JEAN ZIEGLER

DER HELVETISCHE ALLTAG — ZU L’AFFAIRE SUISSE VON PETER AMMANN

CH-FENSTER

Ich bin ein ganz normaler, durchschnittlicher Kinobesucher. Eine gründliche Filmkultur habe ich nicht; auch von filmischer Technik verstehe ich nichts. Am 4. Juli, halbtot vor Müdigkeit, ging ich — weil’s schon lange so abgemacht war — am Ende des Tages ins Privatstudio des Genfer Filmverleihers Monopal-Pathé. Peter Ammann erwartete mich dort. Ich hoffte auf zwei Stunden im Halbdunkel und auf ein wenig Schlaf.

Es kam anders: Während einer Stunde und vierzig Minuten sass ich hellwach, gespannt, fasziniert. Ich sah Ammanns neuen Film, der im September in der Schweiz anlaufen soll: Die Affäre Schweiz (oder Die Schweizer Affäre). Um es gleich vorwegzunehmen: er gehört vom Thema, von der Spannung, dem analystischen Niveau, von Bildtechnik und erzählerischem Können her in die internationale Spitzenklasse sozialkritischer, politischer Gegenwartsfilme. Ammann gehört in die Klasse von Costa-Gavras. Ich hatte vor Jahren in einer Gewerkschaftsversammlung seinen «Roten Zug» gesehen und ihn — wie alle Anwesenden im Saal — ausserordentlich anregend und klug gefunden. Die Affäre Schweiz jedoch hat andere Ambitionen; der Film liegt auf einem höheren analytischen Niveau, und seine Thematik reicht viel weiter.

Was zeigt Peter Ammann? Er zeigt — ich bitte um Entschuldigung für die konzeptuelle Abkürzung! — das Funktionieren des helvetischen Produktionsmodus. Und zwar handelt es sich hier — wie bei Bourdieu — um den doppelten Produktionsmodus: die symbolische wie die materielle Güterproduktion ist gemeint. Eine totalisierende Analyse schweizerischen Gegenwarts-Erlebens liegt hier vor, wie sie bis anhin noch von keinem Filmemacher versucht worden ist.

Ein Genfer Journalist namens Georges Wabre ist auf einer italienischen Autobahn ums Leben gekommen. Offizieller Befund: Unfalltod. Von Freunden und der Witwe vermuteter Todesgrund: Mord. Wabre recherchierte über Fluchtgeldtransaktionen und war einer Grossoperation (nein, nein, noch nicht die Kreditoperation von Chiasso!) auf der Spur. Ein Genfer Polizist — ausgezeichnet gespielt (vielleicht etwas zu kalt) von Jean Sorel — führt die Untersuchung...

Die Affäre Schweiz ist einer jener ganz seltenen Polit-Krimis, die in jeder Sequenz eigentlich Bekanntes zeigen, die jedoch mit jeder Bildfolge überraschen, den Zuschauer in Atem halten. Was Peter Ammann zeigt, ist etwas ganz Banales: die alltägliche schweizerische Wirtschaftskriminalität.

Ein Schweizer Geschäftsanwalt — er heisst Bühler —, kühl, gewandt, zynisch, verwaltet Kundengelder aus Italien. Ein heraufgekommener Unternehmer überhaupt einen Walliser-Berg, genannt Thyon 2000, mit klotzigen Ferien-Appartements. Aus Italien fliessen Fluchtgeldmilliarden in eine Schweizer Privatbank. Diese wiederum gibt Kredite an Thyon 2000. Mit der existierenden Appartement-Siedlung hat die im Film gezeigte nur den Namen gemeinsam. Die Fluchtgeldmilliarden werden von einer Fassaden-Unternehmung in die Schweiz geschleust. Kontrolliert werden der Fluchtgeldstrom, das Fassadenunternehmen und die Mafia-Killer (die den Journalisten, dann den Thyon-Untemehmer und schliesslich den Fassaden-Unternehmer umbringen) von einer dem Vatikan nahestehenden Finanzorganisation mit Sitz in Rom. Die Anspielung auf dem Römer Bankier Sindona, der in Zürich dank Schweizer Grossbanken, spekuliert hat, ist hier deutlich.

Die unerhörte Explosivkraft des Films, seine absolute Originalität liegen in einer anscheinend nur sekundär-wichtigen Kulissenverschiebung: Helvetiens Bürger kennen die Geschichte, die Ammann erzählt, auswendig. Sie gehört zu unserem Alltag. Wir kennen den Geschäftsanwalt Bühler, den Genfer Privatbankier Fonjallaz, den Tourismus-Unternehmer Zurlini, den gekauften Wirtschaftsjournalisten Säbel; wir kennen sogar den mutigen Polizeiinspektor Suter und den toten Oppositionsjournalisten Wabre. Ich wiederhole: sie gehören zu unserem helvetischen Alltag. Neu aber ist dies: Es wird hier im Bild, im Dialog gezeigt, wie die Plünderung einer ausländischen Wirtschaft (der italienischen) durch ausländische Grossgauner und mit der effektiven Komplizenschaft von Schweizer Banken, von Schweizer Geschäftsanwälten, von in der Schweiz tätigen Unternehmern tagtäglich funktioniert. Anders gesagt: Es wird ein System gezeigt. Ammann vermeidet jeden Manichäismus: er zeigt nicht Böse und Gute, Gauner und Biedermänner; er zeigt, klinisch präzis, das Funktionieren eines Systems, in dem einige Mafiabosse und Grossunternehmer als Gauner erkennbar sind, und in dem andere Gauner in der Maske protestantischer Privatbankiers und helvetischer Geschäftsanwälte herumlaufen. Das Wort ist abgegriffen, aber es stimmt: Ammann schafft Transparenz, bringt Licht in die Dämmerzone alltäglicher schweizerischer Wirtschaftskriminalität. Ammann zerstört Legenden, jene etwa von den Schweizer Bankiers und Behörden, die mit der Plünderung ausländischer Wirtschaften gar nichts zu tun haben, weil ja die fremde Beute ohne ihr Wollen in die Schweiz gelangt. Ammann endlich schafft Bewusstsein, liefert Waffen.

Der Film schliesst — wie jeder politische Tageskampf heute in der Schweiz — mit der Feststellung unserer totalen Ohnmacht. Der mutige Inspektor Suter von der Genfer Kantonspolizei sieht ein, dass man gegen schweizerische Banken und die ihnen hörigen Behörden vorläufig nichts tun kann. Das geschriebene Gesetz hilft da wenig. Er demissioniert. Vor versammelten Wirtschaftsjournalisten — die ja das ihnen so einträgliche System schreibend loben — eröffnet Geschäftsanwalt Bühler den neuen Tourismus-Komplex Thyon. Die Leichen derer, die die Fluchtgeldoperation zu stören suchten, sind längst begraben. Der helvetische Alltag nimmt ruhig seinen Lauf.

Peter Ammans Film wird Geschichte machen. Ob ihn die Kritik nun boykottiert oder nicht. Er ist ein zutiefst politischer Film; genau wie Brecht-Stücke zutiefst politische Theaterstücke sind. Jenseits der technischen, ästhetischen Sekundärfragen, die diesen Film betreffen, stellt sich die politische: Hat dieser Film recht, wollen wir die Realität, die er aufzeigt, als Normalität hinnehmen, oder wollen wir endlich als Bürger, als Schweizer den gediegenen Gaunern, die da gezeigt werden, das blutige, plündernde Handwerk legen?

Jean Ziegler

Nationalrat

Professor an der Universität Genf

Jean Ziegler
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(Stand: 2020)
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