MARTIN E. GIROD

LIEBE

ESSAY

Man hat Liebe als einen Wendepunkt im bulgarischen Filmschaffen bezeichnet. Dabei darf man nicht vergessen, dass vieles, was in diesem Film in die Augen sprang, sich im bulgarischen Film (und der Literatur) nach und nach vorbereitet hatte. Trotzdem überraschte der Film aus mehreren Gründen.

Zum einen scheint er auf den ersten Blick eine ausgesprochen private Geschichte zu erzählen, in der die sozialen und politischen Problemstellungen im Hintergrund bleiben. So gesehen ist Liebe die Geschichte einer jungen Krankenschwester, Maria, die sich mit ihren Eltern nicht mehr versteht und schliesslich, durch die Nachricht vom Tod ihrer verehrten Tante erschüttert, ausbricht. In den Bergen unweit von Sofia findet sie Zeit, ihre Gefühle und Beziehungen neu zu durchdenken und zu ordnen.

Zum anderen steckt in dem Film aber auch die Suche nach einem neuen, sozialistischen Glücksbegriff. Die Tante als alte Kommunistin und Ärztin, die allein lebt, seit ihr Mann von den Faschisten umgebracht worden ist, und die selbst als Freiwillige in Vietnam umkommt, verkörpert die alte Generation, die in ihrem Kampf und ihrer Arbeit aufging. Marias Eltern sind als Gegenbild dagegengesetzt; ihr Begriff des privaten Glücks ist darauf reduziert, dass sie sich — nach früheren Entbehrungen — nun vieles anschaffen können. Zwar verehrt Maria ihre Tante und hasst ihre Eltern, doch der Tod der Tante symbolisiert zugleich das Ende einer Lebensauffassung, die (notgedrungen) Befriedigung nur im kämpferischen Einsatz für eine grosse Aufgabe fand. Maria muss die Realisierung ihrer (hohen) Glücksvorstellungen neu suchen.

Zum dritten verblüffte der Film 1972/73 formal. Während die Erzähltradition der bulgarischen Literatur und des bulgarischen Films weitgehend der Struktur des kontinuierlichen Dahinfliessens verpflichtet war, sind in Liebe die Zeitebenen in einer harten Montage durcheinandergeschnitten. Die Sprünge haben nicht einmal mehr die Form der erzählerischen Rückblende, sondern das Vergangene bricht unvermittelt in das Gegenwärtige ein, da dies der Vergangenes und Gegenwärtiges überdenkenden Geistesverfassung Marias entspricht.

Obitsch, 1972. Regle: Ludmil Staikow. Drehbuch: Alexander Karasimeonow nach seinen gleichnamigen Roman. Musik: Simeon Pironkow. Kamera: Boris Janakiew. Dekor: Maria Iva-nowna. Darsteller: Violeta Donewa (Maria), Newena Kokanowa (Irina), Iwan Kondow (der Vater), Nikolai Binew (der Geschäftsführer), Stefan Danailw (Nikolai), Banko Bankow (Stefan), Andrei Tschaprasow (der Architekt), Katja Dinewa (die Mutter). Farbe. Produktionsgruppe: Mladost.

AFFECTION

«Affection est un magnifique démenti opposé à toutes les 'affirmations' que le cinéma socialiste serait en général sans conflits, sans 'accrocs' et que ses personnages appartiendraient à un seul type. Je considère qu'Affection est un document artistique réussi des transformations sociales et morales immenses s'étant opérées dans le monde spirituel de vos hommes.»

Akira Kurosawa (dans une interview avec la revue Films Bulgares)

Martin E. Girod
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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