MARTIN SCHAUB

IM SPÄTBOOT — MATERIALIEN ZU VIOLANTA

CH-FENSTER

Die Meyersche Novelle, die als Geschichte zugrunde liegt, wurde im 19. Jahrhundert geschrieben und spielt im Mittelalter Kari’s des Grossen. Das Drehbuch wurde im ausgehenden 20. Jahrhundert verfasst. Vielleicht reicht sie nun sogar hinunter ins Altertum der Gefühle, Empfindungen und Weissagungen. (Schmid, Anmerkungen zum Drehbuch)

Silver ist ein junger und starker Typ, melancholisch geworden durch die Erlebnisse in der Kindheit (im Haus der Travers, dem Ort des Geschehens), ein Zweifler also, der schliesslich zerbricht, an mehr gescheitert als am Schicksal von einzelnen Personen. Wir haben immer an James Dean gedacht. (Schmid, Anmerkungen)

Ein Teil der handelnden Personen (Simon, Adrian, Fortunat) sind zum Zeitpunkt der Handlung der Story eigentlich bereits tot. Sie treten jedoch nicht als Gespenster auf, sondern als in die unmittelbare Realität hineinspielende Rollenträger... (Schmid, Anmerkungen)

Die Marmorurnen setzen dir

Die Deinen — um dich zu vergessen,

Sie erbten, bauten, freiten unterdessen,

Du lebst in mir!

Wozu beweint?

Du lebst und fühlst mit mir vereint! (C.F. Meyer, Einer Toten)

Abweichend von der literarischen Vorlage wird für die filmische Gestaltung die Handlung zeitlich aus dem Mittelalter und der damit verbundenen reichlich komplizierten Konstruktion Meyers (in seiner bekannten Neigung zum grossen historischen Hintergrund, der mit den davor handelnden menschlichen Tragödien keine zwingende Identität aufweist) in ein erfundenes zeitloses Niemandsland in den Bergen verlegt. Aufgrund dieser zeitlichen Transponierung verschiebt sich auch der soziale Hintergrund entsprechend. (Schmid, Zur Behandlung des Stoffes)

Der Landschaftsszenerie sollte der Stellenwert eines «Spiegels des Menschen und der Geschehnisse» (Meyer) zukommen. (Schmid, Zur Behandlung des Stoffes)

Hugo von Hofmannsthal hat als erster auf die Gefahr von Meyers Kostümierungen hingewiesen. Die Neigung Meyers zur Geschichte ist leicht zu erklären aus dem Willen, eine Distanz zwischen die lebensvollen Gestalten und das eigene, abgestorbene Selbst zu legen. Meyer überlegt sich immer, in welcher fernen Zeit er einen eigenen Stoff ansiedeln könnte. Für ihn bleibt sich der Mensch gleich; es wechselt nur das Kostüm. Störend bleibt aber oft der Widerspruch zwischen den grossen Schauspielen der Macht und der Leidenschaft und der immer wieder durchbrechenden Bürgerlichkeit des Schreibers. Auch in der Richterin. Meyer macht sich immer wieder an Figuren, die ihm überlegen sind, und er stösst an die Grenzen der Psychologie. Er kommt nicht mehr mit.

All die leidenschaftlichen und wagemutigen Kerle in den Novellen sind Träume des Dichters.

Das Stichwort gibt Meyer in dem Gedicht Über einem Grabe selbst. Der Dichter steht am Grab eines Frühverstorbenen «Letzte Glut verrauscht in Wunschgestalten», sagt er, wenn sich der Rasen bewegt und der «abgemähten Jugend letztes Walten» einfällt.

Eine blasse Jagd:

Voran ein Zecher, In der Faust den überfüllten Becher!

Wehnde Locken will der Buhle fassen,

Die entflatternd nicht sich haschen lassen,

Lustgestachelt rast er hinter jenen,

Ein verhülltes Mädchen folgt in Tränen.

Durch die Brandung mit verstürmten Haaren

Seh ich einen kühnen Schiffer fahren.

(C.F. Meyer, Über einem Grabe)

Der Zürcher Dichter C.F. Meyer sitzt im Spätboot. Das Leben ist längst Vergangenheit. Die einzige Wirklichkeit für ihn ist die Kunst. Was als Kunst in Frage kommt, muss durch den Tod gegangen sein. Der «demon ennui» regiert. Die Seele ist unbeweglich geworden. C.F. Meyer weiss es. Was er tut, ist ihm immer wieder zutiefst suspekt.

Möwenflug

Möwen sah um einen Felsen kreisen

Ich in unermüdlich gleichen Gleisen,

Auf gespannter Schwinge schweben bleibend,

Eine schimmernd weisse Bahn beschreibend,

Und zugleich in grünem Meeresspiegel

Sah ich um dieselben Felsenspitzen

Eine helle Jagd gestreckter Flügel

Unermüdlich durch die Tiefe blitzen.

Und der Spiegel hatte solche Klarheit,

Dass sich anders nicht die Flügel hoben

Tief im Meer als hoch in Lüften oben,

Dass sich völlig glichen Trug und Wahrheit.

Allgemach beschlich es mich wie Grauen,

Schein und Wesen so verwandt zu schauen,

Und ich fragte mich, am Strand verharrend,

Ins gespenstische Geflatter starrend:

Und du selber? Bist du echt beflügelt?

Oder nur gemalt und abgespiegelt?

Gaukelst du im Kreis mit Fabeldingen?

Oder hast du Blut in deinen Schwingen?

Daniel Schmids Affinität zu C.F. Meyer scheint mir im Grunde nichts mit Graubünden zu tun zu haben, sondern mit der Tatsache, dass beide im selben Spätboot sitzen. Schmid hätte bei C.F. Meyer mehr erfahren können, als er gelernt hat. Wie kommt es zum Beispiel, dass er das Spiegel-Motiv so verschenkt hat? Das ist ein objektiver Mangel in diesem Film, den viele — hoffentlich nicht der Autor selbst — dem kritischen Zugriff wohl werden entziehen wollen. Mit dem Hinweis auf seine Magie.

Inszenierte Magie fehlt auch bei C.F. Meyer nicht. Im Mittelpunkt steht ein Föhnsturm. Der Föhn entfesselt die Leidenschaften, die «sündige» Lust. Schmid scheint das genau gespürt zu haben, schreibt er doch: In ständigem Kontrastverfahren ziehen grell-gelbe, dann wieder sanft-grüne und tiefblaue Bilderfolgen vorüber, die sich immer wieder plötzlich in «schwarzen» Sequenzen brechen. Orkanartig brechen Konflikte und Angst über den Protagonisten herein, wobei alle Rationalisierungsversuche und Ausweichmanöver ergebnislos sind. (Schmid, Zur Behandlung des Stoffes)

Es müsste versucht werden. spürbar zu machen, dass das eigentlich Schöne nur als erlittene Vorstellung existiert. Der Rest ist Verfolgung, und kein Gefühl ist reicher an Varianten als die Angst. (Schmid, Zur Behandlung des Stoffes)

Den unkonventionellen, neuen, persönlichen Film, der ihm verschwebte, hat Daniel Schmid nicht geschaffen, weil ihm die Kraft zur Analyse seiner Faszination durch C.F. Meyer fehlte. Gerade die analytische Arbeit Meyers, sein unheimlicher Kunstverstand hätten ihn herausfordern und vor der Konvention schützen können.

Im Spätboot

Aus der Schiffsbank mach ich meinen Pfühl.

Endlich wird die heisse Stirne kühl!

O wie süss erkaltet mir das Herz!

Violanta. Produktion: CH 1977/78; Condor Film Zürich, Artco-film Genf; R: Daniel Schmid; B: Daniel Schmid und Wolf Wondratschek, nach der Novelle Die Richterin von C. F. Meyer; K: Renato Berta; M: Peer Raben; Mo: IIa von Hasperg, Fee Liechti; T: Florian Eidenbenz; D: Lucia Bosé, Maria Schneider, Ingrid Caven, Lou Castel, Francois Simon, Raul Gimenez, Marilu Marini, Anne-Marie Blanc, Luciano Simeoni und Gerard Depardieu, und Bewohner von Soglio und Umgebung; 35 mm, Farbe, 95 Minuten.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]