MARTIN SCHAUB

KRAUT UND RÜBEN — MONTAGE VON DEUTSCHEN HAUPT- UND NEBENSACHEN

ESSAY

18. Oktober 1977: Ein unvergesslicher Fernsehabend: zum Schluss werden die Porträts der gesuchten deutschen Terroristen Schlag auf Schlag, wie Trumpf- oder «Bock»karten, auf den Bildschirm geklopft. An folgenden Tag hangen die Fahndungsplakate in ganz Deutschland und auch in der Schweiz; kurze Zeit später war darauf — sogar im kleinen Laden im Toggenburg — Christoph Wackernagel — irgendwie nicht nur das Bild von Christoph Wackernagel — mit fahrigen Kugelschreiberstrichen als erledigt durchgekreuzt.

Das Ende des Dialogs

Ein Deutscher, der im Dreiländereck seinen Wagen mit laufendem Motor anhielt, um sich auf der Strassenkarte seines Wegs zu versichern, riskierte schon eine Meldung an den nächsten Polizeiposten. Hans Schweizer (er heisst so, ist Maler und wohnt in der Ostschweiz) hingegen sagte mir, die sehen aus wie ich, oder ich sehe aus wie die. Das Denunziationsklima war das deutlichste Zeichen für das Ende des Dialogs. Die französische und italienische Presse sah braun, wenn sie von der Bundesrepublik schrieb. Günter Grass versicherte die Italiener in Mailand und die Franzosen in Paris, dass der Widerspruch in Deutschland noch immer möglich sei. Man glaubte ihm nur halb, denn täglich trafen Meldungen über abgesagte Theatervorstellungen, eingezogene Programmhefte, konfiszierte Alternativpublikationen, verschobene und kassierte Fernsehsendungen, Gerichtsurteile, Hausdurchsuchungen ein, die deutlich machten: ein Klima der Einschüchterung und der Angst, Verunsicherung der Opposition, Kriminalisierung der Kritik. Grenzüberschreitungen Schienen nicht mehr möglich zu sein, nur noch Klarheit, Sauberkeit, Unbescholtenheit.

Das Fernsehen verschob das «Missverständliche» in die spätesten Abendstunden: Ein Fernsehinterview mit Horst Mahler wurde am Tage vor den Beratungen des Bundestages über das neue Antiterrorgesetz zwischen halb zwölf und halb eins ausgestrahlt. Die Bundesrepublik bot in den Monaten nach dem Mord an Hanns Martin Schleyer das Bild eines Staates, der wieder sauber sein wollte, koste es, was es wolle; sogar den Grundsatz der freien Meinungsäusserung. Ich möchte Deutschland im Herbst in diesem — vagen — Rahmen sehen.

Die Gemeinsamkeit der an dem Projekt beteiligten Filmemacher war — von ihrem bisherigen Schaffen hergesehen — nicht zu hoch zu veranschlagen gewesen. (Die Stärke des jungen deutschen Films ist ja gerade die Verschiedenheit der Ansätze, Temperamente, Produktionsmodelle. Wie wenn sich da die Angst vor Gleichschaltung schon vor Jahren ausgedrückt hätte.) Gegen ein Instrument der Gleichschaltung richtet sich immerhin auch das Produktionsmodell dieses Films: Dass die Filmförderungsgremien (und die Fernsehanstalten) einen gewissen regulativen Einfluss auf die Entwicklung des deutschen Films gehabt hatten, begann man eben zu merken. Kurz vor dem ersten Plan für Deutschland im Herbst hatten sämtliche Gremien ein Projekt von Reinhard Hauff (mit einem Drehbuch von Peter Schneider) abgelehnt. Bezeichnend, dass Theo Hinz der Vater des Gedankens für einen Gemeinschaftsfilm ohne öffentliche Förderung war; er kommt aus jener Generation, die immer an die Eigenwirtschaftlichkeit gewisser Filme geglaubt hatte. Einmal kein «Gremienfilm», kein Opportunismus von Projektverfassern, keine Selbstzensur, sondern Besetzung eines Freiraums.

Von Anfang an war klar, dass man nicht nach dem Muster des italienischen Omnibus-Films des Neorealismus vorgehen wollte. Schon eher nahmen die Autoren Mass an Loin du Vietnam von Chris Marker, Alain Resnais, Claude Lelouch, Agnès Verda und Jean-Luc Godard.

Dennoch hat der Film jetzt zwei in sich geschlossene Episoden, die auch entsprechend durchhangen: die Grenzstationsepisode von Edgar Reitz und das Minimelodrama mit einer Pianistin und einem Verunfallten von Katja Rupé und Hans Peter Cloos. Diese beiden Episoden könnten fehlen in dem Film; sie haben sich in ihrer anekdotischen Verschlossenheit nicht in einen gemeinsamen Diskurs einbringen lassen.

Ausgrabungen für die Gegenwart

Unverkennbar ist alles von Alexander Kluge und Beate Mainka-Jellinghaus in einen Zusammenhang, in eine Ordnung gebracht worden. Zwischen zwei Beerdigungen, jener von Hanns Martin Schleyer (25. Oktober 1977) und jener von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jean-Carl Raspe (27. Oktober 1977) findet, nach einem erschütternden, extremen Vorspiel von und mit Rainer Werner Fassbinder, ein — lediglich durch die beiden genannten Episoden unterbrochener — Gedankengang statt. Das tertium comparationis, das Schleyer und die Terroristen berührt, ist die deutsche Geschichte. Die von Alexander Kluge erfundene Figur der Geschichtslehrerin Gaby Teichert wird zur Hauptfigur. Sie versucht, nicht nur die Hauptsachen (oder was Staat und Medien zu Hauptsachen erklären) wahrzunehmen, sondern auch die Nebensachen, die man manchmal zuerst ausgraben muss. Kluge zeigt Gaby Teichert mit einer Schaufel bewaffnet und sagt:

Entweder gräbt sie sich einen Unterstand für den dritten Weltkrieg, oder aber sie gräbt nach vorgeschichtlichen Funden.» Offenbar passt sie nicht genau in die nur in Hauptsachen und ahistorisch denkende Gegenwart: «Gaby Teichert hat mit ihrer Obrigkeit Krach. Zum Beispiel sagt der Schulleiter: Ihre Auffassung von der deutschen Geschichte ist Kraut und Rüben. Das ist in dieser Form für den Geschichtsunterricht ungeeignet. Gaby Teichert antwortet: Ich versuche, die Dinge in ihrem Zusammenhang zu sehen.

Gaby Teichert (Alexander Kluge) holt also Dinge in den deutschen Herbst und Winter herein, die «nicht dazugehören». Zum Beispiel: den vom Staat verordneten Selbstmord von General Erwin Rommel und den daraufhin heuchlerisch arrangierten Staatsakt für ihn (was einerseits zu Schleyer, andererseits auch zum Rommel-Sohn, Manfred, Oberbürgermeister von Stuttgart führt), den Untergang der Donaumonarchie und die Geburt des Deutschlandliedes, den Mordanschlag auf den König von Serbien in Marseille 1938, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, aber auch den SPD-Parteitag in Hamburg mit den Reden von Herbert Wehner und Max Frisch und die Herbstmanöver der Bundeswehr, «Standhafte Chatten».

Zu den Reminiszenzen kommen all die Beobachtungen, die Meinungen, die Geständnisse, die Randerscheinungen der Haupt- und Staatsaktionen: Fassbinders Angst und Auflehnung, das Hin und Her der Sympathien, die Aug-um-Auge-Logik und die Sehnsucht nach einem «autoritären Herrscher, der ganz gut ist und ganz lieb und ordentlich» (Fassbinders Mutter), Bilder des treuherzigen biedermeierlich romantischen Deutschland, das Requiem von Mozart, sowie Mercedes- und Esso-Embleme, die Trauerreden von Scheel und dem Vorsitzenden des Mercedes-Vorstands Zahn und Wolf Biermanns den Kitsch streifende Lieder, ein Interview mit Horst Mahler und ein Kurzkommentar dazu von Biermann, aber auch die Vorstellungen einer Frau von anderen möglichen Bildern dieses Herbstes, ihre Skepsis gegenüber den Gross- und Schönrednern, die eingeschüchterte und heuchlerische Welt des Fernsehens in einer Abnahme-Sitzung (der «Antigone»-Sketch von Schlöndorff und Böll, der hernach im Interview mit Oberbürgermeister Rommel wieder aufgenommen wird), die Grabstellen von Baader, Ensslin und Raspe, die Angehörigen von Gudrun Ensslin, das Wirtepaar Maier, das «das Beerdigungsessen für den Vater Ensslin durchführt», der Dornhaldenfriedhof, einzelne Spruchbänder, ein Ansatz von Rede, die Ratlosigkeit, das Auseinandergehen der jungen Teilnehmer, der deutsche Herbstwald mit berittener Polizei.

Kraut und Rüben, Haupt- und Nebensachen. Wer verstehen will, reagieren will, einen Stand finden will, wird alles zusammensehen müssen, die krassen, scheinbar unverrückbaren Realitäten und die sanften Nebensachen, die grossen Worte und die stumme Ratlosigkeit, die Erklärungen und die verlorenen Bemerkungen. Das ist es, was die zusammenarbeitenden Autoren von Deutschland im Herbst versucht haben: mit jenen alten und neuen Tönen und Bildern einen Gedankengang zu skizzieren, die starren Fronten aufzubrechen, wenigstens für die Dauer ihres Filmes, aber möglichst darüber hinaus, jene Offenheit herzustellen, in der vorläufige Gedanken und unordentliche Affekte nicht bestraft werden, wo man nicht lieber schweigt, «weil du ja nicht weisst, was in dieser hysterischen Situation im Moment mit irgendetwas, was du sagst, gemacht wird. Und deshalb, glaube ich, ich würde niemanden ermutigen zu diskutieren... Mich erinnert das wirklich an die Nazizeit, in der man einfach geschwiegen hat, um sich nicht in Teufels Küche zu bringen.» (Fassbinders Mutter).

So paradox es tönen mag, es ist doch offensichtlich: Deutschland im Herbst ist ein Film für und gegen jene, die in der jetzigen Situation nur noch eine mögliche Haltung sehen: die Selbstdisziplinierung. Und das sind jene, die der vordergründigen Grosspresse und den mehr denn je kontrollierten Medien ausgeliefert sind. Ihnen will Deutschland im Herbst Mut machen, eine Meinung und Affekte zu haben und zu zeigen.

Was sonst noch drin ist

Die Muster für die Erzähl- oder Argumentationsweise von Deutschland im Herbst finden sich in den jüngsten Buchveröffentlichungen von Alexander Kluge, diese spekulative, manchmal spielerische, die Phantasie anregende Montage, die im Leser oder Zuschauer Gedanken weckt, die er schon gar nicht mehr in sich spürt.

Darüber hinaus (oder darunter) bieten auch die einzelnen Bestandteile der Montage von Deutschland im Herbst (die Wörter sozusagen) schon den produktiven Widerspruch zu den konfektionierten Mitteilungen der Sprach- und Bilder-fabriken. Die Kamera holen, wo immer sie arbeiten, jene Details heran, die im «Heeresbericht» des Fernsehens keine Rolle spielen (dürfen).

Hier sind Bilder nicht einfach platte Beweisstücke, Aktualitätenbilder, die mit noch aktuelleren schon aus dem Gedächtnis gelöscht werden können. Sie haben atmosphärischen und rationalen Eigen- und Stellenwert. So perfekt die Zeremonie des Schleyer-Begräbnisses auf das Fernsehen ausgerichtet war, so automatisch findet ein Team, das nicht ins Ritual eingeweiht ist, andere Bilder, andere Gesichtswinkel, Nebensachen, die die Hauptsachen kommentieren oder ergänzen, jedenfalls stören Auch die einzelnen Bilder von Deutschland im Herbst wirken der Betonierung der Geister entgegen.

Deutschland im Herbst. Produktion: Pro-Jekt Filmproduktion im Filmverlag der Autoren, Hallelujah-Film, Kairos-Film, von Alf Brustellin, Rainer Werner Fassbinder; Alexander Kluge, Beate Mainka-Jellinghaus, Maximilian Mainka, Peter Schubert; Edgar Reitz; Katja Rupe, Hans Peter Cloos; Volker Schlöndorff, Bernhard Sinkel; Autoren: Heinrich Böll, Peter Steinbach; Kameras: Michael Ballhaus, Jürgen Jorges, Bodo Kessler, Dietrich Lohmann, Colin Mounier, Jörg Schmidt-Reitwein. 35 mm, Farbe, ca. 135 Minuten Uraufführung: 3. März 1978 an den Filmfestspielen Berlin.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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