MARTIN SCHAUB

PHANTASIE OHNE MACHT — KOERFERS ALZIRE ODER DER NEUE KONTINENT

CH-FENSTER

Noch zweihundert Jahre nach ihrem Tod disputieren Jean-Jacques Rousseau und Voltaire über die gesellschaftliche Aufgabe, die die Kunst zu übernehmen hat, und die Mittel, die ihr bei solcher Aufgabenerfüllung zu Gebote stehen. Die Helden der bürgerlichen Aufklärung sehen zwar schon ziemlich mitgenommen aus; die Perücken sind unordentlich verfilzt, die Kleider haben bessere Tage gesehen. Wie Clochards streiten sie sich unter den ewigen Eichen der St. Peterinsel über die Frage nach dem Platz des Intellektuellen in der Revolution; einmal werden sie gar handgreiflich. Von ihrem hölzernen Himmel herunter betrachten sie die Irrungen und Wirrungen einer heutigen Theatertruppe, beziehen aus ihnen neue Munition für ihre eigene jahrhundertealte Auseinandersetzung. Die Theatertruppe hat sich vorgenommen, Voltaires 1736 entstandenes Stück Alzire oder die Amerikaner aufzuführen, ein Stück Tendenzdramatik des 18. Jahrhunderts. Doch abgesehen von den Problemen, die auf dem kulturellen Holzboden der bürgerlichen Demokratie unweigerlich auftreten, und den Problemen des Zusammenarbeitens und Zusammenlebens erweist sich auch die Vorlage selbst als nicht so zeitlos gültig wie zuerst angenommen. Das Tendenzstück Voltaires fordert den Widerspruch der Heutigen heraus; einer lässt die historisierende Einstudierung platzen, indem er nicht mehr spielen will, was ihn nicht überzeugt. Er geht noch weiter. Einmal sagt er: «Von mir aus können alle Kinos, Theater und Sender der Welt in Flammen aufgehen». Mit zwei weiteren Mitgliedern der Truppe bricht er an den Ort der Handlung des Voltaireschen Stücks auf und wird vermutlich lange dortbleiben. Derweil entspannt der Indio Santiago den Rest der Truppe: Er hilft den Zurückgebliebenen, den Staub aus der Altersfalten des Alzire-Stücks zu klopfen; zusammen mit Indios, die im Exil leben, geben sie eine Alzire, die ihre Empörung über die Unterdrückung der Indianer durch den Weissen Mann artikuliert. Das Stück endet nicht versöhnlich— gerade an der aufbauenden oder ironischen Versöhnlichkeit von Voltaires Stück hatten sich die Geister geschieden —, sondern in Furcht und Schrecken. Die Indios Zamore und Alzire sterben unter den Kugeln der neuen Kolonialisten.

Assoziationen und Reflexionen

Alzire ist die dritte Phantasiemaschine der beiden Autoren. Spielerisch führen Koerfer und sein Drehbuchautor Dieter Feldhausen den Zuschauer aus dem Voltaire-Stück hinaus und wieder zurück. Assoziativ springt der Film von einer Epoche in die andere, von einer Problematik in die andere übergeordnete oder verwandte. Die Welt erscheint als eine. Sie stellt sich im Kopf des Zuschauers zusammen, wenn dieser Zuschauer mitspielt, sich einlässt auf die Phantasiearbeit der Autoren, denen etwa der Tomahawk im Bett eines schlafenden Kindes ebenso wichtig ist wie die Weigerung eines Schauspielers, eine Geste zu spielen, von deren Richtigkeit er nicht überzeugt ist.

In der spielerischen Leichtigkeit der Übergänge von der Gegenwart in die Vergangenheit, von der Kunst in die Politik, vom Privaten ins Soziale hat sich etwas von der Robert-Walser-Arbeit der beiden Autoren erhalten. In der raffinierten — auf den ersten Blick vielleicht nicht besonders auffälligen — Zuordnung der verschiedenen Einfälle zu den philosophischen Welten Rousseaus und Voltaires findet das Ganze eine nicht aufdringliche, aber durchaus nachweisbare Kohärenz.

Assoziation als Konstruktionsprinzip erweist sich allerdings auch in Alzire als ziemlich risikoreich. Nicht wenige Zuschauer haben dem Film mehr Widerstand entgegengesetzt, als ihm (und ihnen) wohl bekam. Ratlosigkeit war die Reaktion. Koerfers Alzire setzt nicht — wie einige gemeint haben — Kenntnisse der beiden alten Spielmacher und Spielverderber Rousseau und Voltaire voraus. Vielleicht ist es sogar besser, wenn man die beiden «maitres penseurs» in den Kulissen nicht zu gut kennt. Die Voraussetzung ist einzig und allein eine Beweglichkeit und Leichtigkeit des Betrachters, die nicht alle und die meisten nicht jederzeit aufbringen können.

Der Untertitel des Gehülfen nennt die Bauelemente jenes Films: «60 farbige Bilder». Sie ergaben so etwas wie eine Chronik laufender Ereignisse. Aus dem Nacheinander der Walserchronik galt es in dem neuen Projekt in ein Ineinander der Zeiten, Gedanken, Sinn- und Handlungszusammenhänge zu kommen. In der Fünfzahl der philosophischen Diskurse Voltaires und Rousseaus hat sich — wenn auch in fast parodistischer Weise — die Fünfzahl der Akte des klassischen Dramas gehalten; die fünf Diskurse gliedern die Geschichte der Theatertruppe. Den ersten Proben und den privaten Schwierigkeiten und jenen mit dem Stück folgt die Weigerung der Stadt, das Unternehmen zu tragen, auf dem Fuss. Darauf ziehen sich die Schauspieler aufs Land und in sich selber zurück. Im vierten Akt bahnen sich die Entscheidungen an: ein Mann stirbt, ein Kind wird geboren, die Gruppe geht auseinander. In diesem vierten Akt wird erstmals explizit Rousseau lebendig; einer — der Laie in der Truppe bezeichnenderweise — liest aus dem Emile jene Sätze, die man auch aus Tanners Jonas kennt, jene ungemein poetischen revoltierten Sätze über die gesellschaftlichen Zwänge von der Wiege bis zur Bahre. Und dieser Zwang wird im fünften Akt überwunden. Einer hat die Kunst verlassen und begegnet der Wirklichkeit; die bei der Kunst bleiben, bauen Wirklichkeit deutlich, konkret und pateiergreifend in ihre Kunst ein.

Während die lebenden Bilder von Der Gehülfe sich aphoristischer Kürze und Gechlossenheit nähern, spürt man in Alzire die Tendenz zu zwangloserer, offenerer Architektur der Szenen. Vieles bleibt Andeutung und Skizze, damit das Ganze nicht ins Stocken gerät. Man kann nicht sagen, dass Renato Bertas «Tableau»-Kamera, Koerfers die Psychologie des Augenblicks vernachlässigende Schauspielerführung und Feldhausens zur Formel drängenden Dialoge diese Tendenz immer unterstützen. Sie helfen eher, die in dem «klassischen» Muster lauernden Gefahren der autoritären Demonstration «brechtisch» zu bannen. Gerade die vielfältige Stilisierung garantiert dem Zuschauer die Freiheit, seine eigenen Wege zu gehen in einem hübsch angelegten englischen Garten.

Wer braucht Kultur?

Thematisch steht Alzire näher beim Flohzirkusdirektor als beim Gehülfen. Alzire ist eine Selbstbefragung der Kunst oder der Phantasie. Welchen Platz und Sinn haben sie in einer Welt, die sie nicht will? Immer weniger will? Den Autoren genügen weltverbesserische Antworten nicht mehr. Sie unterschlagen nicht die Schwierigkeiten des Lebens von Leuten, die in ihrer Arbeit aufgehen wollen, die Unmöglichkeit, eine Familie zu haben beispielsweise. Sie zeigen, welcher Preis zu zahlen ist.

Voltaire und Rousseau werden dazu Vorläufern, Rousseau, der die fünf Kinder, die er mit Therese Levasseur hatte, ins Findelhaus gab, Voltaire, der Kinderlose. Die Unbequemen werden nicht nur durch Zensur, politische und ökonomische, unten gehalten. Die Gesellschaft zerdrückt sie bis in den privaten Bereich hinein. Sie verlangt vom Kulturschaffenden überdurchschnittliche Kraft und Ausdauer und hat zudem die Verführungen des Komforts bereit, den man mit einem kleinen Quantum Selbstbetrug erreichen kann.

Wenn schon keine Familie, kein Rückhalt in sicheren Beziehungen, kann die Familie nicht ersetzt werden? Durch Familien des Geistes, und nicht des Blutes? Die Theatertruppe wird zur Grossfamilie, zieht aufs Land. Wiederum ist die Patenschaft Voltaires und Rousseaus deutlich. Der Land- und Stadtgegensatz, Natur und Zivilisation, präsentiert sich allerdings heute nicht mehr wie im 18. Jahrhundert. Im Dorftheater steht ein Traktor auf der Bühne; die unschuldigen, unverdorbenen Bauern sind eine Fiktion wie die aufbegehrenden Arbeiter. Die Kunst bleibt da genau so fremd.

Ist es einfach die falsche Kunst? Ist die Schaustellerei mit ihren Autoren und Ausführenden, die der Menschheit immer einen kleinen Schritt voraus zu sein meinen, schon immer falsch gewesen; kann sie gar nicht volkstümlich werden, solange sie Schaustellerei ist? Rousseau jedenfalls hat zu dieser Meinung geneigt, obwohl er sich auch als Stückeschreiber versucht hat. De Alzire-Truppe inszeniert ein Volksfest: Maibaum, Musik, Tanz, Gemeinschaft; das Volk als Protagonist, als Darsteller seines befreiten Selbst. Doch nach dem Fest sind die Künstler Fremde; Buben schmeissen mit Steinen ihre Fenster ein.

Wäre Alzire hier möglich? Leo setzt sich auf den Traktor auf der Bühne und lässt den Motor aufheulen; die anderen lachen. Zurück zur Natur: Fischen Hühner rupfen, Kaninchen das Fell über die Ohren ziehen, Pilze kochen, Milch trinken, Liebe machen, ein Kind haben. Fast kommt der Brand des Dorftheaters gelegen. Der Brand bringt die fälligen Entscheidungen: die Fähigkeit, die Kunst fahren zu lassen, oder eben sie dort zu verankern, wo die «künstlerischen Fragen» zu Nebenfragen werden; in der aktuellen Wirklichkeit.

Aufklärung, Erziehung durch die Phantasie, die Fähigkeit, das Bessere zu denken und denken zu lassen, etwas in Bewegung, zum Leben zu bringen, Herstellung von Menschlichkeit, Widerspruch und Neuentwurf: Die Mehrheit will das nicht, und der Staat will das nicht. Aber da sind die Minderheiten. Sie haben den erforderlichen Sinn. Von den Rändern her wird sich Menschlichkeit den Zentren der Welt nähern, listig oder mit Gewalt, aber immer identisch; nicht nur in den Köpfen von ein paar Verrückten getragen.

Man müsste sich einmal vorstellen, was Koerfers Alzire wäre, wenn Rousseau und Voltaire hier keine komischen Figuren wären. (Ich darf hier nicht verschweigen, dass ich François Simons billige Übertreibungen nicht mag.) Ein Monument der Resignation und des Pessimismus. Es war schon immer so. Wieso soll das überhaupt anders werden? Tränendes Selbstmitleid der Unverstandenen, (denn Zynismus kann sich der Kulturschaffenden ja weniger leisten als jener, der die Kultur nicht will).

Die Theaterguppe macht schliesslich ihre Kunst mit jenen, die sie brauchen. Oder sie macht keine Kunst mehr. Leo fährt in die Anden: Keinen Indio spielen, einer werden. Die Zurückgebliebenen bringen den Indio selber — den Lumpensammler in der alten Welt, den Geringsten — auf die Bühne, den Exil-Chilenen, der nur Echtheit und Wahrheit bringt, keine dekadente Preiziosität.

Wenn Koerfers Alzire mehr ist als ein humorvolles Festspiel zu den Todestagen zweier «maîtres penseurs», könnte der Zürcher Filmemacher von nun an etwas andere Wege gehen. Das Feld der Schaustellerei-Problematik wird uninteressanter sein jetzt, da eine Tür zur «Gebrauchskunst» aufgestossen worden ist. Die letzte «Phantasiemaschine» Thomas Koerfers muss deshalb Alzire oder der neue Kontinent nicht sein. Auch auf dem neuen Kontinent, den ich einmal, verkürzend, mit «Praxis» umschreiben möchte, tut Phantasie not.

Alzire oder der neue Kontinent. Produktion: Filmkollektiv, Thomas Koerfer, ZDF; Regie: Thomas Koerfer; Drehbuch: Dietrich Feldhausen; Bild: Renato Berta, Carlo Varini; Schnitt: Georg Janett; Darsteller, François Simon (Voltaire), Roger Jendly (Rousseau), Monika Bleibtreu, Verena Buss, Verena Reich-hardt, Nikola Weisse, Wolfram Berger, Hans-Peter Korff, Bernd Spitzer, Rüdiger Vogler (die Schauspieltruppe), Joaquin Hinojosa (Santiago) u.a.m. 16 mm/Farbe/97 Minuten.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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