HANS M. EICHENLAUB / CARLOS SAURA

IM LEBEN IST ALLES VERMISCHT...

ESSAY

Beim anschliessenden Interview handelt es sich um eine Montage aus einem Briefwechsel zwischen Carlos Saura und Hans M. Eichenlaub und Passagen aus ergänzenden Gesprächen.

Ist es Ihrer Meinung nach möglich, heute von einem «neuen spanischen Film» zu sprechen?

Saura: Im Augenblick sehe ich keine zusammenhängende und erneuernde Bewegung, doch es kann sein, dass es einmal soweit sein wird. Ich glaube eher an einige Individuen, an einige Filmemacher, die ihr Werk nun in einem Klima grösserer Freiheit realisieren können. Einige Werke der letzten Zeit könnten eine gewisse Erneuerung andeuten, eine grössere Vitalität und Ungeniertheit. Es wäre schön, denken zu können, dass dies die Basis sei für jenen «neuen spanischen Film», den alle sich wünschen. Ich muss etwas ausholen: Es wäre allzu leicht, zu sagen, dass mit dem Tode Francos der spanische Film sich radikal geändert habe. Ich glaube, dass während des Franquismus sehr wertvolle Werke entstanden sind. Wir dürfen jene nicht vergessen — von Berlanga1 bis Ferreri2, vorbei an Luis Bunuel oder Victor Erice3 zum Beispiel, und selbstverständlich könnte ich mich auch und mindestens ein halbes Dutzend Gefährten einschliessen —, die ein wohl zu schätzendes Werk vollendet haben. Dazu kommen einige Realisatoren der letzten Generation, die ihre ersten Werke während der Zeit Francos verwirklicht haben, ich denke an Chávarri4, Ricardo Franco5, Basilio Patino6... Die Dinge entstehen nicht aus dem Nichts. Jetzt beginnen sich positive Resultate zu zeigen. Bedauerlich ist, dass ausgerechnet jetzt da ein Interesse für den spanischen Film zu existieren beginnt, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten anfangen. Im heutigen Spanien einen Film zu machen, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit, so schwierig ist es, finanzielle Unterstützung zu finden.

Worin bestand und besteht der Unterschied zwischen d Werken jener Realisatoren, die Sie nun aufgezählt haben und den gängigen spanischen Durchschnittsproduktionen?

Saura: Es sind die gleichen Unterschiede, die es gibt zwischen einem Film, den man im Zeichen des Opportunismus «herstellt» und jenem, den man aus der Notwendigkeit des persönlichen Ausdruckes herausmacht. Das ist ein weltweites Problem.

Der Tod Francos ist an der spanischen Filmlandschaft nicht spurlos vorbeigegangen. Welches waren die Auswirkungen?

Saura: Die Beständigkeit der Macht Francos — einige dachten bereits an seine Unsterblichkeit — verzögerte einen Befreiungsprozess, der in den letzten Jahren des Franquismus begonnen hatte, und der nicht mehr rückgängig zu machen war. Eine ganze Generation fühlte sich frustriert durch diese Militärdiktatur, die mit der Zustimmung der Welt 40 Jahre gedauert hat. Eine nachfranquistische Generation wird eher die Gelegenheit haben, die Dinge von einer anderen Seite zu sehen, als wir, die wir mehr oder weniger unter einer launenhaften und dummen Militärdiktatur gelitten haben.

Welche Bedeutung hatte der 20. November 1975 (Todestag Francos) für Ihre persönliche Entwicklung, für Ihre Arbeit?

Saura: Es war eine Art Befreiung, verbunden mit einer Verpflichtung, einer moralischen Verpflichtung, alles Mögliche zu tun, um am Verschwinden des Franquismus mitzuarbeiten. Nachdem Franco verschwunden ist, verschwindet der Franquismus, seine Statthalter aber bleiben. Der Tod Francos erlaubte mir, Aspekte in meiner Arbeit zu entwickeln, die ich bis jetzt — obwohl sie schon eingeleitet waren — nicht auszuführen gewagt hatte. Ich meine dabei insbesondere eine Verinnerlichung — dass ich in mir drin nach den Gründen und Rechtfertigungen meiner Arbeit suche, in der Absicht, dass mein Werk und mein Leben parallel verlaufen und sich gegenseitig beeinflussen.

Welches sind die Auswirkungen der Aufhebung der Zensur? Gibt es heute andere Formen der Zensur?

Saura: Die Zensur in ihrer schlimmsten, brutalsten Ausprägung ist in Spanien aufgehoben worden, und wir hoffen, für alle Zeiten. Selbstverständlich existieren andere Formen der Zensur, aber in diesem Sinne müssen wir erkennen, dass es zwischen Spanien und den übrigen sogenannten abendländischen Staaten kaum grosse Unterschiede gibt. Es existiert eine viel subtilere Zensur, etwa in Bezug auf die Festlegung bestimmter Altersgrenzen bei bestimmten Filmen, etwa durch die Qualifikation «S» («Sensibilidad») für die sogenannt pornografischen Filme, oder etwa die direkten oder indirekten Formen der Zensur, die durch die Verleiher und Kinobesitzer ausgeübt werden. Doch glaube ich, dass dies alles schlecht vergleichbar ist mit der offenen und brutalen Zensur, die wir während des Franquismus aushalten mussten, und die a priori etwelche Möglichkeiten verhinderte.

Ihre letzten Filme haben Sie ohne Ihren bevorzugten Szenaristen Rafael Azcona realisiert. Was bedeutet dies?

Saura: Wenn ich jetzt das Drehbuch allein erarbeite, ist es auf diese dringendste Notwendigkeit zurückzuführen, das Arbeitsmaterial für einen Film in mir selber zu suchen. Die Zusammenarbeit mit Rafael Azcona war für mich äusserst bereichernd, in jeder Beziehung. Und wenn ich mich eines Tages entschieden habe, meine Drehbücher allein zu schreiben, verdanke ich das zum Teil meiner Lehre bei Rafael. Es geschah etwas Ähnliches wie in einer Ehe, die viele Jahre besteht: Jeder entwickelte sich auf eine andere Art, und eine Trennung von Gütern und Körpern wurde notwendig.

Wie gehen Sie konkret vor, wenn Sie ein Drehbuch schreiben? Können Sie Ihre Arbeitsweise etwas erläutern?

Saura: Ich schreibe auf, was mir begegnet, ohne eine konkrete Idee, aber immer in der Hoffnung, dass ein Teil dieses Materials sich um irgendetwas gruppiert, das sicher in meinem Unterbewusstsein liegt. Auf geheimnisvolle Art beginnt dieses ganze Material eine Bedeutung zu erlangen, und dann mache ich mich ernsthaft an das Schreiben des Drehbuches

Ich habe meine Arbeitsauffassung ziemlich geändert, um jeden Tag glaube ich mehr, dass ein Film während dieses ganzen, langen Prozesses — von der ersten Zeile im Drehbuch bis zur Kopie, die aus dem Labor kommt — entsteht. De ganze Vorgang ist schöpferisch, und nichts kann man di Zufall überlassen. Besonders behalte ich mir das Recht vor, Dialoge abzuändern, und selbst während des Drehens noch Situationen umzustellen. Und jeden Tag fühle ich mich freie: und unabhängiger in meiner Arbeit. Einen grossen Teil diese: Freiheit und Unabhängigkeit verdanke ich meinem Produzenten und Freund Elias Querejeta, ohne den ich schwerlich hätte weiterfahren können, Filme zu machen.

Welches ist in dieser oben beschriebenen ersten Phase der Entstehung eines neuen Films der Anteil von Géraldine Chaplin?

Saura: Géraldine ist meine Frau und ein Teil meiner selbst. Obwohl sie nicht aktiv an der ganzen ersten Phase des Drehbuchschreibens teilnimmt, — dies ist eine Arbeit, die ich ganz allein verrichte — ist sie in meinem Leben doch gegenwärtig. Wenn dann der Film realisiert wird, ist ihre Mitarbeit aktiv und immer bereichernd.

Um konkreter zu werden: Ich glaube gerade in Elisa, vida mia einen deutlichen Einfluss Géraldines zu spüren.

Saura: Wie ich schon sagte, erarbeitete ich das Drehbuch allein. Die Zusammenarbeit mit den Schauspielern beginnt erst am ersten Tag der Dreharbeiten bzw. der Vorbereitungen. Für Los ojos vendados habe ich oft mit José Luis Gomez gesprochen, wegen meiner Unwissenheit im Medium Theater, in dem sich der Film entwickelt, und in diesem Sinne war seine Hilfe äusserst wichtig. Den Einfluss, den Sie von Géraldine auf meine Arbeit sehen, ist mehr von der Art eines stillen lebendigen Einverständnisses. Darüber hinaus bringt sie gerade während der Aufnahmen — ich wiederhole es — viele Dinge, die ich verwende. Und ihre Ratschläge sind es wert, berücksichtigt zu werden.

Ich glaube, dass ein Film eine Form, einen Körper, bekommt im Moment des Drehens. In diesem Augenblick muss man immer einige Ideen der unmittelbaren Realität der Bestandteile, über die man gerade verfügt, anpassen. Da die Schauspieler Vermittler meiner selbst sind, glaube ich von Tag zu Tag mehr an eine enge Zusammenarbeit mit ihnen. In diesem Sinne hängt jeder von seinen Fähigkeiten, von seiner Intelligenz und seiner Sensibilität ab. Mit Geraldine weiss ich, dass ich all dessen sicher sein kann.

Wie sehen Sie den Einfluss von Elias Querejeta auf die durch seine Produktionsfirma entstehenden Filme, etwa auf der Ebene des Drehbuchs und der eigentlichen Dreharbeiten?

Saura: Die Frage ist zu allgemein gehalten. Ich kenne die Beziehungen nicht, die Elias zu seinen übrigen Realisatoren hat. Ich kann nur über jene sprechen, die sich auf mich bezieht. Ich muss vielleicht vorausschicken, dass Elias Querejeta für mich gleichzeitig Produzent aber auch ein sehr guter Freund ist, und dass unsere Beziehung beträchtlich über das übliche Verhältnis zwischen Produzent und Regisseur hinausgeht. Wir arbeiten seit vielen Jahren zusammen, genau seit 1965, seit La Caza.

Ich schreibe ein Drehbuch, zeige es ihm, und er entscheidet, ob der Film gemacht wird oder nicht. Bis heute hat er noch zu keinem ihm vorgelegten Projekt nein gesagt. Und er hat nie auf ein Drehbuch Einfluss genommen, obgleich ich einige male auf Anregungen seinerseits eingegangen bin. Während der Aufnahmen erscheint Elias nur sporadisch und nie als Zensor oder als «Produzent». Ich hätte schwerlich einem besseren Produzenten begegnen können, und ich bin davon überzeugt, dass viele meiner Filme nur dank seiner Begeisterung, seinen Mitteln, und vor allem seiner ausserordentlichen Fähigkeit zu kämpfen, realisiert werden konnten.

In der Pressedokumentation zu Elisa, vida mia sprechen Sie davon, in Ihrem Gesamtwerk einen Weg zu begehen, der vom Allgemeinen ins Spezielle führt. Das heisst, dass Ihre Filme zusehends persönlicher, intimer, enger werden. Verbindet sich damit letztlich nicht die Gefahr, mit der Zeit im Kreis herum zu gehen?

Saura: Es ist möglich, doch es ist ein Risiko, das ich eingehen muss.

Enrique Braso sieht in seinem Buch über Sie zwei grosse Linien: einerseits die Linie der direkten, symbolischen Werke, anderseits die Linie der eher imaginären, assoziativen Filme. Cria cuervos und Elisa, vida mia gehören meiner Meinung nach eher zur zweiten. Bedeutet das, dass Sie mit der ersten Art gebrochen haben?

Saura: Ich habe mich niemals damit beschäftigt, dieser oder jener Linie zu folgen. Was ich eigentlich immer wollte, ist ganz einfach, das zu tun, was mir am meisten gefiel, was mich am stärksten anzog. Andererseits sehe ich diese Zweispurigkeit gar nicht: Im Leben ist alles vermischt, und unser Geist ist eine Welt, in welcher Durcheinander und Unordnung herrschen. Ich habe die Absicht, ein bisschen Ordnung in das Chaos meiner Ideen und Gefühle zu bringen.

Welche Bedeutung hat für Sie die Erinnerung, sei es als belastende Vergangenheit, oder sei es als Hilfe, als Fluchtmöglichkeit sogar. Ich glaube, diese zweifache Bedeutung der Erinnerung zieht sich wie ein roter Faden durch viele Ihrer Filme.

Saura: Wenige Dinge können mich mehr sensibilisieren als eine alte Familienfotografie, und mehr noch ein Album, eine Sammlung alter Familienfotografien. Was mag aus jenem schwachen Mädchen geworden sein, das ins Leere schaut, was aus jenem Jungen, der sich bewegte und dessen verschwommenes Bild kaum mehr seine Züge erkennen lässt? Und jenes Paar, das in die Kamera schaut... sie ist sicher berechnend und kalt, und er... vielleicht ein armer gutmütiger und verschreckter Mann. Und das Licht..., und diese Landschaft..., eine Erinnerung...

Die Erinnerung ist unser Leben, das was von unserem Leben bleibt. Das und ein Wunsch, glückliche und längst nicht mehr wiederholbare Augenblicke noch einmal erleben zu können. Aber ich spreche lieber nicht zu viel davon, denn man verfällt leicht in einen Professorenton, den ich verachte.

Für mich ist Film Erinnerung und Phantasie. Wenn ich mich hinsetze und nachdenke, was ich tun soll, ist das erste Material, das mir in den Sinn kommt, immer fotografischer Art. Vielleicht, weil ich, bevor ich Filme machte, Fotograf war, vielleicht auch, weil ich beim Lesen die Buchstabensprache sofort in jene des Bildes übersetze, die meine Welt ist... Ich glaube, dass darin keine Zweideutigkeit liegt. Für mich ist das Leben eine Mischung aus Realitäten, mit welchen sich die Erinnerungen, die Träume und die Bilder unserer Wünsche vermischen,

Es ist auffallend, dass die meisten neueren spanischen Filme von der Bourgeoisie, von reichen Leuten jedenfalls handeln, und dass man selten Angehörigen der unteren Klassen als Hauptfiguren begegnet. Wo liegen Ihrer Meinung nach die Gründe?

Saura: Jeder arbeitet über das, was er kennt. Mir schien es vermessen, über Dinge zu sprechen, die ich nicht kenne. Vielleicht ist es ein Problem der Bequemlichkeit, aber für meinen Fall ziehe ich es vor, auf der einzigen soliden Basis zu arbeiten, die ich kenne, und das sind meine eigenen Erfahrungen, sowohl jene der Phantasie, als auch jene, die wirklich geschehen sind und die daher einen Teil der Erinnerung ausmachen.

Im Januar 1979 beginnen Sie mit den Dreharbeiten zu Ihrem neuen Film. Worum geht es?

Saura: Mein nächster Film heisst Mama cumple 100 anos (Mama wird 100-jährig) und darin erscheinen die gleichen Personen wie in Ana y los lobos, aber mit der Entwicklung und den Veränderungen der letzten 15 Jahre. Die Charaktere haben sich verändert, und einer von ihnen, dargestellt durch José Maria Prada (der dieses Jahr an einer Herzattacke gestorben ist), ist im Film nicht mehr am Leben. Die Mädchen von damals sind heute Frauen. Und Ana hat sich verheiratet, sie kommt mit ihrem Mann zum 100. Geburtstag der «Mutter».

Ich möchte daraus eine Tragikomödie machen. Ich hoffe, im Januar drehen zu können, im selben Haus und in derselben Umgebung wie damals bei Ana y los lobos. Möglicherweise werde ich einige Fragmente von Ana y los lobos einfügen, als Vergangenheit oder Erinnerung einzelner Personen. Wir werden sehen...

Luis Garcia Berlanga: Gemeinsame Drehbucharbeit mit Juan Antonio Bardem. Gemeinsame Regie: Esa pareja felix, 1951. Allein-Regie u.a.: Bienvenido Mr. Marshall, 1952; Placido, 1961; El verdugo, 1963; La boutique, 1967 in Argentinien; Vivan los novios, 1970; Grandeur nature, 1973 in Paris; Eseopeta nacional, 1978. Berlanga ist einer der «drei grossen B» (Bunuel, Berlanga, Bardem) des spanischen Films. Juan Antonio Bardem: Gemeinsame Drehbucharbeit mit Berlanga. Gemeinsame Regie: Esa pareja felix, 1951. Allein-Regie u.a.: Muerte de un ciclista, 1955; Calle mayor, 1956, während der Dreharbeiten verhaftet, aufgrund internationaler Proteste nach zwei Wochen wieder freigelassen; 1958 gehört Bardem zu den Gründern der Produktionsgesellschaft UNINCI und wird deren Präsident und produziert u.a. Bunuels Viridiana. In den sechziger Jahren realisierte er einige eher schwache Filme.

Marco Ferreri ist Italiener, arbeitete ab 1956 in Spanien. Regie u.a.: El pisito, 1956; El cochecito, 1960; La grande bouffe, 1973; L’ultima donna, 1975; Ciao maschio, 1978.

Victor Erice: Filmkritiker bei «Nuestro Cine»; Regie: El espiritu de la colmena, 1973; Seither TV-Arbeit und Werbefilme.

a.a.O.

Ricardo Franco: ab 1969 Kurzfilme; Regie: Pascual Duarte, 1975; Los restos del naufragio, 1978.

Basilio M. Patino: Gründer des Filmclubs der Universität von Salamanca, der 1956 den Film-Kongress von Salamanca organisierte. Regie: Nueve cartas a Berta, 1965; Del amor... y otras soledades, 1969; Canciones para despues de una guerra, 1971; Queridisimos Verdugos, 1976; Generalisimo, 1977. Die direkten oder indirekten Saura-Zitate in der Filmografie stammen, sofern keine andere Quelle vermerkt ist, aus dem Buch: Enrique Braso: Carlos Saura, Taller Ediciones JB, Madrid 1974.

Hans M. Eichenlaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
Carlos Saura
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]