BERNHARD GIGER

UNTER DER BRÜCKE — ERSTE BEMERKUNGEN ZU SCHATTEN DER ENGEL VON DANIEL SCHMID

CH-FENSTER

Der Film lief in Solothurn in einer Werkstattfassung. Die Farbbestimmung muss erst noch vorgenommen werden, vielleicht werden noch Schnitte angebracht, vielleicht auch Zwischentitel eingesetzt. Zudem musste die Projektion aus technischen Gründen zweimal unterbrochen werden, was sich vor allem beim ersten Unterbruch als Nachteil erwies. So unfertig der Film ist, so unfertig muss auch eine erste kritische Beschäftigung mit ihm ausfallen.

Fassbinder und Schmid

Daniel Schmids dritter langer Film ist anders als die ersten beiden — es wird in diesem Film sehr viel gesprochen, es finden richtige Gespräche statt, der Film hat mehr Bewegung und ist straffer inszeniert. Zugleich ist er den ersten beiden sehr ähnlich: die alles zerstörende Traurigkeit, das Leiden an der Liebe, der Tod als Erlösung, diese melodramatischen Elemente sind in allen Schmidfilmen enthalten.

Dass Schatten der Engel viel mehr eine Geschichte erzählt als nur einen Zustand illustriert wie die früheren Filme, dass er nicht mehr nur Stimmungen aufbaut und dass er nicht mehr nur eine Traummaschine ist, das liegt einerseits sicher in den Erfahrungen, die Schmid mit seinen anderen Werken gesammelt hat, das liegt daran, dass er — wie er selber sagt — erstmals wirklich «professionell» arbeiten konnte. Andererseits wäre aber Schatten der Engel niemals so herausgekommen, wenn da nicht Rainer Werner Fassbinder gewesen wäre. Fassbinder hat die Dialoge geschrieben, er selber spielt eine der Hauptpersonen und auch die meisten anderen Darsteller kennt man aus seinen Filmen.

Dass Schmid und Fassbinder einmal so eng zusammenarbeiten würden, lag auf der Hand. Schmid war stets in Kontakt mit der Fassbindergruppe, er spielte mit in Der Händler der vier Jahreszeiten, in seinen Filmen traten Fassbinderdarsteller auf, neben Ingrid Caven, Peter Kern, Peter Chatel und Harry Bär.

Auch mit einem anderen deutschen Filmemacher verband Schmid sowohl persönlich als auch in den Filmen vieles, mit Werner Schroeter. Konnte aber bei Heute Nacht oder nie noch von einer deutlich ersichtlichen Ähnlichkeit gesprochen werden, boten sich schon bei La Paloma Vergleichsprobleme, und Schatten der Engel nun erinnert kaum mehr an Schroeter. Das ist schon nur an der Musik zu erklären. Während Schroeter und Schmid in seinen ersten beiden Filmen auf Bestehendes zurückgreifen, auf Opern zum Beispiel oder alte Schlager, wird in Schatten der Engel — neben einigen älteren Stücken — für den Film von Peer Raben komponierte Musik eingesetzt, richtige Filmmusik also.

Natürlich werden Schroeters Filme von den gleich kuriosen Randgestalten bevölkert wie Schmids Filme, aber mit Schatten der Engel hat Schmid ein viel klareres Verhältnis geschaffen zu diesen Figuren, als dies Schroeter tut. Schmids Figuren sind nun nicht mehr Traumgestalten, sie sind durchaus realistische Wesen, Symbolfiguren extremer Verhaltensweisen. Das führt zu Fassbinder zurück.

Die Zusammenarbeit zwischen dem «unschweizerischen» Schmid und dem manchmal penetrant deutschen Fassbinder kann als gelungen bezeichnet werden. Es ist tatsächlich ein Schmid-Fassbinder-Film entstanden, soviel ich weiss, ist das ein filmgeschichtlich seltenes Ereignis. Es ist aber gleich auch zu sagen, dass die Behauptung, Schatten der Engel sei ein «deutscher» Film, sicher kein «Schweizer Film», sehr viel Wahres enthält.

Und noch einmal zu Fassbinder. Er wird für viele Kritiker der Stein des Anstosses sein, denn man kennt ihn ja, seine eigentümlichen Ansichten über den Sozialismus, die Mimose, die gern auf stark macht, man kennt seine Berliner Worte über die Linke und man kennt seine bald dreissig Filme, über die sicher zu diskutieren ist. Und schliesslich weiss man, dass Fassbinder schon so etwas wie ein Denkmal ist, eine Mischung zwischen Genie und hässlichem Entlein. Aber da gerade mit schwerem ideologischem Geschütz aufzufahren und einmal mehr von einem «faschistischen Film» zu sprechen, mutet schon sehr seltsam an.

Die Geschichten

Schatten der Engel wurde in Wien realisiert, der Stadt des Jugendstils. Was andere gemacht hätten, unterlassen hier die Autoren, die berühmten Jugendstilbauten, die zarten Damen am Stadtparktor, die Kuppel des Sezessionsgebäude oder die Loos-Bar sind nicht die Dekors dieses Films, Schatten der Engel ist kein «Nostalgiestreifen». Der Name Wien wird nie erwähnt, sondern immer nur «die Stadt» — der Ort härtester Anforderungen, das Gegenteil ländlicher Gegenden. Von jeher zog es die Menschen aus den verschiedensten Gründen zu diesen Zentren, Künstler verherrlichten sie in ihren Werken. Die Stadt ernährt uns, ohne ihr Treiben ist das Leben blutlos, die Stadt formt uns und zerdrückt uns vielleicht schlussendlich.

Die Szenen spielen in zum Teil hässlichen Räumen, in einer Art schmuckloser Küche, in einem billigen Hotelzimmer, in einer leeren unendlich grossen Wohnung, im Fonds einer Limousine, in einer dunklen Bar, in einer schmutzigen Gasse.

Eröffnet wird mit Aufnahmen unter einer Brücke, dem Standplatz der Huren. Eine nach der anderen wird abgeholt, nur Lily (Ingrid Caven) bleibt zurück. Ihre Geschichte, ihren Aufstieg und den von ihr selbst sehnlichst herbeigewünschten Fall erzählt Schatten der Engel. So scheint es jedenfalls zuerst. Denn bald einmal bahnen sich andere Geschichten an, die Geschichte des homosexuellen Zuhälters von Lily (Rainer Werner Fassbinder), der sie auch liebt oder wenigstens versucht zu lieben, die Geschichte des reichen Kunden von Lily, des Juden (Klaus Löwitsch), die Geschichten der Eltern, des Vaters (Adrian Hoven), der nur noch nachts und als Transvestit zurechtgemacht in die Öffentlichkeit geht, er soll, wie später auskommt, die Eltern des Juden vergast haben, der Mutter (Annemarie Düringer), die im Rollstuhl linke Klassiker verschlingt. Alles Geschichten, die ineinander verwoben werden, Schatten, die übereinander fallen und das Dunkle noch schwärzer erscheinen lassen. So viele Geschichten, auf einmal erzählt, machen einen Film natürlich kompliziert, Schmids Film ist alles andere als ein Film für die breite Öffentlichkeit.

Nach dem ersten Anschauen glaubt man einiges noch nicht zu verstehen, man kann zwar ziemlich genau sagen, was man gesehen hat, was man damit aber anfangen soll, wie man dieses mit jenem zusammenbringen soll, weiss man nicht so recht. Fassbinder, in Solothurn darauf angesprochen, hat sich — nicht untypisch für ihn — über jene lustig gemacht, die immer gleich alles begreifen wollen. Ganz unrecht hat er aber dabei nicht, denn gibt es auch so etwas wie die Faszination des Unverständlichen, nicht als snobistisches Verhalten, sondern als steter Reiz, zu suchen, aktiv zu bleiben.

Die Figuren

Über die Bedeutung der einzelnen Figuren Hessen sich etliche Seiten füllen. Sie sind nicht leicht zu fassen, weil sie neben ihrer primären Eigenschaft — Hure, Zuhälter, Faschist, Jude, etc. — immer auch noch eine gemeinsame andere Seite haben. Die Figuren verhalten sich nicht so, wie man es von ihnen erwartet, die Hure ist nicht nur Hure, der Zuhälter nicht nur Zuhälter, usw. Die Figuren haben alle zu viele Gefühle, sie sind zerbrechlich, sie haben das Bedürfnis zu lieben, geliebt zu werden, sie sind Heruntergekommene, die den Anforderungen ihres «Job» nicht mehr gewachsen sind. Sie sind alle irgendwie Opfer. Der Unterschied zwischen den einzelnen Figuren ist der, dass die einen länger durchhalten als die anderen, dass die einen den besseren, weil rücksichtsloseren Weg kennen, um zu überleben, Über zwei, die auf der Strecke bleiben, soll hier mehr gesagt sein: Bleich und durchsichtig ist die Hure Lily, frierend steht sie auf dem dreckigen Pflaster, wie die verdorbene Unschuld. In ihren Augen hängt alle Trauer der Welt. Lily ist das Gegenteil der aufreizenden Bombe mit dem unzweideutigen Grinsen. Dass der Tod ihr letzter Kunde sein wird, dass sie nach diesem Kunden sucht, das spürt man schon von Anfang an.

Ihr Zuhälter ist noch ein Kind, er hat etwas von jenen jungen Männern, die sich, um älter auszusehen, nach der Schulzeit einen Schnauz oder einen Bart wachsen lassen. Dazu gehört auch sein flegelhaftes Benehmen. Er ist ein Spieler und liebt sein Mädchen. Zum Spiel braucht er aber Geld, darum schickt er das Mädchen auf den Strich, darum kann er sie nicht lieben. Seine homosexuellen Erlebnisse enden grässlich, er wird halb totgeschlagen. Und wer einmal geschlagen wurde, wird wieder geschlagen, am Schluss muss der Zuhälter den Kopf herhalten für den Tod von Lily. Fassbinder spielte schon einmal eine ähnliche Rolle, sein Fox in Faustrecht der Freiheit macht ähnliche Erfahrungen, dort wie hier liegt Fassbinder am Schluss auf dem Boden, in Faustrecht nach einer Überdosis Valium tot in der Bahnhofunterführung, in Schatten der Engel zitternd zwischen den Herrschern der Stadt. Es scheint, dass Fassbinder an der Rolle des zusammengestauchten, ausgeschlossenen und unschuldigen Jungen Gefallen findet.

Gefühlstrümmerhaufen

Das Bild, das der Film entwirft, kann nicht gerade ein erfreuliches genannt werden. Die Welt als einen öden Schutt- und Schundhaufen darzustellen, wurde auch schon versucht, es gibt dafür überzeugende Beispiele. Aber bei Schmid — und dafür gibt es, abgesehen vielleicht von den amerikanischen Trashfilmen von Warhol und Waters, kaum andere Beispiele — geschieht dies völlig undistanziert. Die Welt des Films deckt sich zwar sicher nicht ganz mit der der Autoren, sie kann als das scharfe Konzentrat jahrelanger Erfahrung bezeichnet werden. Schmid: «Seit ich angefangen habe, so ein bisschen intensiver meine Sache zu machen, habe ich sehr oft in zweit-oder drittklassigen Hotels gewohnt. In solchen Hotels wohne ich gerne, weil die sind meistens so scheusslich, dass sie Widerstände darstellen und man gezwungen ist, etwas dagegen zu entwickeln» (Kellerkino, Materialien, 1974). Mit Schatten der Engel ist es sehr ähnlich. Man fühlt sich wohl während des Films, Dekadenz hat nun mal ihren Reiz, und das Gesicht von Ingrid Caven sieht nicht nur krank aus, sondern es ist auch sehr schön. Zugleich leistet man aber Widerstand gegen diese Drittklasshotelatmosphäre, gegen diese Pissoir-Romantik, gegen die unaufhaltsame Todessehnsucht Lilys. In diesem Film ist manches einladend und ekelerregend zugleich.

Zum Schluss doch einige kritische Ansätze: Es will nicht recht einleuchten, warum der Figur des Juden so viel Bedeutung zugemessen wird. (Dieser Jude ist einer der Gründe, warum der Film so deutsch wirkt.) Warum konnte es nicht einfach ein gewöhnlicher Geschäftsmann sein? An Politik, an vergangene und gegenwärtige, würde man genauso erinnert.

Die letzte Szene auf dem Polizeipräsidium fällt irgendwie ab. Das mag daherkommen, dass kurz zuvor die Geschichte der eigentlichen Hauptfigur, der Hure Lily, durch ihren Tod zu Ende erzählt wurde. (Es kann auch sein, dass diese Szene die einzige Möglichkeit war, die anderen Geschichten zu Ende zu erzählen.) Zudem bieten sich in dieser Szene gewisse Probleme mit der Figur des Zuhälters. Wenn er da am Boden liegt, liegt eben nicht nur er, die erfundene Figur, am Boden, sondern auch Fassbinder, und nicht zuletzt: ein Homosexueller.

Daraus zu schliessen ist, dass, wenn man an den Film herankommen will, es nicht nur genügt, zur eigenen Dekadenz zu stehen, man wird sich zudem einmal gründlicher mit der Homosexualität beschäftigen müssen. Damit, dass man von einem «schwulen Tänzchen» spricht, ist es aber noch nicht getan. Man müsste da vielleicht von Genet sprechen, von Pasolini (Hubert Fichte tut dies im «Spiegel», Nr. 7, 9. Feb. 1976), oder von Kenneth Anger, man müsste von dem sprechen, was man «Schwulenszene» nennt.

Schatten der Engel. Schweiz/Deutschland 1975/76. Produktion: Albatros Film, München/Artco Films, Genf; Regie: Daniel Schmid; Buch: Daniel Schmid, Rainer Werner Fassbinder; Dialoge: Rainer Werner Fassbinder; Regieassistenz: Luc Yersin; Kamera: Renato Berta; Ton: Günther Kortcvich; Schnitt: IIa von Hasperg; Musik: Peer Raben; Darsteller: Ingrid Caven, Rainer Werner Fassbinder, Klaus Löwitsch, Adrian Hoven, Uli Lommel, Jean-Claude Dreyfus, Annemarie Düringer, Irm Hermann, Peter Chatel, Harry Bär u. a. Farbe, ca. 120 min.

SOUS LE PONT

Le troisième long-métrage de Daniel Schmid est à la fois différent des deux premiers — on y parle plus, la mise-en-scène est plus rigoureuse, il m’est plus une machine de rêve — et proche; tous les films de Schmid contiennent des éléments mélodramatiques. La collaboration avec Rainer Werner Fassbinder (dialogues, interprète) peut être considérée comme réussie.

A prime abord, le film raconte apparentent l’histoire de la putain Lily, son ascension et sa chute qu’elle a elle-même ardemment désirée. Mais bientôt d’autres histoires surgissent, celle du souteneur de Lily, celles du riche client, du juif, des parents: du père — un ancien nazi —, de la mère qui dévore des classiques gauchistes dans sa chaise roulante.

Le film montre, sans prendre de distance et pourtant très consciemment, le monde comme un vaste tas d’ordures. Quiconque désire approcher ce film dont la forme compliquée pose déjà pas mal de problèmes sera obligé de ne pas désavouer sa propre décadence. En outre, il sera nécessaire de repenser à fond le problème de l’homosexualité. (AEP)

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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