WERNER HERZOG

SPANISCHE POLITIK UND KULTURPOLITIK

ESSAY

1978 ist ein ungewöhnliches, ein flaues Jahr. Der Beginn der Herbstsaison lässt auf sich warten. Keine innenpolitischen Probleme werfen Wellen. Der Hauptgrund dafür ist die Staatsverfassung. Seit 14 Monaten arbeiten die Parlamentarier an diesem Text, der drei Jahre nach dem Tod von Caudillo Franco den Demokratisierungsprozess — formal wenigstens — abschliessen soll. Angefangen wurde diese Entwicklung 1976 mit dem erlösenden Wort von Regierungschef Suarez, dass dem spanischen Volk wieder die politische Souveränität gegeben werden soll. Der zweite Schritt waren die (beinahe) freien Wahlen des 15. Juni 1977 für ein neues Parlament. Die schrittweise Normalisierung Spaniens ist ein historisch äusserst bedeutsames Experiment. Es scheint zu gelingen. Die Parlamentarier sind sich bewusst, dass nur eine Verfassung, welche alle sozialen Schichten und geographischen Regionen des Landes umfasst, eine Chance auf längere Lebensdauer hat. Grösste Hürden sind nicht so sehr die politische Organisation des Staates, wie etwa die Zusammensetzung des Parlaments oder die Rechte des Königs, und auch nicht die Staatsform — die unerschütterlichen Republikaner sind auf ein Häufchen von etwa 2 Prozent der Bevölkerung gesunken — sondern soziale und religiöse Fragen (Erziehungswesen, Trennung von Staat und Kirche) und — vor allem — die Regionenfrage. Gibt es in Spanien Regionen erster, zweiter und dritter Klasse? Sollen die Basken mehr Rechte als die Katalanen und die Galizier haben, die auch eine eigene Sprache sprechen und Kultur leben? Haben diese drei Gruppen mehr Rechte als das ebenfalls vergessene Andalusien oder die Regionen des Landesinnern, z. B. Aragonien und die Mancha? Die Volksabstimmung, die das neue Grundgesetz endgültig sanktionieren soll, kann frühestens Ende November stattfinden. Bis dahin schiebt das Parlament die anderen Probleme vor sich her oder löst sie die Regierung schlecht und recht mit Notmassnahmen.

Der zweite Grund zur herbstlichen Lethargie in Madrid ist die Politik des «Konsensus», der Kompromisse zwischen den Parteien. Das Stichwort dafür heisst «Pakt der Moncloa». Dieser Pakt, der im Oktober 1977 von den vier Grossparteien (Volksallianz, Zentrumsdemokraten UCD, Sozialisten und KP) unterzeichnet wurde, enthält Abkommen im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereich. Wichtiger als die sektoriellen Abmachungen, die von der Regierung nicht alle erfüllt wurden (z. B. im Schul- und Gesundheitswesen und in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die im Oktober neun Prozent betrug), ist der Geist, den der Pakt der Moncloa schuf. Es ist ein beinahe schweizerischer Geist der Kompromisse a priori. Entsprungen ist er dem Bewusstsein, dass die Demokratie, welche extremistische Gruppen in Terrorversuchen und -anschlagen gefährden will, mit einem Zusammenrücken nach der Mitte vor den «Dämonen der Vergangenheit» gerettet werden soll. Diese Konsensuspolitik hält mindestens bis zur Verabschiedung der Staatsverfassung an. Sie ist unbestritten ein Sieg von Regierungschef Suarez und seiner UCD-Partei. Suarez ist es gelungen, auch die längst fälligen Gemeindewahlen auf Ende Februar, anfangs März 1979 zu verschieben. Sie müssen spätestens 90 Tage nach dem Verfassungsreferendum durchgeführt werden. Die Hauptstreitfrage danach, die jetzt schon insistent gestellt wird, heisst: Haben anschliessend neue Parlamentswahlen stattzufinden?

Die Regierung möchte die Konsensuspolitik weiterführen. Suarez hat vor allem die KP Carrillos dazu gewonnen. Die Kommunisten haben in den Wahlen nur neun Prozent der Stimmen und fünf Prozent der Unterhausabgeordneten geschafft. Sie sind eine «kleine» Partei, Manipuliermasse. Carrillo scheut sich nicht, sich an Suarez, also an die bürgerliche Mitte und Rechte zu hängen, um zu einer Machtparzelle zu kommen. Er macht Suarez parlamentarische Angebote, die er gegenüber den Sozialisten nicht wiederholt. Die KP und die ihnen angeschlossenen Arbeiterkommissionen sind bereit, einen neuen Pakt einzugehen, diesmal zwischen den Sozialpartnern, den Parteien und Regierung — und zwar auf drei Jahre. Die Sozialisten von Felipe Gonzalez und die ihnen angeschlossene UGT-Gewerkschaft wollen jetzt in die Opposition. Für sie ist das Paktieren zu Ende, weil auch der Verfassungsprozess zu Ende geht. Jetzt soll jede Partei ihren angestammten Platz einnehmen. Die Partei von Suarez soll ein Regierungsprogramm vorlegen. Die hängigen Probleme sollen nicht in einen neuen Konsensus verpackt, sondern in Konfrontationspolitik gelöst werden. Zu neuen Lohnabmachungen zwischen den Sozialpartnern sind die Sozialisten bereit, nicht aber zu Parteienabkommen, die ihnen die Hände binden. Die Sozialisten drängen auf Parlamentsneuwahlen. Sie bezeichnen sich als «Machtalternative» zum Zentrum.

An den ausserparlamentarischen Gruppen würde es liegen, die skeptische Bevölkerung aufzurütteln, denn zu lange haben die linksradikalen Gruppen versucht, mit «Konsensusverhalten» im Parlament und in Regierungskreisen beachtet und promoviert zu werden.

Die vereinten Linkskräfte (nur die Sozialisten fehlten) brachten am 10. Oktober immerhin rund 50 000 Personen auf die Strassen Madrids, um gegen die Wohnbaupolitik der Regierung zu kämpfen. Diese Einzelheit kann nicht über zwei Tatsachen hinwegtäuschen: Das spanische Volk ist nach 14 Monaten Verfassungsdiskussion und Konsensus-Politik demobilisiert. Die Strasse hat — ein Jahr nach den ersten freien Wahlen — aufgehört, ein wichtiger politischer Faktor zu sein. Spanien hat sich viel rascher als erwartet auf die anderen Länder Westeuropas zubewegt. Manager Adolfo Suarez investiert seine Einfallskraft in sein politisches Überleben. Neue Parolen, welche den Mann von der Strasse packen könnten, sind von ihm nicht zu erwarten. Hier liegt die Chance der Sozialisten. Ihr Handicap ist, dass sie in Basisorganisationen (wie etwa Quartiersvereinen) schwächer als die KP vertreten sind, und die KP-Strategie auf Kompromisspolitik zielt. Die Linke ist gespalten.

Im allgemeinen Panorama stellt die Kulturpolitik keine Ausnahme dar. Das Fehlen einer klaren Linie der Regierungspartei führte dazu, dass Kulturminister Pio Cabanillas hauptsächlich von den vorhandenen Strömungen Kenntnis nimmt und vorhandene Initiativen unterstützt, im Wesentlichen aber kein eigenes kohärentes Programm durchzusetzen versucht. Von der Politik des Verbietens unter Franco ist der offizielle Kulturbetrieb zu einer Politik des Erlaubens übergegangen. Immerhin ein Schritt. Dass auch die Politik des Erlaubens nicht allzu weit reicht, zeigte der Fall der katalanischen Schauspielgruppe «Els Jogiars», die im Frühjahr wegen «Beleidigung der Armee» zu zwei Jahren Gefängnis unbedingt verurteilt wurde, ohne dass Pio Cabanillas einen Schritt zu ihrer Freisprechung unternommen hätte. Das Kulturministerium wiegt in politischen Entscheiden nur dann, wenn die Regierungspartei aus ihm politisches Kapital schlagen kann.

Pio Cabanillas kann verschiedene Gründe als Entschuldigung für eine fehlende Gesamtplanung der Kulturpolitik anbringen. Zum ersten die finanzielle Lage. Kultur wurde und wird in Spanien noch immer als Privatangelegenheit von Leuten, die Geld haben, angeschaut. Auch heute ist das Budget viel zu klein. Verschiedene Projekte, die 1976 mit Pomp angekündigt wurden, sind inzwischen von den Listen verschwunden. Zweitens hat die Neustrukturierung des Ministeriums grosse Energien in Anspruch genommen. Sie ist auch heute noch nicht ganz abgeschlossen.

Weiter ist zu bemerken, dass viele Intellektuelle sich von diesem Ministerium fernhalten, weil es sich in der Vergangenheit einfach zu stark kompromittiert hat. In einigen Fällen setzten sich diese Kreise für Regierungsprojekte in ihren Fachgebieten ein, mussten aber — wie im Falle der geplanten Architekturzentrums «Neue Formen» — nach wenigen Monaten wegen Geldmangels die Segel streichen. In anderen Fällen führte die Personalpolitik (kein Bruch mit der franquistische Vergangenheit) dazu, dass Reaktionäre gutgemeinte Initiativen verunmöglichten. Das staatliche Verlagshaus «Editora Nacional» bringt z.B. kein anständiges Programm zustande und tritt nicht als Ergänzung zu den weiteren Verlagen auf. Gleichzeitig schaut die Regierung zu, wie Verlagshäuser, die sich in den Franco-Jahren für die Kultur verdient machten (etwa «Cuadernos para el Diabolo») in finanziellen Schwierigkeiten untergehen. Obwohl die Regierungspartei erklärt hat, dass der unter Franco verstaatlichte Teil der Presse «der Gesellschaft zurückgegeben» werden muss, ist seit 1976 in diesem Sektor nichts Mutiges geschehen. Zu den positivsten Bereichen gehören die Massnahmen im Theater (Schaffung von wenigen subventionierten Zentren) und im Film (Aufhebung der Zensur). Die Linksparteien, welche in dieser Lage einspringen könnten, scheinen in Diskussionen z.B. über die Frage der «Volkskultur» steckenzubleiben.

In der Kulturpolitik ist man somit noch längst nicht aus dem Umbruch nach der Franco-Epoche hinausgekommen. Spanien ist nicht ein Kulturvolk in mitteleuropäischem Sinne. Seit dem 16. Jahrhundert hat die Kultur nicht in breiteren Volksschichten Fuss gefasst. Einzelne Ansätze zur Überwindung — etwa in der Zweiten Republik nach 1931 — wurden erstickt. Eine Zahl mag die fehlende Verankerung belegen: Von 2200 im September befragten, über 18 Jahren alten Personen haben — in grösseren Ortschaften! — 59 Prozent nie oder in den vergangenen 12 Monaten kein Buch gekauft.

Werner Herzog, Madrid Oktober 1978

Werner Herzog
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(Stand: 2020)
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