BERNHARD GIGER

... DA MÖCHTE ICH MEINEN HUT NEHMEN UND GEHEN — SÜDSEEREISE VON SEBASTIAN C. SCHROEDER

CH-FENSTER

Gegen den Schluss des Films erzählt Marie-Therese, die bei Sebastian zu Besuch ist, wie ihr Mann sie verlassen hat. Auf Sebastians Frage, wohin er denn gegangen sei, meint sie: «Das hat er eben nicht geschrieben, aber da ich ja wusste, dass er ein Südseedings ist, dass er die Seekarte von diesen Inseln ganz genau kannte, dass es immer sein Traum war, mit einem Schiff dahin zu fahren, da war es mir schon klar, dass er da hinging. Ich glaube, dass der Druck, gerade wie er weg ist, ein unheimlicher Druck auf unsere Beziehung, die Kinder und alles, das war zu viel, da hat er alles hingeschmissen.» Alles hinschmeissen und abhauen, das möchte auch Sebastian; das Kind, Philipp, die Frau, Ursula, hinter sich zurücklassen, auch die Umgebung, von der längst jede hinterste Ecke bekannt ist, in der es nichts mehr zu entdecken gibt. Sebastian lebt von seinen Erinnerungen, mit ihnen fühlt er sich wohl. Dann und wann schaut er sich Videobänder einer früheren Reise durch Amerika an, Manhatten, und dann Strassen durch die unendliche Weite, Strassen, die am Horizont von der Landschaft direkt in den Himmel führen, Palmen, in denen der Wind traurige, geheimnisvolle Melodien spielt. Und zwischendurch Freunde von damals, ein Mann, der auf dem Arm «Fuck War» eintätowiert hat, und schliesslich er selber, mit längeren Haaren noch, lachend, zufrieden mit sich und der Welt. Hier und jetzt aber ist Sebastian unzufrieden. Einmal zieht er Ansichtskarten aus der Schublade seines Arbeitstisches, sie zeigen Berglandschaften, dann eine Schweizerfahne in einer Eishöhle, ein eingefrorenes Auto, ein Zimmer, in dem ein riesiger Steinbrocken liegt, der es beinahe bis zum Rand füllt. Sebastian fühlt sich eingeengt, zu Hause, auf der Strasse, in der Schweiz. Da ist eine Beziehung, die nicht mehr klappt, eine Frau, von der er weg möchte, nicht so sehr wegen ihr, sondern weil er im Moment keine Beziehung ertragen kann, aber da ist auch ein kleines Kind, das ihn braucht, eine Mutter, die, wenn er weggehen würde, kaum mehr arbeiten könnte oder dann das Kind den Tag durch weggeben müsste. Da ist aber auch jenes saubere und ruhige Land, in dem, wie ein Reisebegleiter, ein Schweizer, ihm auf dem Flug nach Amerika erklärte, zu viel Ordnung herrsche, in dem alles fast militärisch sei «Aber ich nehme a, dass wenn Gsellschaft wot existiere, mues es Regle ha, und ich glaube: d’Schwiz hat e bitz zvil und Amerika e bitz zwenig dere Regle. You know what I am talking about.» Ein Land, in dessen Sprache, wie ein Autostopper meint, so beschissene Wörter wie «Brustwarze» und «Kalbshaxe» vorkommen. Der Stopper, auch er ein Schweizer, spricht darum nur noch englisch.

Sebastian möchte der Enge entkommen, er flüchtet in die Träume. Bilder der Sehnsucht tauchen vor ihm auf, Palmen, eine schwarze Frau. Er verliert den Boden unter den Füssen. Selbst die Fernsehbilder der «Landshut» auf dem Flughafen von Mogadischu holen ihn nicht aus dem Träumen zurück, die «Landshut» lässt ihn an die Anzeigetafel auf einem Flughafen denken, an Flugzeuge, die in die Wolken stechen. Aber Sebastian fliegt nicht weg, die mächtigen Wellen, in denen er am Schluss des Films schwimmt, täuschen das Meer nur vor — sie werden von Maschinen erzeugt. Sebastian wird weiter von Palmen und verlockenden schwarzen Frauen träumen.

Südseereise ist angelegt zwischen Dokumentar- und Spielfilm er entstand ebenso aus der Geschichte von Ursula und Sebastian, aus gehörten, gefundene Geschichten und aus den Phantasien des Filmemachers: Die Hauptpersonen spielen sich selber. Die Regie aber führte Sebastian, in Südseereise erzählt ein Mann von seinen Erfahrungen und Sehnsüchten. Man erfährt nicht, ob Ursula vielleicht auch Sehnsüchte habe, man erfährt auch nicht, was sie arbeitet. Nach dem ersten Drehtag glaubte Ursula Klar, sie werde für den Film missbraucht, sie blieb darum die Nacht über weg und telefonierte am nächsten Morgen, dass Sebastian mit ihr nicht mehr rechnen könne. Im Film steht diese Szene am Schluss, sie zeigt das vorläufige Ende der Beziehung an. Der Ton der Szene ist Originalton, die Bilder wurden nachgestellt. Die langen Gespräche im Wohnzimmer sind improvisiert, Ursula und Sebastian meinen es in diesem Moment aber nicht ganz so ernst, wie es scheint. Die Gespräche geben ungefähr wieder, was Ursula Klar und Sebastian C. Schroeder früher auch schon besprochen haben. Die Geschichte von Marie-Therese ist wahr, sie gab Schroeder sogar den Anlass, den Film, an den er schon lange gedacht hatte, auch zu machen. Die Geschichte der Serviertochter hat Schroeder auch wirklich gehört, im Film aber wird sie von Bice Curiger nacherzählt. Wirklichkeit und Fiktion gehen laufend ineinander über und ergänzen sich, die Selbstdarstellung Schroeders ist zugleich das Porträt eines Mannes, der zu einer Beziehung nicht mehr fähig ist, der vom Plan eines Ausbruchs träumt, bis er ihn nicht mehr verwirklichen kann, der sich mehr und mehr von Freunden und Partnern entfernt und sich selber isoliert. Was Schroeder zeigt, beschäftigt nicht nur ihn, er ist nicht der einzige Mann, der von Palmen träumt.

Überraschend an Südseereise ist die Ehrlichkeit, mit der sich Schroeder selber darstellt. In den Gesprächen muss Ursula ihn manchmal richtig anschreien, damit er sich ihre Meinung auch einmal anhört. Sebastian, der lustlos durch den grauen Alltag geht, sieht nicht, wie ungerecht er gegen Ursula wird, er ist schon so unzufrieden, dass er nicht merkt, wie verletzend seine Haltung Ursula gegenüber ist. Ursula:

... dass du hierbleiben musst, als Verpflichtetsein oder Fühlen gegenüber dem Kind, von mir redest du ja schon gar nicht mehr. Ich höre kein Wort davon, dass dir die Situation passt und dass du das Kind echt magst und was ich beobachte ist einfach, dass das doch auch da ist... zum Glück... Wenn ich mir überlege, was du da redest, finde ich das echt schlimm, da möchte ich meinen Hut nehmen und gehen...

Er spricht es zwar nie aus, er deutet es nur an, Ursula und Philipp stehen im Weg, ihnen schiebt er letztlich die Schuld an seiner Unzufriedenheit zu. Während Ursula die Beziehung zu ihm nicht abbrechen, sondern verändern möchte, macht er sie durch sein Verhalten unmöglich. Anstatt auf den kleinen zarten Worten und Gesten, die sie dann und wann noch austauschen, aufzubauen, anstatt ihrer verspielten Aufforderung nach «more love, more sex» nachzugeben, geht er zu einer Hure, bei der er für 50 Franken im Wagen abspritzen kann. Anstatt der Liebe zu seinem Kind, die immer wieder spürbar wird, nachzugeben, beschäftigt ihn der häusliche Pflichtenplan, den er nur schwer einhalten kann.

Südseereise ergänzt eine ganze Reihe von Filmen aus den letzten Jahren, in denen Frauen Beziehungen, den Übergang von den zärtlichen zu den hässlichen zwischenmenschlichen Kontakten, aus ihrer Sicht beschrieben. Er korrigiert zwar das in diesen Filmen gezwungenermassen einseitige Männerbild nicht, denn dieses Bild, auch wenn es Männer nicht allzu gern sehen, ist gar nicht zu korrigieren. Aber er schafft für Männer eine Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit sich selber. In Schroeders Bild des Mannes kann der männliche Zuschauer ein Spiegelbild entdecken, von dem er sich nicht angeekelt wieder abwendet. Während in den Filmen der Frauen die Männer bald einmal die Züge von Monstern annehmen und darum von den männlichen Zuschauern auch schneller abgelehnt werden, bietet Schroeder, ohne den Mann besser zu machen als er in den meisten Fällen auch ist, eine freche, witzige und anregende Selbstkritik.

Südseereise erinnert an zwei Filme von Rudolf Thome, an Made in Germany und USA und Tagebuch, wie diese ist er das Protokoll einer zwischenmenschlichen Beziehung, wie in diesen stellt der Filmemacher auch die Hauptperson, sich selber dar. Im Unterschied zu Thome trägt Schroeder seine Geschichte aus dem ganz privaten Bereich heraus. Die durch den ganzen Film hindurchgezogenen Gespräche zwischen Sebastian und Ursula sind zwar immer noch wichtigster Bestandteil; was dort ausgesprochen oder nicht ausgesprochen wird, illustrieren aber andere Teile des Films. Sebastians Verhalten, seine Sehnsucht wird dadurch einerseits verständlicher, andererseits entpuppt die Sehnsucht sich als ein falscher Fluchtversuch, als Unfähigkeit, mit den alltäglichen Anforderungen fertig zu werden. Ausgehend von seiner eigenen Geschichte hat Schroeder so einen Film über jenes männliche Verhalten gemacht, das gegenwärtig nicht wenige Beziehungen erschwert oder gar verunmöglicht.

Und dann — dies darf nicht unerwähnt bleiben — hat Schroeder einen phantasievollen Film gemacht, einen Film, in dem der Zuschauer, auch wenn es ihm bei den behandelten Problemen sonst eigentlich nicht ganz drum, ist, lachen kann, lachen über sich selber und über die verkrampfte Ernsthaftigkeit, mit der zwischenschliche Pannen manchmal besprochen werden. Schroeders Film ist empfehlenswerte Medizin für geplagte und frustrierte Männer.

Mitte April nun fährt Sebastian C. Schroeder tatsächlich in die Südsee, er wird dort als Kameramann an einem Film von Rudolf Thome mitarbeiten.

Südseereise oder das gleichzeitig am gleichen Ort stattfindende Glück, Schweiz 1978, 16 mm., s/w, 60 Minuten. P: Nemo Film AG Zürich; R, B, S: Sebastian C. Schröder; K: Hans Liechti, Rainer Klausmann; T: Florian Eidenbenz; best girl: Helen Vagnières; D: Sebastian C. Schröder, Ursula Klar, Philipp Nicolas, Eva Bischofsberger, Bice Curiger, Simone Hassler, Irene Hupfer, Hannes Ineichen, Marie-Therese Menzel, H. H. K. Schönherr; Uraufführung: Solothurner Filmtage 1978.

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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