MARTIN SCHAUB

ROMAN HOLLENSTEIN

CH-FENSTER

Viele hatten ihn immer wieder gefragt: Ist er jetzt fertig, Dein Film? Ich möchte ihn sehen. Und lächelnd — ich habe Roman Hollenstein nie verschlossen, unnahbar gesehen — sagte er jedes Mal, es wird schon werden. Er habe eben gerade noch eine neue Möglichkeit entdeckt. Oder: es sei halt verdammt schwierig. Ganz am Schluss muss es der sprichwörtliche Galgenhumor gewesen sein; aber der sah nicht anders aus als jener, an den man sich bei ihm gewöhnt hatte. Einmal, im Frühling dieses Jahres, als der Film nicht mehr weiterkam, hat er ein paar Freunde zusammengerufen, hat sich mit ihnen beraten, hat seiner Angst und auch seiner Verärgerung ein bisschen Luft gemacht. Dann ging er wieder an die Arbeit. Tag und Nacht zuletzt — Schneidetisch, Kaffee und Biscuits; alles, was nicht dieser Film war, begann zu stören. Und der Film Und scheint die Sonne noch so schön oder 1983 1/2 oder Je-ka-mi war verschiedene Male «fertig»; nicht für Roman Hollenstein selber, der mit dem Produkt und zuletzt mit sich unzufrieden war.

Über ein Jahr hatte der Filmemacher über ein Thema recherchiert, das schon in seinem ersten langen Film, «Freut Euch des Lebens», vorhanden war, über die Fabrikation von Normen. Im Exposé zu dem Film spielte die Kaninchenzucht eine grosse Rolle: Hollenstein hatte an Ausstellungen die «Zuchterfolge» von Tierhaltern gesehen, die sich in beängstigender Weise von der Natur entfernten; er hatte staunend und erschreckt gelernt, wie diese «Erfolge» gemessen und bewertet werden. Mit den Tieren konnte man Mitleid haben, aber hinter den Tieren und nach den Tieren? Von Genmanipulationen war in jener Zeit mehr die Rede als heute. (Vielleicht, weil man zur Praxis übergegangen ist?) Die Zuchttiere anschauend, begann sich Roman Hollenstein über die Zucht und die «Selbstzucht» der Menschen Gedanken zu machen. Das alles sah im Exposé noch nach einer bösen Satire aus. Nicht mehr in der Drehvorlage, die er nach einem Jahr Recherchen vorlegte. Es war ein dickes Buch, eine Materialsammlung, ein Steinbruch, Stoff für ein Dutzend Filme. Die Kaninchen kamen nur noch am Rande vor. Während den Recherchen war Roman Hollenstein das Hauptthema aufgegangen: Leistungszwang und Leistungsprinzip, gesellschaftliche Norm, Wünsche und die irrsten Versuche, mit unzulänglichsten Mitteln Norm und Wunsch zu erfüllen.

Auch die Dreharbeiten dauerten — mit Unterbrechungen — ein Jahr. Bei Spielern, Sportlern, Naturisten, an der «Volksolympiade», eigentlich überall, wo Roman Hollenstein seinem Thema nachspürte: befremdende, beängstigende, groteske Bilder. Beim Engadiner Ski-Marathon kotzende Läufer, Erschöpfungszustände, ein von den Organisatoren verschwiegener Toter. Im Naturisten-Camp ein alter, sonnengegerbter Herr, der sein «Lebensgeheimnis» preisgab: sexuelle Abstinenz. An der «Volksolympiade» Teilnehmer, die über die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit hinausgingen, als ob ihr Leben davon abhängen würde. Das war so irr, wie es sich Hollenstein nicht vorgestellt hatte.

Dann sass er vor seinem Material mit der Aufgabe, die «perversesten», die Unmenschlichkeit streifenden menschlichen Äusserungen in einen menschlichen Diskurs zurückzuführen; hinter den Fitness-Krampfern die versteckten Antreiber zu sehen; die Sisifusse gegen ihre Götter zu verteidigen; kritisch zu sein und verständnisvoll, aggressiv und gerecht; innen und aussen. Im Vertrauen auf die unbeschränkten Möglichkeiten des Denkens mit Bildern in der Montage hatte Hollenstein nicht nur gerade das gefilmt, was seinem Konzept, seiner Tendenz, seinem Ziel diente. Vor einem Jahr hat er für das vom Kellerkino herausgegebene Buch «Dokumentarfilme aus der Schweiz» geschrieben:

Es geht ja nicht nur darum, dass man sich als Filmemacher selbst während der Zeit der Realisation verändert: dass man bei der Fertigstellung an einem anderen Punkt steht als zu Beginn. Die Montage bekommt so für mich einen anderen Stellenwert. Sie ist nicht dazu da, vorhandenes Material nach alten, einmal festgelegten Richtlinien zu verarbeiten, sondern neue, schöpferische Aspekte zu ermöglichen... Konzepte sind dazu da, dass sie wieder vergessen werden können.

Im gleichen Text heisst es später:

Dokumentarfilme sind notwendiger denn je — besonders auch in einer Zeit, in der die Fernsehprogramme dazu neigen, unter dem Deckmantel der ‘Ausgewogenheit’ dem Zuschauer wichtige Informationen vorzuenthalten und ihn so zu bevormunden, seine Urteilsfähigkeit von vornherein in Abrede zu stellen. Diese Tendenz rückt In gefährliche Nähe von sehr un-liberaler Manipulation.

Roman Hollenstein wusste ziemlich genau, was er wollte und weshalb er es wollte. Er hat sehr viel von sich gefordert. Das Unmögliche.

Hinter seiner lächenden Heiterkeit verbarg Roman Hollenstein wohl immer die gleiche Sorge: ob es menschenmöglich sei, das Unmenschliche in einen menschlichen Diskurs zu bringen. Er glaubte daran bis zu einem bestimmten Moment. Da hat er ein Ende gemacht.

Wie er an seinem Film gearbeitet hat, wie er sich nie zufrieden gab, wie er nichts aus der Hand geben konnte, was noch nicht das war, was er wollte und woran er glaubte, zeigt auch, wie zentral für ihn die Thematik aller seiner Filme war, des Kurzspielfilmes Sisifus, in dem ein junger Mann seine Zimmereinrichtung zusammenschiesst, weil er sich sonst selber erschiessen müsste, und der beiden Dokumentarfilme, in denen von der Überwindung der Umstände und seiner selbst die Rede ist, von der Sehnsucht nach dem Perfekten, nach dem Resultat, das über jeden Zweifel erhaben ist, von den Umwegen und Irrwegen dieser Sehnsucht.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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