwerken leben, damit er aber zu dieser Art Leben etwas sagen darf, muss er erst 20 Jahre alt werden.

Auf den ersten Blick sehen die Häuser der Siedlung in Kurt Gloors Die grünen Kinder aus, wie weiss angestrichene Kisten mit fein säuberlich herausgesägten Löchern, die jemand dort im Grünen stehengelassen hat. Die Häuser passen nicht in die Landschaft. Aber darum geht es gar nicht, denn wichtig ist nur, dass sie draussen vor der unbewohnbar gewordenen Stadt stehen, dort, wo man noch atmen kann, ohne gleich Kopfweh zu bekommen. Weiter wollten die Erbauer der Siedlung, die damit Geld machten, nicht denken, weiter haben die Bewohner, als sie dort hinauszogen, nicht gedacht. Freiwillig gingen sie in die Isolationshaft.

Damit die Bewohner der Siedlung von ihrem Arbeitsplatz in der Stadt möglichst rasch wieder hinaus ins Grüne kommen, und damit die Gehetzten, für welche Zeit Geld ist, nichts verlieren, baute man Strassen quer durch Wohnquartiere. Express-Strassen nennt man sie, diese Betonbänder, die Nachbarn voneinander trennten und Kindern die letzten Spielplätze raubten. Jene, vor deren Wohn- und Schlafzimmerfenster die Strassen gebaut wurden, hat man nicht gefragt, ob ihnen das gefällt. Wegen der paar Leute, die dadurch dem Lärm und den Abgasen ausgeliefert werden, wollte man nicht auf die Strassen verzichten. In Der Bucheggplatz z. B. von Sebastian C. Schroeder beschreiben die Überfahrenen die neuen, beinahe unerträglichen Lebensbedingungen. Und in Hans-Ulrich Schlumpfs Beton-Fluss sieht man, wie die Betongebilde die letzten Reste der Natur verdecken.

In Henry Brandt’s Le dernier printemps erzählt eine alte Frau ihre Lebensgeschichte. Dann setzt sie einen nicht weniger alten Grammophon in Betrieb, der ihr liebstes Musikstück spielt. Sie lässt noch einmal die Vergangenheit aufleben, eine Zeit, in der die Menschen zwar auch ihre Sorgen hatten, in der sie aber noch mehr Zeit fanden, sich diesen zu widmen. Die Bilder, die dieser Szene folgen, zeigen, wo die Frau heute lebt: in einem riesigen, hässlichen Wohnblock. Es ist, als wäre sie dort lebendig eingemauert worden.

«Einmauern» will man auch den alten Schuhmacher in Kurt Gloors Die plötzliche Einsamkeit des Konrad Steiner. Er soll in ein Altersheim gehen. Dass es ihm, der viele Jahre in der Altstadt lebte und arbeitete, bei dem Gedanken, weggehen zu müssen, beinahe das Herz zerreisst, interessiert die, die ihn auf die Strasse stellen, nicht. Nachdem Steiner in seiner Werkstatt vor dem Briefträger die Kündigung gelesen hat, schaut er den Überbringer der traurigen Nachricht lange an. In seinen Augen ist die Frage zu lesen: was habt ihr mit mir gemacht?

Was mache ich mit mir?

Was bleibt, wenn die Hoffnung darauf, dass sich hier noch etwas verändern werde, aufgebraucht ist, sind die Sehnsucht nach der Fremde oder die Verzweiflung. In Michel Soutters erstem Spielfilm La lune avec les dents tobt sich William, der Herumtreiber ohne Ziel, in seiner Küche aus. Er zerschlägt alles, was ihm in die Nähe kommt. Und in Roman Hollensteins Sisifus zerstört ein junger Mann sein Zimmer mit einer Pistole. Es ist völlig sinnlos, was er macht; seine Schiesserei schadet nicht einmal der Gesellschaft, die ihn zu dieser Aktion trieb. Die Zerstörung aber erleichtert ihn, es ist die einzige Betätigung, die ihn noch befriedigt.

Mathieu in Michel Soutters Haschisch hingegen überkommt das Reisefieber. Nichts hält ihn mehr zurück. Wenn er nach Hause kommt, steht das Essen, das ihm seine Mutter zubereitet hat, schon auf dem Küchentisch. Mutter und Sohn sitzen sich dann gegenüber und haben sich nichts mehr zu sagen. Die Mutter stellt Fragen, die der Sohn nicht beantwortet - der Sohn macht giftige Bemerkungen, auf die die Mutter kaum reagiert. Mathieu ist Schauspieler, hat aber nichts zu tun, weil die Darstellerin der weiblichen Hauptrolle des nächsten Stückes noch nicht eingetroffen ist. Er schreit den Leiter des Theaters an und droht wegzufahren, wenn die Proben nicht bald beginnen würden. Der Leiter aber lässt sich von seinen Drohungen nicht beeindrucken, er studiert das Modell eines Bühnenbildes. Später trifft Mathieu eine Malerin. Er weiss auch bei ihr nicht recht, was er sagen soll, er hat so genug von seiner Umwelt, dass er nicht mehr hören und nicht mehr sehen kann: vor einem Bild der Malerin sitzend, fragt er sie, was sie mache, und nachdem sie ihm gesagt hat, sie sei Malerin, fragt er sie, was sie male. Der Schrei eines anatolischen Hirten, den er auf einem Tonband im Radiostudio hört, tönt für ihn so verlockend, dass er einen Freund dazu überredet, mit ihm zusammen wegzufahren. Mathieu fährt dann doch nicht, er verliebt sich in die Hauptdarstellerin - sie kommt von Paris, von «draussen» -und lernt wieder, das Leben zu gemessen. Aber die Pariserin bleibt, obschon er sie darum bittet, nicht bei ihm. Am Schluss ist Mathieu allein; der Ekel vor seiner Umwelt und vor seiner Unfähigkeit, in dieser Umwelt irgendetwas zu machen, wird ihn wieder erfassen. Er hat das Zeichen von «draussen», das ihm durch die Schauspielerin überbracht wurde, nicht verstanden. Er ist zu sehr nur mit sich selber beschäftigt.

Auch Thomas in Markus P. Nesters Ballonbremser bereitet eine Reise vor. Mit dem Lachen eines kleinen Bengels, der soeben eine Scheibe eingeschlagen hat, kauft er am Bahnhof eine Fahrkarte nach Marseille. Er will nach Mexiko. Schon am nächsten Schalter aber erfährt er, dass es hierfür ein Visum brauche. Das Bild zeigt ihn dabei in Grossaufnahme, sein Gesicht wird zerschnitten von den Stäben der Schalterabschrankung. Er lacht nicht mehr, er begreift, dass er nicht so leicht flüchten kann. Mit seiner Freundin, die von den Reiseplänen nichts wusste, mietet er eine Wohnung in einem Neubau, und die Stelle, die er vorher trotzig abgelehnt hatte, nimmt er dann doch an.

Alfred R. im gleichnamigen Film von Georg Radanowicz ist weit herumgekommen, er ist aber auch immer wieder zurückgekehrt, weil er scheiterte, weil er nicht fand, was er suchte. Der Film beschreibt den letzten Tag in seinem Leben. Man sieht ihn erwachen, aufstehen, baden, Kaffee kochen -mit einer beunruhigenden Ruhe erledigt er das alles. Dann räumt er sein Zimmer auf, füllt Abfallsäcke mit all den Sachen, die sich die Jahre durch angesammelt haben - er wirft sein Leben weg - und bereitet sich auf sein Ende vor. Die Entschlossenheit, mit der er vorgeht, fehlte ihm früher.

Am Morgen in der Badewanne versucht Alfred R., möglichst lange unter Wasser zu bleiben. Er bleibt so lange unten, bis die Oberfläche des Badewassers spiegelglatt ist, dann taucht er erschöpft wieder auf. Das hat er im Leben auch versucht, aber der Mensch ist kein Fisch, er muss atmen können. Alfred R. wollte das Unmögliche, weil er mit dem Möglichen nicht richtig fertig geworden ist.

Françoise und Vincent in Alain Tanners Le retour d’Afrique bleiben, wie Mathieu und Thomas, auch in der Schweiz. Anstatt nach Afrika zu gehen, wollen sie einen Landesverräter auf die Welt stellen, in einer Neubauwohnung, ständig gestört vom Lärm der Flugzeuge. Einmal sieht man Francoise aufschreien, weil schon wieder ein Flugzeug über sie hinwegbraust Sie schreit, aber sie bleibt. Sie bleibt, weil sie will, dass man hier eines Tages nicht mehr schreien muss.

Entdeckung der anderen Schweiz

Fahren und Bleiben, damit hat sich der neue Schweizer Film noch und noch auseinandergesetzt. Wie ein roter Faden zieht sich die Frage, ob man bleiben oder ob man wegfahren soll, wie man bleiben oder wohin man fahren soll, durch die Geschichte des neuen Schweizer Films, von Henry Brandts Les nomades du soleil bis zu Yves Yersins Les petites fugues. Die Filmemacher waren gleich doppelt konfrontiert mit dieser Frage: einmal als Schweizer, die die Enge und die Kälte manchmal kaum mehr ertrugen, und dann als Filmemacher, die zeitweise überhaupt keine Möglichkeit mehr sahen, hier zu arbeiten. Die Filme, die diese Frage behandeln, lassen sich in drei Gruppen aufteilen.

In der ersten Gruppe sind jene Filme vereinigt, die von Reiseplänen und Reisen berichten, vom Fahrenwollen und vom Fahren. Unter diesen Filmen sind jene, die oben schon erwähnt wurden. Ergänzend müssten hier noch erwähnt werden: Celui qui dit non von Yves Yersin (eine Episode aus Swissmade), Sebastian C. Schroeders Südseereise (s. CINEMA 2/78), Elisabeth Gujers Stilleben, Eiskalte Vögel von Urs Egger und Horizonville von Alain Klarer (für alle drei Filme, s. CINEMA 4/78). Celui qui dit non ist eines der wenigen Beispiele, wo einer wirklich jahrelang weg war, in der Dritten Welt, und nach seiner Rückkehr feststellen muss, dass sich hier überhaupt nichts verändert hat. Die anderen Filme beschreiben eine Sehnsucht, die sich nicht erfüllt, die sich auflöst in der Resignation. Sie sind Illustrationen zum Boris-Vian-Zitat vom Schweizer, der zum Bahnhofgeht und nicht abreist.

In die zweite Gruppe gehören die Filme, die im Ausland für die Schweiz gedreht wurden, die «Welt» in die Enge brachten: Les nomades du soleil von Henri Brandt, gedreht in der nigerianischen Sahelzone, Nice Time von Alain Tanner und Claude Goretta, gedreht in London, Biladi von Francis Reusser, ein Bericht über die palästinensischen Freiheitskämpfer, und zwei Filme von Peter von Gunten, Bananera Libertad und El grito del pueblo, gedreht in Paraguay, Peru und Guatemala. In El grito del pueblo sieht man in einer langen Einstellung einen Flötenspieler am Wegrand sitzen, vor einer kargen, weiten Landschaft. Die Töne seiner Flöte erinnern an den Schrei des anatolischen Hirten in Haschisch, sie wecken eine Sehnsucht. Aber diese Sehnsucht ist anders als die von Mathieu, weil sie auch eine Herausforderung an das eigene schlechte Gewissen ist, dass man hier lebt, in einem Land, das an der Ungerechtigkeit und der Unterdrückung dort drüben nicht unschuldig ist. Haschisch bestätigt letztlich nur die eigene Resignation, in El grito del pueblo hingegen lernt man, dass man, wenn man will, tatsächlich mithelfen kann, etwas zu verändern.

Die Filme der dritten, grössten Gruppe haben vorerst eigentlich nichts zu tun mit dem Thema. Die Filme dieser Gruppe geben den Sprachlosen im eigenen Land eine Stimme, den Bergbauern, den Behinderten, den Gefangenen, den Alten; sie geben Bild und Ton frei für eine «andere Schweiz».

Ist es ein Zufall, dass in der Schweiz die Filmemacher sich gerade den Minderheiten zuwandten und zwar in einem Masse, wie es sonst in keinem anderen Land zu finden ist? Kaum - denn wer sonst sollte die paar noch vorhandenen Hoffnungen stärken, wenn nicht diese Minderheiten? Die Filmemacher haben gemacht, was Francoise und Vincent in Le retour d’Afrique auch machen. Sie sind geblieben – nicht weil sie resigniert sind und sich ewig im Kreise drehen, sondern weil sie eingesehen haben, dass eine Abreise nicht viel ändern würde, weder für sie noch für das Land, dem sie den Rücken zukehren. Sie wollen nicht, wie der Neinsager im Film von Yves Yersin, nach Jahren zurückkommen und in der Kälte erwachen. Sie wissen, dass sie an Veränderungen nur hier und jetzt arbeiten, dass sie der Enge nur hier und jetzt trotzen können.

Markus Imhoofs Spielfilme Fluchtgefahr und Tauwetter sind Berichte über die unerträgliche Enge; Ein Streik ist keine Sonntagsschule dokumentiert das «internationale» Denken von ausländischen und einheimischen Arbeitern, die die Vorurteile, die sie sonst trennen, abbauen und sich zusammen-schliessen gegen die Fabrikherren; in Freut euch des Lebens demonstriert der Behinderte Mike auf einer Velofahrt über eine Landstrasse, was für ein befreiender Rausch die Freiheit sein kann; in Kleine Freiheit kommen jene zu Wort, die sich -erfolglos zwar - gegen den Beton-Fluss wehren.

Oskar Bider hat mich nicht mitgenommen. Ich sitze in meinem Korbstuhl, rauche Zigarette nach Zigarette und schaue zu, wie sich der Aschenbecher langsam füllt. Immerhin weiss ich nun schon soviel: was ich durch das Fenster des New Yorker Chelsea-Hotels sehe, ist nicht weniger trostlos als das, was ich durch das Fenster meiner Wohnung in der Berner Lorraine sehe. Und ich weiss nun auch, dass eine Veränderung bei mir selber beginnen muss, hier und jetzt. Aber ein Landesverräter bin ich, auch wenn ich weiss, warum ich mich hier nicht wohl fühle, deswegen noch lange nicht.

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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