HANS M. EICHENLAUB

«ALTWERDEN IST DAS UNERWARTETSTE, DAS EINEM PASSIEREN KANN» — DIE PLÖTZLICHE EINSAMKEIT DES KONRAD STEINER VON KORT GLOOR

CH-FENSTER

Als mir Kurt Gloor vor einigen Jahren an einer Filmarbeitstagung auf dem Rügel (Evangelisches Begegnungszentrum im Aargau) erzählte, er wolle einen Film über einen alten Mann, einen Schuhmacher und seine Probleme, drehen, war ich erstaunt und skeptisch. Mit Gloors bisherigen Filmen vor Augen sah ich bereits einen lauten, plakativen Film mit Rentnerdemonstrationen auf der Bahnhofstrasse, mit harten Diskussionen, mit Angriffen gegen Altersheimverwalter und Fürsorgebeamten.

Umso grösser war die Überraschung am Eröffnungsabend der diesjährigen Berlinale, als Kurt Gloor mit seinem ersten Spielfilm ein stilles, von einer eindrücklichen Sensibilität geprägtes Werk präsentierte. Dieser Eindruck hat sich bei einer zweiten und dritten Visionierung des Filmes bestätigt, auch wenn im formalen Bereich einige Vorbehalte aufgetaucht sind.

Gloor hat noch nie bequeme Filme gemacht. Seine Werke haben noch allemal geharnischte Reaktionen, aber auch begeisterte Zustimmung provoziert. Sein dokumentarisches Schaffen von «fft» bis zu «Die besten Jahre» war immer durch eine kritische Optik und einen pointierten Standpunkt gekennzeichnet. In seinem ersten Spielfilm wendet sich seine Kritik der Haltung unserer Gesellschaft gegenüber einer zahlenmässig wachsenden Randgruppe, den alten Leuten, zu. Der Ausspruch des Fürsorgeministers der Stadt Bologna, Ermanno Tondi, «Der alte Mensch ist ein Kulturgut. Eine Gesellschaft ohne alte Menschen ist wie ein Mensch ohne Gedächtnis», wird gewissermassen zum Leitmotiv des Filmes. Am Fall des Schuhmachers Steiner macht Gloor exemplarisch die Hilflosigkeit sichtbar, mit der wir den alten Leuten begegnen. Das Gefasel der Stadträtin, die aus Anlass des Geburtstages einer Altersheiminsassin plumpe Unverbindlichkeit im Stil «Wohlbehagen in der dritten Jugend» von sich gibt oder die Sozialbeamtin, die der jungen Sozialhelferin ihr übermässiges Engagement im Fall Steiner übelnimmt und im selben Atemzug die Seniorencenters (ein bezeichnend hässlicher Ausdruck) als Ideallösung für Steiner in Betracht zieht, sind beredte Beispiele.

Von der Themenwahl her hat sich Gloor kaum auf risikoreiche Pfade begeben. Er wird von allen Seiten mit Zustimmung rechnen können, wenn er unserer Gesellschaft ankreidet, für die Alten kein echtes Verständnis aufzubringen, sie durch die Fürsorgemechanismen unmündig zu machen, ihnen ihr Selbstwertgefühl zu nehmen. Was ihm angekreidet werden könnte, ist, dass er als Demonstrationsobjekt so etwas wie einen Sonderfall gewählt hat: Steiner ist als gewissermassen Freischaffender, als Handwerker ein Privilegierter, der über die Pensionierungsgrenze hinaus seinem Beruf nachgehen konnte und sich so bis ins höhere Alter ein gutes Mass an Aktionsfähigkeit und Selbstbewusstsein erhalten hat. Steiner sagt nach dem Verlust seiner Frau, seiner Wohnung und seines Arbeitsplatzes einmal: «I bi no nid alt, i ha nur Pech gha» und charakterisiert so deutlich seine eigene Einschätzung der Situation. Gloor erklärt die Ansiedlung seiner Hauptfigur im städtischen Handwerkermilieu mit dem Hinweis auf einem alten Onkel, der Schneider war, und dessen Geschichte ihn zu diesem Film inspiriert hat.

Gloors Steiner wird dem Zuschauer im Lauf des Films bald einmal sehr vertraut. Die Identifikation wird leicht gemacht. Jeder kennt wahrscheinlich einen Steiner, man erinnert sich an Verhaltensweisen, an «Mödeli» des Grossvaters oder eines alten Nachbars. Ich denke unter anderem etwa an die Art und Weise, wie Steiner seinen Milchkaffee aus der Untertasse schlürft. In solchen Details erweist sich Gloor als sensibler Beobachter. Für mich ist Steiner allerdings da und dort eine leichte Spur zu gewitzt. Ich habe mich gefragt, ob seine Handlungen immer seinem Naturell entsprechen, doch der zügige Rythmus des Filmes lässt einen solche Gedanken vergessen. Gloor sagt klar, dass er seine Hauptfigur mit den Augen eines Jungen sehe, für ihn könnte Steiner so etwas wie ein Vorbild sein.

In einem Interview erklärte er mir:

... Für mich war es wichtig, zu sehen, wo diese Figur eine Chance zur eigenen Freiheit hat. Wenn man diese Geschichte konsequent durchdenkt, hat er diese Chance eigentlich nie. Nur am Schluss kann er ausbrechen, da wird ihm klar, dass er alles verloren hat, was ihm lieb ist, und dass er nichts mehr zu verlieren hat. Ich würde mir wünschen, dass noch mehr ältere Menschen in der Lage sind, einen so konsequenten Schritt zu tun, wie das mein Konrad Steiner tut; nicht dass sie den gleichen Schritt tun müssten, aber dass sie noch so viel Energie aufbringen, um sich zu wehren.

Spätestens hier ist nun von der grossartigen Schauspieler-Leistung Sigfrit Steiners zu sprechen. Der Präzision von Gloors Schauspieler-Führung, der Steiner auf den Leib geschneiderten Rolle und der Präsenz Steiners ist es zu verdanken, dass Konrad Steiner durch und durch echt erscheint. Das verhaltene, einfühlsame, zaghafte Auftreten von Silvia Jost als Sozialhelferin Claudia trägt zum guten Gesamteindruck bei.

Endlich ein Dialektfilm, der diesen Namen verdient

Das Sprachproblem im Deutschschweizer Film darf als bekannt vorausgesetzt werden. Die Wahl zwischen Dialekt und Hochsprache, die Entscheidung, welchen Dialekt oder welche Art der Hochsprache, muss für jeden Film neu getroffen werden, und sie wird kaum je einem Autor leichtfallen. Gloor hat sich für den Dialekt entschieden. Das allein ist angesichts der verschiedenen diesbezüglichen Hypotheken schon sehr mutig. Dazu Kurt Gloor im bereits erwähnten Interview:

Grundsätzlich ist Dialekt meine eigene Sprache. Wir sind in der Schweiz, wenn man so will, sprachlich kolonialisiert. Was wichtig ist, oder was man glaubt, das wichtig ist, das wird in Hochdeutsch gesagt, was weniger wichtig ist, wird in Mundart gesagt. Das sieht man zum Beispiel beim Fernsehen: Von der Tagesschau an aufwärts ist Hochdeutsch, tagesschauabwärts ist Mundart die Regel. Ich wehre mich entschieden gegen diese sprachliche Kolonialisierung. Wenn wir uns mit unserer eigenen Realität befassen, dann ist es wichtig, unsere eigene Sprache als einen wesentlichen Bestandteil dieser Realität zu sehen. Es hat mich gereizt, gegen die Hypothek des traditionellen Dialektfüms anzurennen, um zu versuchen zu zeigen, dass Dialekt im Film auch unpeinlich sein kann. Es gab einige Leute, die mit betretenem Schweigen reagierten, als ich ihnen sagte, dass ich an einem Dialektfilm arbeite. Es braucht ja nicht immer gleich Wollenberger, Suter, Gmür und Coä zu sein! Ich bin gespannt, ob das junge Publikum den Dialekt überhaupt noch als etwas Selbstverständliches empfinden kann.

Ich glaube, Gloor hat mit der Gestaltung seiner Filmsprache, seiner Dialoge ausreichend dafür gesorgt, das das Publikum, nicht nur das junge, den Dialekt als selbstverständlich empfindet. Hier sind die Protagonisten nicht Dauerschwätzer, die schön gegossene, in sich stehende Sätze von sich geben. Die Sprache ist manchmal derb, vor allem aber sparsam, die Dialoge bestehen aus Satzfragmenten, Wortfetzen, Banalsätzen (Steiner nach dem Tod seiner Frau: «Wenn eis got, isch s'ander elei»), sie leben von Andeutungen und Aussparungen. Es ist wahrscheinlich die Kargheit der Sprache, die mich diesen Dialekt als stimmig empfinden lässt. Kommt dazu, dass Gloor die Schauspieler je in ihrer eigenen Mundart reden lässt, so wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, was der Homogeneität des Films keinerlei Abbruch tut, was der Sprache aber jene Netürlichkeit gibt, die man etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, bei Louis Jents Die Magd so schmerzlich vermisst.

Die eingangs angetönten formalen Vorbehalte gelten der Musik und in weit geringerem Masse der Kamera. In einigen Sequenzen treten für Augenblicke Unscharfen auf, was besonders störend wirkt, wenn es sich um Steiners Gesicht in Grossaufnahme handelt. Entscheidender ins Gewicht fällt Gloors Einsatz der Musik. Selbst als musikalisch völlig ungebildeter Laie empfinde ich die Musik als zu aufdringlich, zu vordergründig, zu schwülstig auch in einigen Szenen. Dadurch zerstört sie die Wirkung, die Atmosphäre, die vom Bild ausgeht. Gloor ist offensichtlich der Verlockung erlegen, erstmals mit eigens für seinen Film geschriebener Musik arbeiten zu können.

Abgesehen von diesen Einwänden ist Gloor mit Die plötzliche Einsamkeit des Konrad Steiner ein überzeugender Spielfilmerstling gelungen. Die Bilanz fällt noch positiver zu Gloors Gunsten aus, wenn man so etwas wie eine Aufwand-Ertrags-Relation anstellt und mit den drei epischen Filmen des Fernsehens DRS, mit Der Stumme, Riedland und Die Magd vergleicht, die alle vom Produktionsbudget her im gleichen Rahmen liegen. Da sticht Gloor halt überdeutlich heraus, seine vier Jahre Recherchen, «Finanzdiplomatie und Geldakrobatik» (Gloor) haben sich gelohnt.

Dass Gloor dem Publikum keine Lösungen anbietet, versteht sich von selbst. Gloor:

Der von mir gewählte Schluss ist keine Lösung, weil es auch keine Lösung gibt, keine geben kann; es ist eben ein Ausweg. Es bleibt völlig offen, ob der Mann bereits nach einer Woche wieder zurückkommt, oder ob er in den Süden geht und sich dort umbringt. Im besten Fall, wenn er sein Geld durchhat, kommt er zurück, und dann steht er wieder vor der genaugleichen Situation wie vorher. Der Schluss ist ganz bewusst vollkommen offen.

Mit andern Worten, spätestens wenn Steiner im Süden die 39 210 Franken, die er von seinem Depositenheft abgehoben hat, ausgegangen sind, wenn ihm die Sonne verleidet ist und ihm Fisch und Wein so langsam zum Hals heraus hängen, ist eventuell mit einem neuen Schweizer Film zu rechnen: «Die plötzliche Rückkehr des Konrad Steiner»!

«VIEILLIR EST CE QUI PEUT NOUS ARRIVER DE PLUS INATTENDU»

Dans son premier long-métrage de fiction, Kurt Gloor examine l'attitude de notre société face aux personnes âgées. La citation du Ministre des Affaires sociales de Bologne, Ermanno Tondi — «La personne âgée est un patrimoine culturel. Une société sans personnes âgées est comme un homme sans mémoire». — est en quelque sorte le fil conducteur du film. En prenant le cas du cordonnier Steiner, Gloor rend visible de façon exemplaire, à quel point notre attitude face aux personnes du troisième âge est maladroite. Son film est une œuvre retenue, aux atmosphères denses, et marquée par une sensibilité impressionnante. L'utilisation particulièrement heureuse du dialecte suisse-allemand mérite d'être relevée. Contrairement à d'autres films de ce genre, les protagonistes ne sont pas des bavards qui déversent sur le spectateur des flots de phrases bien tournées. Le langage est parfois rude, les mots parcimonieux, les dialogues sont faits de bouts de phrases, de mots de tous les jours, d'allusions, de sous-entendus qui laissent deviner bien des choses sans jamais les exprimer. Et, en plus, chaque comédien peut s'exprimer dans son propre dialecte, source de richesse supplémentaire. La musique originale, par contre, est moins réussie: l'orchestration est souvent trop insistante, se glisse au premier plan, détruisant ainsi, par suraccentuation, l'atmosphère délicate qui se dégage de l'image. Somme toute, La soudaine solitude de Konrad Steiner est une œuvre convaincante, et lorsqu'on plus on la compare aux trois films produits par la télévision suisse-alémanique dans sa série sur la littérature épique suisse et dont les budgets sont comparables à celui de Steiner, notre jugement devient encore plus positif. (AEP)

Hans M. Eichenlaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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