HANS M. EICHENLAUB

HUIS CLOS IM SCHNEE — ÜBER MARKUS IMHOOFS TAUWETTER

CH-FENSTER

In einem kleinen Bahnhof irgendwo in den Bergen sind in dichtem Schneetreiben einige welsche Trainsoldaten damit beschäftigt, ihre Pferde zu verladen. Der WK geht zu Ende, es herrscht Aufbruchstimmung. In Gedanken sind sie schon weg, der eine beim Mittagessen im Bahnhofbuffet Chur, der andere zuhause, bei Liliane... Dann hört man ein langes, dumpfes Grollen, die Pferde trampeln und wiehern erschrocken. Die Kamera wird mit einem schnellen Schwenk nach oben gerissen — Schnitt — tosend geht ein Lawine zu Tal — Schnitt — Im Hotelsaal stürzen die Gäste aufgeregt ans Fenster, und die Wirtin meint lakonisch: «Jetzt ist es halt doch, wie ich gesagt habe. Ans Abreisen ist auf alle Fälle nicht zu denken.»

Damit beginnt für die Gästeschar — deutsche und Schweizer Touristen — im einzigen Hotel des Bergdorfes eine Zeit der Ungewissheit, die weniger von unmittelbarer Gefahr als vielmehr vom Umstand geprägt ist, dass niemand voraussagen kann, wie lange die unerwartetet Verlängerung der Skiferien dauern wird. Die Lawine hat die Zufahrtstrasse verschüttet, der andauernde Schneefall die Gefahr weiterer Lawinen vergrössert. Der Dorf teil jenseits des Baches wird sicherheitshalber evakuiert. Einige einheimische Familien sowie die Soldaten werden im Hotel untergebracht, die Touristen müssen zusammenrücken. So auch Jutta (Gila von Weitershausen) und Manfred (Arthur Brauss) — ein Zahnarzt-Ehepaar aus Frankfurt, seit acht Jahren verheiratet, mit achtjähriger Tochter Sandra — die das Kinderzimmer den Soldaten überlassen. Die Enge im überfüllten Hotel wird langsam übermächtig. Bei jeder Bewegung stosst man jemanden an, tritt jemanden auf die Füsse. Die dünnen Wände verunmöglichen jede Geborgenheit. Immer das Gefühl, nirgends allein sein zu können, ständig beobachtet zu werden. Die Eingeschlossenheit, dieser äussere Druck, hat für Jutta und Manfred zur Folge, dass sie, halb aus Spiel und Langeweile, halb im Ernst, über sich und ihre Beziehung nachzudenken beginnen. Die romantische Liebe der Studentenbudenehe von damals ist längst verflogen. Man begegnet sich in Klischees und abgegriffenen Gesten. Und die erneute Schwangerschaft hat Jutta unsicher gemacht. Immer mehr wird die innere Enge und Leere dieser Beziehung sichtbar. Die beiden streiten, ein Wort gibt das andere. Die Auseinandersetzung kulminiert in Vorwürfen. Jutta zu Manfred: «Die ganze Welt hast du verändern wollen und hast nur dich verändert.» Darauf Manfred zu Jutta: «Und du hast nicht einmal dich verändert, du hast einfach immer mitgespielt, du hast überhaupt nie etwas gemacht, nicht einmal — nicht einmal einen anderen Mann!»

Tags darauf kommt Jutta zu spät zum Nachtessen. Manfred hat längst begriffen, dass sie seinen Vorwurf als Aufforderung verstanden hat. «Eigentlich hab ich’s gemacht wie eine Straf auf gäbe», erklärt sie ihm zwischen Braten und Salat, doch Jean-Luc (Niels Arestrup), der Trainkorporal mit dem immertraurigen Blick, hat Feuer gefangen. Zwischen den beiden Männern beginnt das alte Spiel von Eifersucht und Verletztheit. Nur Jutta scheint etwas begriffen zu haben. Am Schluss reist sie ab, allein mit ihrer Tochter. Wie weit sie kommt, erfährt der Zuschauer nicht; schon am nächsten Bahnhof stehen die beiden Männer: Bei der grössten Spannung steht das Bild still. Ende!

Tauwetter ist erneut ein Gefängnisfilm. Wiederum besteht Fluchtgefahr, und einmal mehr kommt es zu einem Ausbruchsversuch mit sehr geringer Chance auf Erfolg.

Von Details und Details

Ich tue mich schwer mit Imhoofs neuem Film. Was ich an Tauwetter bewundere, ist die Kraft, mit der er diese innere und äussere Enge im eingeschneiten Bergdorf, die Kälte zwischen diesen so zur Nähe gezwungenen Menschen, sichtbar macht, wie er das Gefühl der Eingeschlossenheit dem Zuschauer erfahren lässt. Was mich ebenfalls überzeugt, ist die Art und Weise, wie das Sprachproblem, das sich ja bei Deutschschweizer Spielfilmen immer wieder stellt, souverän gelöst ist. Die Soldaten reden Französisch und bruchstückhaft deutsch, die Schweizer Hotelgäste Mundart und mit den deutschen Gästen Schriftdeutsch, wie man es halt in der Schule so gelernt hat, und die Einheimischen schliesslich unterhalten sich auf Rätoromanisch oder im Bündner Dialekt, sprechen aber mit den ausländischen Gästen und mit den Soldaten ebenfalls ein Schuldeutsch mit deutlicher Mundartfärbung. Diese «Vielsprachigkeit» wirkt völlig natürlich und authentisch.

Mühe macht mir dagegen die Grundkonzeption des Films, Imhoofs Erzählstil gewissermassen. Bei Fluchtgefahr hatte er die Formel geprägt: «In der Summe des Unnötigen entlarvt sich das Wesentliche.» Dass das zutreffen kann, hat er mit eben jenem Film eindeutig bewiesen. Für Tauwetter nun wurde die Formel modifiziert. «Ich muss das Wesentliche in der Summe der Nebensachen aufzeigen», schreibt Imhoof im Vorwort zur Pressedokumentation, und, verkürzt, steht im Dreharbeits-Tagebuch unter dem Datum des 30. Januars: «Das Wesentliche ist die Summe des Unnötigen». Und daran hat sich der Filmemacher denn auch konsequent gehalten. Einerseits durch die Aneinanderreihung von unzähligen Details auf der Bild- wie auf der Tonebene, anderseits durch den knappen Dialog und die fast beiläufige Inszenierung der Hauptfiguren. Das heisst, er liefert dem Zuschauer gewissermassen Mosaikstein für Mosaikstein. Nun gibt es aber wichtige und weniger wichtige Details. Das wird schon in der ersten Szene klar. Der Dialog zwischen den Soldaten und dem Bahnarbeiter ist nur fragmentarisch verständlich. Dem Zuschauer wird bedeutet, dass hier nicht jedes Wort zählt, dass die Satzfetzen zur Ambiance gehören, wie im folgenden viele Off-Dialoge auch. So hört man denn über dies und das hinweg, und plötzlich fehlen wichtige Mosaiksteine. Kommt dazu, dass die Tonqualität (sowohl bei der Pressevisionierung in Zürich wie in Bern) stark unterschiedlich ist, so dass einige Dialogstellen bei bestem Willen nicht verständlich sind. Dies mindestens ist meine Erfahrung.

Nach der ersten Visionierung des Films in Zürich hatte ich Mühe, den Motivationen einzelner Figuren zu folgen. Da schien mir einiges nicht ganz zusammenpassen zu wollen. Bei der zweiten Vorführung konzentrierte ich mich auf gewisse Passagen, bis ich dann die Mosaiksteine zusammenbrachte; richtig, wie die Drehbuch-Lektüre daraufhin verifizierte. Doch das Problem der Details liegt nicht nur auf der Ton- und Sprachebene.

Imhoof wundert sich, dass es Filmkritiker gibt, die nicht bemerken, dass Jean-Luc, wenn er mit Jutta aus dem Stall-Zelt tritt, Juttas blaugeringelte Wollmütze trägt. Die Blitzumfrage nach der Berner Pressevorführung unter Kinoleuten und Kritikern hat, wie Imhoof weiss, erneut ergeben, dass kaum einer diesen Tausch mitbekommen hat, einen Tausch der ja am Schluss des Films seine Entsprechung findet, wenn Manfred Jean-Lucs Militärmantel trägt. Ein zweites Beispiel: Juttas Empörung über Jean-Luc, als die beiden im Wagen in den andern Dorfteil hinüberfahren, wird nur erklärbar, wenn der Zuschauer bemerkt, dass Jean-Luc trotz des eingebundenen Fusses nicht hinkt, wenn er aussteigt, um die Brücken-Absperrung zu entfernen.

Solche Details müssen erkennbar sein, müssen wahrgenommen werden können. Nur so ist der Zuschauer in der Lage, sie zum Wesentlichen zu summieren. Ich gebe Imhoof völlig recht, wenn er sagt, im Kino einen Film anzusehen, müsste so lebensgefährlich sein wie Autofahren, müsste dieselbe Aufmerksamkeit erfordern. Aber um ein Auto zu lenken absolvieren wir eine Prüfung! Und beim Autofahren bewahrt uns die zunehmende Routine vor Unfällen, im Kino aber macht Routine blind. Ich wünsche Tauwetter möglichst viele «sehende» Zuschauer.

Tauwetter. Premiere: 22. Oktober in Scuol und Lavin. Produktion: Limbo Film AG, Zürich; in Koproduktion mit Solaris OHG, München. Buch und Regie: Markus Imhoof. Drehbuchmitarbeit: Claude Chenou. Kamera: Gerard Vandenberg. Ton: Vladimir Vizner. Schnitt: Marianne Jäggi. Regieassistenz: Adrian Marthaler. Beleuchtung: Willy Kopp. Austattung: Dani Bodmer. Produktionsleitung: Rene Egger. Aufnahmeleitung: Peter Spöri, Edi Hubschmied. Herstellungsleitung: George Reinhart, Peter-Christian Fueter. Darsteller: Gila von Weitershausen, Diana, Arthur Brauss, Niels Arestrup, Lotte Lang, Irene von Lichtenstein, Gerda Schweizer, Herbert E. Meyer, Joos Heintz, Kurt Meier, Marlies Mühlemann, Arthur Mühlemann, Roger Jendly, Yves Räber, Jacques Michel, Daniel Gubler, Eric Berthoud, Jean Claude Bocherens, Tina Cuorad sowie 90 der 130 Einwohner von Lavin. Drehzeit: 12. Januar bis 7. März 1977 in Lavin. Susch, Sent und Pontresina. 35 mm., Farbe, 100 Minuten.

HUIS CLOS DANS LA NEIGE

Dans un petit village de montagne, les habitants, des touristes et quelques soldats sont bloqués par une avalanche. Une partie du village est évacuée, tout le monde se bouscule dans le petit hôtel. Un couple allemand avec leur fille évacue la chambre de l’enfant pour les soldats. Dans l’étroitesse inattendue, le couple commence à s’interroger, à se quereller finalement. Le mari reproche à sa femme de n’avoir rien «réalisé» toutes ces années de leur mariage, même pas un autre homme. Le lendemain, la femme «rattrape» ce qu’elle a manqué; elle touche avec un des soldats. Entre les hommes, le vieux jeu de la jalousie et de la vulnérabilité commence. Tous les trois sont finalement littéralement enfermés. La femme devient consciente de ce qui se passe avec eux et avec elle; elle part avec sa fille, mais à la première gare, les deux hommes l’attendent.

L’étroitesse, le froid et le climat du danger dans Le Dégèle, deuxième long-métrage de Markus Imhoof convainquent. Le problème linguistique est résolu comme dans peu de films suisses alémaniques; chaque personnage parle sa langue. Les difficultés du spectateur résident en la forme de narration qu’lmhoof a choisie. «L’essentiel se démasque dans la somme des banalités», dit le metteur en scène à propos de «Risque d’évasion». Maintenant, il modifie: «L’essentiel, c’est la somme des banalités». Le film de Markus Imhoof est une mosaïque de banalités. Imhoof risque les malentendus à cause de la manière passagère avec laquelle il met en scène ces banalités, surtout en ce qui concerne le son. Imhoof dit que regarder un film devrait impliquer presqu’un danger de mort. Ce danger nous rendrait attentif. Mais, pour les spectateurs, les salles de cinéma ne sont pas si dangereuses. (msch.)

Hans M. Eichenlaub
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(Stand: 2020)
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