BERNHARD GIGER

STAMMBAUM — RENOIR IN DER FILMGESCHICHTE

ESSAY

Zwei Jahre alt war Renoir, als er im Kaufhaus Dufayel mit dem Film in Berührung kam. Das Rattern des Projektors ängstigte ihn, zudem konnte er die Bilder auf der Leinwand nicht begreifen.

Das Medium war damals ungefähr gleich alt wie Renoir — 1895 hatten die Gebrüder Lumiere ihre Filme erstmals öffentlich vorgeführt — es barg noch alle Geheimnisse, die ihm heute so sehr fehlen. Die Faszination der bewegten Bilder, die Magie des Lichtstrahls, der die Dunkelheit durchdringt und ein Fenster öffnet, durch das man die Welt sich bewegen sieht, die Wunder der Kinematographie sind verbraucht. Abgebildete, technisch eingefangene Wirklichkeit ist kein Erlebnis mehr, hat nichts mehr zu schaffen mit Traum und Phantasie.

Zinnsoldaten und Kasperle interessierten den kleinen Renoir, die Welt, die er später in La Petite Marchande d’Allumettes zum märchenhaften Traum werden liess. Er war ein glühender Verehrer der Musketiere. Und mit dem Kindermädchen Gabrielle besuchte er oft die Theater des «Boulevard du Crime» (in Paris). Er liebte die melodramatischen Volksstücke, die dort gegeben wurden, die Geschichten kleiner Gauner oder armer Waisenkinder, die gequält werden von Grobianen und von Krüppeln geliebt, romantische Geschichten mit viel Blut und Tränen. Da diese Stücke anspruchslos waren, schlicht, gradlinig und oft sicher plump inszeniert, erfreuten sie sich einer breiten Popularität vor allem bei den unteren Volksschichten. Später übernahm das Kino diese Dramen und auch gleich das Publikum: während der ersten fünfzehn Jahre ungefähr war Kino Proletarier-Unterhaltung. Bei der Realisierung von La Fille de l’Eau muss sich Renoir an den «Boulevard du Crime» erinnert haben.

Chaplin

Die Liebe zum Kino fand Renoir schliesslich durch Charlie Chaplin. Charlot, wie die Franzosen Chaplin nannten (Renoir vernahm erst nach Jahren den richtigen Namen), wurde so etwas wie ein ständiger Begleiter: Das Spiel Catherine Hesslings in Nana erinnert an ihn ebenso wie die Soldatenspässe in Tire au Flanc. (François Truffaut will hier gar denjenigen unter Renoirs Filmen erkennen, der am meisten unter dem Einfluss Chaplins steht). P. L. Thirard nennt Le Crime de Monsieur Lange ein «Hommage à Chaplin», und Claude Givray sieht in Les Bas-Fonds «augenzwinkernde Anspielungen an Chaplin». Auch die Figuren, die Michel Simon neben dem Rekruten in Tire au Flanc noch darstellte, tragen viel von dem gewaltlosen Anarchismus mit sich, den Renoir an Chaplin so bewundert. Wie Chaplin war Renoir ein Freund der Schwächeren, einer, der einsteht für die Gerechtigkeit, einer auch, der stets das Gute sucht im Menschen, selbst bei denen, die auf der Seite der Mächtigen, der Ausbeuter stehen, bei Louis XVI in La Marseillaise, bei den weissen Kolonialisten in Indien (The River), und später beim Vizekönig von Peru in Le Carosse d’Or. Renoir blieb immer einer mit einem guten Herz. Politisches Engagement interessierte ihn weniger, auch wenn er vor dem Krieg für die Volksfront gearbeitet hat.

Griffith, Stroheim, Lubitsch

Die ersten Filme Renoirs sind «Experimente», mehr oder weniger geglückte Versuche, den Film lebendiger werden zu lassen, ihn wegzubringen vom Theater, eine eigene Sprache zu erarbeiten: Der überaus rasche Schnitt in einer Szene von La Fille de l’Eau, die heute noch packenden Aufnahmen des Pferderennens in Nana, und die Träume in La Fille de l’Eau und La Petite Marchande d’Allumettes.

Entgegen seinen eigenen Aussagen, wonach er die Technik nicht besonders wichtig nehme, sind es oft die technischen Elemente, die seinen Filmen die unverkennbare Form geben: jedermann hat für sich Andersens Märchen schon verfilmt, aber Renoirs Erzählung führt uns weit über jede Vorstellung hinaus ins Reich der Phantasie, wo wir uns auflösen und zu Spielgesellen der Puppen verwandeln, uns von einem Schimmel wegtragen lassen ins Unendliche. Errichtet wurde diese phantastische Welt mit Hilfe raffinierter technischer Konstruktionen.

In Le Tournoi liess sich Renoir einen komplizierten Kamerawagen bauen, um eine Bankettszene zu photographieren, die Eröffnungsszene von Chotard et Cie. ist eine Meisterleistung der lebendigen Kamera, und bald entschied sich Renoir für Direktton (On Purge Bébé, La Chienne). Von den späteren Fümen ist die klug eingesetzte Tiefenschärfe zu erwähnen und die schwindelerregende Fahrt auf der Lokomotive in La Bête humaine.

Renoir war stets ein Bewunderer des amerikanischen Kinos. Neben Chaplin fühlte er sich in der frühen Zeit vor allem Griffith, Stroheim und Lubitsch verbunden.

Die Szene in La Fille de l’Eau, in der Virginia vor ihrem Onkel, der sie vergewaltigen will, unters Bett flüchtet, erinnert an Griffiths Broken Blossoms (1919). Unter dem direkten Einfluss von Stroheims Foolish Wives (1921) entstanden, sicher aber auch Lubitsch nachempfunden, ist Nana als frühes europäisches Hommage an den amerikanischen Film zu bezeichnen. Es ist in erster Linie die Stimmung, die die Geschichte (des Aufstiegs der Schmierenschauspielerin Nana zur Mätresse des Grafen Muffat und zur umschwärmten Schönheit der noblen Gesellschaft) zum Leben erweckt. Eine Stimmung, die sich bildet aus dem Zusammenspiel der grosszügigen Dekors von Claude Autant-Lara und der Kamera, die einem in langen Fahrten und lang gehaltenen Totalen immer wieder Gelegenheit gibt, den Luxus im Palast des Grafen Muffat zu studieren oder dem versnobten Treiben auf der Rennbahn zu folgen. Den Kontrast zu dieser Stimmungsmalerei bilden die drei melodramatischen Hauptfiguren, Graf de Vandœuvres, der sich aus Liebe zu Nana ruiniert und im Pferdestall das Leben nimmt, Graf Muffat (Caligari-Darsteller Werner Krauss), der sich Nana unterwirft (Armand-Jean Cauliez sieht in dieser Figur die Vorwegnahme Professor Raths in Der blaue Engel), und schliesslich Nana selber, habgierig, ja süchtig nach Reichtum. In Nanas Habgier drückt sich Stroheims Einfluss aus, Lubitsch erkennt man in der ironischen Behandlung der besseren Gesellschaft und in Spielereien, wie der zwischen Nana und Monsieur de Vandœuvres, als dieser Nana ihrer schönen Augen wegen erstmals besucht.

Elf Jahre nach Nana, im Frühjahr 1937, arbeitete Erich von Stroheim als Schauspieler unter Renoirs Regie (als Kommandant von Rauffenstein in La Grande Illusion). Im Gegensatz zu Griffith hatte Stroheim von allem Anfang an Schwierigkeiten mit den Produzenten. Es gibt — ausser Luchino Visconti vielleicht — kaum einen anderen Regisseur, dessen Filme durch Schnitte dermassen verunstaltet wurden. Es ist daher nicht zufällig, dass gerade Renoir zu Stroheim fand, hatte doch auch er sowohl in Frankreich als auch in Hollywood die grössten Schwierigkeiten, die Produzenten von seinen Ideen zu überzeugen.

Becker, Simon

Die nächste Phase im Schaffen Renoirs, die die «anarchistische» genannt werden kann, und während der sich sein «realistischer» Stil langsam herausbildete, lässt weniger Einflüsse von Aussenstehenden, etwa von anderen Regisseuren erkennen.

Äussere Einflüsse auf sein Werk zwischen 1930 und 1939 sind wirtschaftliche und politische Veränderungen. Von sich aus hätte Renoir bestimmt nicht an dem von der Kommunistische Partei in Auftrag gegebenen La Vie est à nous mitgewirkt, es waren die Tatsachen — der drohende Faschismus — die ihn dazu verpflichteten.

Direkt an der Arbeit Beteiligte, Drehbuchautoren, Regieassistenten und Schauspieler waren es, die von 1930 bis 1939 seine Filme mitprägten. Da war einmal Jacques Becker, der bei mehreren Filmen, darunter Boudu sauvé des Eaux, Une Partie de Campagne und La Grande Illusion, als Assistent mitwirkte, und manchmal auch kleinere Rollen spielte. Renoir und Becker verband eine tiefe Freundschaft, beide waren sie vernarrt in den Jazz und beide sahen sie in Stroheim ihren Meister. Wenn sie sich äusserlich auch voneinander unterschieden — Becker war ein Mann von Welt, der es verstand, sich der Mode anzupassen —, innerlich fühlten sie sehr ähnlich. Das wurde später dann deutlich in Beckers eigenen Filmen, die sich zuallererst für den Menschen engagieren, für seinen Lebensraum interessieren und weniger darum besorgt sind, eine spannende Geschichte zu erzählen. Der Ausbruch des Krieges trennte die beiden. 1942 kam Beckers Erstling heraus, der Kriminalfilm Dernier atout. Die folgenden Filme, Goupi mains rouges (1943), Antoine et Antoinette (1947), und Rendez-vous de juillet (1949) bestechen durch genaue Milieuschilderungen. Nach dem Krieg wurde Becker einer der erfolgreichsten französischen Autoren, mit Casque d’Or (1951) mit Simone Signoret und Serge Reggiani, schuf er seinen hervorragendsten Film.

Eine der eigenwilligsten Figuren des französischen Films ist Michel Simon. Bis ins hohe Alter hat er Freunde und Bewunderer immer wieder überrascht, vielleicht sogar vor den Kopf gestossen, in seinen Filmen wie im Privatleben. Über die Beziehung zwischen ihm und seiner Äffin zum Beispiel hat man sich die verrücktesten Gerüchte weitergegeben. Simon hat in fünf Filmen Renoirs mitgespielt, zwei davon sind typische Beispiele der «anarchistischen» Phase: La Chienne und Boudu sauvé des Eaux.

In La Chienne ist Simon der Kassier einer Strumpfwarenhandlung und Hobbymaler Maurice Legrand, der wegen einer leichten Dame auf die schiefe Bahn gerät, aus unerfüllter Liebe mordet, danach nicht zu seiner Tat steht und zusieht, wie ein Unschuldiger hingerichtet wird. Zum Clochard herabgesunken, gesteht er am Schluss einem anderen Clochard: «Ich habe alle möglichen Dinge gemacht, ich bin sogar Mörder geworden.» Darauf der andere: «Man braucht alles Mögliche, um eine Welt zu schaffen.»

La Chienne gilt als das erste bedeutende Werk des «poetischen Realismus». Renoir selber erklärt den Realismus des Films mit den Aufnahmen, mit den echten Dekors, «ich wollte in echten Strassen drehen und tat das auch». Die «äussere Wirklichkeit» war ihm damals wichtig, «für mich ist der Film Photographie, und interessant ist allein, die Wirklichkeit zu photographieren». Später veränderte sich Renoirs Photographie der Wirklichkeit, Realismus verstand er dann nicht mehr nur als Fixieren exakt beobachteter Natur, sondern als Möglichkeit, mit Hilfe der «äusseren Wirklichkeit» die «innere Wahrheit» zu finden.

Boudu sauvé des Eaux ist der anarchistische Film par excellence. Michel Simon ist Boudu, der Wilde, der noch nie zu jemandem «Danke» gesagt hat, das Ungeheuer im bürgerlichen Porzellanladen.

Boudu, das ist die Praxis von «Eigentum ist Diebstahl». Er verhöhnt die hohen kulturellen Werte, indem er auf Balzac spuckt, er isst am liebsten mit den Fingern, schläft am Boden neben dem Bett und versperrt damit Monsieur Lestingois den Weg zum heimlichen Liebesstündchen mit dem Dienstmädchen. Boudu ist zwar jetzt in einer besseren Klasse zu Hause, sein Verhalten aber gedenkt er nicht zu ändern. Denn Boudu ist überaus schlau, er küsst Madame Lestingois genau im richtigen Moment auf den Mund — dann nämlich, wenn er wegen seines schlechten Benehmens wieder auf die Strasse gestellt werden soll. Und er lässt sich auch im richtigen Moment wegtreiben vom Wasser — Renoirs Liebe — weg von der Hochzeitsgesellschaft, die für seinen feierlichen Eintritt ins geordnete Leben Zeuge sein soll. Am Anfang springt Boudu selbstmörderisch ins Wasser, weil er genug hat von der traurigen Welt, doch er wird gerettet von einem Bürger, der dafür mit einer Medaille ausgezeichnet wird. Am Schluss fällt Boudu ins Wasser und lässt sich treiben, weil er sich selber retten will, und weil er begriffen hat, dass dieser Bürger eigentlich nur die Medaille wollte, den Ruhm der guten Tat, und nicht ihn, den unbequemen Gast. Boudu ist ein Provokateur, ein Aussenseiter, einer, der in die Vorhänge schneuzt. Er verkörpert die Freiheit, die die gegenkulturelle Bewegung der sechziger und siebziger Jahre mit ihrem «Do it» meinte. Boudu ist der Grossvater von Jerry Rubin.

Die Franzosen

In den dreissiger Jahren stiess die internationale Wirtschaftskrise auch die französische Filmindustrie in die roten Zahlen. Davon profitierten unabhängige Produzenten und Regisseure: von 1930 bis zum Ausbruch des Krieges entstanden in Frankreich engagierte Filme, denen ein bis anhin kaum gesehener Realismus eigen ist, der «poetische Realismus» (auch «Soziale Romantik», «Realismus der Strasse»). Diese realistischen Tendenzen kamen vor allem zum Ausdruck in den Filmen von sechs Regisseuren, Jean Vigo, René Clair, Jacques Feyder, Julien Duvivier, Marcel Carné und Jean Renoir. Zu berücksichtigen sind aber auch die frühen surrealistischen Werke Luis Bunuels, und die Filme von Marcel Duchamp und Fernand Lèger. Selbst der «kommerzielle» Marcel Pagnol steuerte das seine dazu bei; er produzierte Toni.

Die konsequente Haltung, der Anarchismus vieler dieser Filme, stiess auf Widerstand. Zero de conduite wurde verboten, L’Atalante verstümmelt, Feyders Les nouveaux messieurs wurde erst verboten und dann geschnitten, und La Règle du Jeu konnte erst 1965 in der Originalfassung aufgeführt werden.

Die Filme der französischen Realisten entwickeln sich nie zu politischen Manifestationen, auch wenn einige von ihnnen ganz eindeutig den Geist der Volksfront mit sich tragen. Sie stellen keine Thesen auf (vom Propagandafilm La Vies est à nous einmal abgesehen), sondern sie fühlen so intensiv mit ihren Helden, dass sie sich auch Spott und feine Ironie erlauben können. Zudem liebäugeln etliche Filme mit dem Surrealismus, der Freiheit der Phantasie, der märchenhaften Weite des Traums.

Der französische Film der dreissiger Jahre ist pessimistisch und düster, er trägt die Botschaft mit sich, (Quai des brumes), «dass Liebe in einer auf Herrschaft beruhenden Gesellschaft fragwürdig und unmöglich sei» (Ulrich Kurowski). Aber er ist auch poetisch, er entdeckt die faszinierende Vielfalt der Strasse. Und er führt zum Geheimnis der Liebe. Die Menschen, die er zeigt, haben Lust aufs Leben. Es sind die Verhältnisse, die ihnen ihre Bedürfnisse verbauen. Die Lebenslust, der Duft der Freiheit, war der Dorn im Auge der Zensoren.

Renoir

Das Hauptwerk: Une Partie de Campagne, La Grande Illusion, La Bête humaine, La Règle du Jeu. Diese vier Filme sind von einer solchen Aufrichtigkeit, dass sie nicht nur erschütternd, sondern schmerzhaft wirken. Sie hinterlassen eine Traurigkeit, die sich zwar der Schönheit bewusst ist, dem Lichtspiel in den Bäumen, deren Äste sich schützend über die Liebenden legen — Liebende, deren Münder sich zum erstenmal treffen — oder der Freundschaft im Krieg, der Freiheit der Fahrt auf der Lokomotive «Lieschen» nach Le Havre, der verlockenden Schönheit Severine’s und ihrer weissen Katze, und auch der Leichtigkeit der Tanzpuppen Chesnaye’s. Eine Traurigkeit, die die Schönheit schon weit hinter sich zurückgelassen hat, weil der erste Kuss auch gleich der letzte war, weil der Krieg die Freunde letztlich doch trennt, weil der Verzweiflungssprung von der Lokomotive den Tod bedeutet, und weil auch die Tanzpuppen zum Todestanz auffordern, eine Traurigkeit, eine Einsamkeit, gebildet aus Eifersucht und Lügen, weil, wie Christine in La Règle du Jeu zur Geliebten ihres Mannes sagt, aufrichtige Leute langweilig sind. Von diesen Worten ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zum Schuss im Garten, wo Andre Jurieu — der Aufrichtige — wie ein getroffenes Kaninchen zusammenzuckt. Die Welt, die uns Jean Renoir in diesen Filmen vorführt, ist eine sich selber zerstörende, in La Règle du Jeu eine Welt unmittelbar vor der Katastrophe.

Ein Mitarbeiter dieser Zeit bleibt zu erwähnen: Der Photograph Henri Cartier-Bresson:

Cartier-Bresson arbeitete bei Une Partie de Campagne als Regieassistent mit. Seine poetischen und oft leicht ironischen Photographien haben viel Ähnlichkeit mit Renoirs Bildern. Cartier-Besson war ein begeisterter Kinogänger. Es ist nicht erstaunlich, dass die photographische Reportage — eine Serie (etwa 5 Bilder) einzelner, aufeinander abgestimmter Bilder —, die mit der photographischen Sequenz zusammen dem Film am nächsten steht, gerade durch ihn zu ihrer vollen Bedeutung kam.

Hollywood

Am 31. Dezember 1940 stiegen Renoir und seine Frau in New York an Land. Robert Flaherty erwartete sie im Hafen. Diese Silvesternacht sollte für den Franzosen nicht nur Übergang in ein neues Jahr bedeuten; mit der Ankunft in Amerika begann der zweite (umstrittenere) Teil seines Werkes; der 31. Dezember ist der Anfang des Weges von La Règle du Jeu zu The River.

Hollywood, das war in Renoirs Vorstellung das Chinesische Theater, die Götter des Stummfilms, Mae Murray, Lilian Gish, Mary Pickford, Gloria Swanson und Douglas Fairbanks. Bald aber musste Renoir feststellen, dass «Hollywood ein trauriges Nest» ist, und vor allem, dass die Ansichten über Film in Hollywood sich klar unterscheiden von den Ansichten der französischen Realisten. So war Darryl F. Zanuck bei Swamp Water nur schwer davon zu überzeugen, dass kein Dekorateur die Stimmung eines Sumpfgebietes von Georgia im Studio nachbilden könne. Renoir — der in Amerika zwar so etwas wie eine zweite Heimat fand, der John Ford bewundert und Orson Wehes natürlich, der mit einem der wichtigsten amerikanischen Drehbuchautoren, mit Dudley Nichols zusammen gearbeitet hat, — fand sich nicht zurecht mit den Produktionsmethoden der Filmfabrik. Er war noch zu sehr der Bastler von La Petite Marchande d’Allumettes, der Laborant, der zu Hause in der Küche seine Filme entwickelt. Er sah, dass Hollywood die genaue Abbildung der «äusseren Wirklichkeit» zu Gunsten der industriell angefertigten Künstlichkeit vernachlässigt, «die Amerikaner haben das Covergirl, dieses irreale Wesen, erfunden. Sie haben die Kunst des Schminkens bis an die äussersten Grenzen des Falschen getrieben» (Renoir). Zanuck soll einmal gesagt haben: «Renoir hat sehr viel Talent, aber er ist keiner von uns».

Luchino Visconti

Roberto Rossellini: «Ich weiss, was ich sagen will, und ich suche das direkteste Mittel, um es zu sagen».

Der Filmtheoretiker Umberto Barbaro prägte 1942 den Begriff Neorealismus. Diejenigen, die sich diesem Begriff verpflichteten (De Sica, Visconti, Zavattini u. a.) sahen ihre Arbeit zuerst als «Abrechnung» mit dem Faschismus. Ihre Figuren sind arme Leute; «ein hungernder, ein erniedrigter Mensch muss gezeigt und mit seinem Vor- und Zunamen benannt werden» (Zavattini). Wichtiges Element vieler Filme ist, dass die Akteure Dialekt sprechen und sich damit von der gehobenen Gesellschaft, die eine «saubere» Sprache spricht, klar unterscheiden.

Renoirs Toni wird als Vorwegnahme dieser Filme bezeichnet, «man erkennt hier ein Verfahren, das heute für den Neorealismus typisch geworden ist» (Bazin).

Visconti war Mitte der dreissiger Jahre nach Paris gekommen und hatte dort Toni gesehen. Bei Une Partie de Campagne arbeitete er dann als Regieassistent mit, und mit Karl Koch zusammen hat er La Tosca fertiggestellt. Die Drehbuchvorlage zu seinem Erstling Ossesione, der Roman The Postman Always Rings Twice, wurde ihm von Renoir empfohlen. Georges Sadoul verweist auf die Ähnlichkeit zwischen Toni und Ossesione und La terra trema, in der Wahl des Sujets beim ersten, in der Konzeption und im Stil beim zweiten.

Nouvelle Vague

Francois Truffaut: «Es handelt sich darum, Emotionen hervorzurufen. Also halten wir vor jedem Film, vor jeder Szene, vor jeder Einstellung an und denken nach: wie ist diese Emotion zu erreichen?»

Als sie noch Kritiker waren, haben sie sich ihre Mythen aufgebaut, sie sprachen von Genies und begnadeten Regisseuren. Von Griffith und Welles sagten sie: «Doch verdammt sollten wir sein, wenn wir nur eine Sekunde vergessen, dass er (Welles) mit Griffith der einzige ist, der eine r stumm-, der andere im Tonfilm, der diese wundervolle kleine elektrische Eisenbahn hat abfahren lassen, an die Lumière nicht hat glauben wollen» (Godard); von Lang, er sei «ein ewiges Mysterium» (Chabrol); von Lubitsch, er sei ein Prinz (Traffaut); von Rossellini, er sei der modernste aller Cineasten (Rivette). Genauso sprachen sie von Murnau, Stroheim, Hitchcock und Renoir. (Es ist wirklich erstaunlich, wieviel Tiefsinn die Nouvelle Vague-Autoren selbst in den späten Filmen Renoirs noch finden.) Ihre Kritiken lesen sich wie erotische Hymnen, wie vom Körper einer Frau sprechen sie von Filmen. Nach ihren eigenen Werken zu schliessen, haben sie ihre Kultobjekte genau studiert, die Schule des Sehens, die sie jahrelang in der Cinémathèque besuchten, hat sich positiv ausgewirkt: Kinoeuphorie ist ein sehr nützlicher Lehrgang, denn wie sonst soll man lernen, das Publikum an der Stange zu halten, und wie sonst soll man lernen zu unterscheiden zwischen billiger Spekulation und ernsthafter Inszenierung. Die Liebe dieser scheinbaren Kinoesoteriker galt aber nicht allen Filmen; «gewisse Tendenzen» im französischen Film wurden sogar scharf attackiert. Und dann drehten sie schliesslich selber, billige Filme, denen ein breites Studentenpublikum die solide Basis schuf, die dann in Paris wochenlang liefen, und die auf internationalen Festivals Preise holten. «Es gibt eine Art mitzumischen, von der man profitieren sollte» (Truffaut).

Direkt beeinflusst hat Renoir die Nouvelle Vague kaum, sie ist weiter schon von ihm entfernt als der Neorealismus. Es lassen sich zwar in ihren Filmen dann und wann Anspielungen auf Renoir finden, solche Anspielungen werden aber auch auf Vigo gemacht, auf Hitchcock oder auf die amerikanischen Gangsterfilme der vierziger Jahre. Es sind mehr die von Truffaut erwähnten Emotionen, die sich von Renoir auf die Nouvelle Vague übertragen. Die Nouvelle Vague-Autoren führen das Renoir-Thema der unmöglichen Liebe und der ewigen Verletzung der Spielregeln weiter.

So sehr sich die Nouvelle Vague dem klassischen Kino nahe fühlt, so sehr sind ihre Filme zeitgerecht. Realismus ist für sie keine Kampfform mehr, er hat sich in zu vielen Variationen schon breitgemacht. Der Nouvelle Vague Anliegen ist es, wieder zu dem zurückzukehren, was einen wirklich angeht, zum Alltag eines kleinen Jungen zum Beispiel, oder zum Alltag einer Gruppe Intellektueller — ohne extrem persönlich zu werden, von Dingen zu erzählen, die man selber kennt. Vereinfacht gesagt, natürlicher zu werden. Und das ist sehr im Sinne Renoirs.

Die Enkel

Für einen Anfangs der fünfziger Jahre Geborenen ist Jean Renoir Geschichte. 1950 lag das Hauptwerk über zehn Jahre zurück, im September wurde in Venedig The River uraufgeführt. Zur Geschichte lässt sich Distanz schaffen, es lässt sich die Bedeutung eines Ereignisses einschätzen, es lässt sich auch Abschliessendes sagen. Neuinterpretationen, die zu jedem wichtigen Ereignis in regelmässigen Abständen aufgestellt werden, müssen zwar berücksichtigt werden, vieles ändern können sie aber nicht mehr. So auch bei Renoir. Niemand wird jemals ernstlich den Wert des Hauptwerkes herabsetzen können. Und dass The River im Zuge der weichen Welle wieder mit mehr Bedeutung behangen wird, als ihm objektiv zuseht, ist als Mode zu bezeichnen. Distanz schaffen zur Geschichte und vor allem aus ihr lernen, das ist unsere, der Enkel Aufgabe.

Wie weit Renoir Realist ist, oder wie sich denn nun Realismus im Film auszudrücken habe, darüber lässt sich ewig diskutieren. Auch 80 Jahre nach Lumiere ist man sich noch nicht einig darüber, wie Wirklichkeit realistisch umzusetzen wäre. Realismus, soweit kann man ihn wohl deuten, äussert sich nicht nur in der exakten Behandlung der Wirklichkeit und nicht nur in der Darstellung armer Milieus, ondern vielmehr durch die Haltung eines Werks (siehe Aufsatz Martin Schaub).

Nicht Realismus heisst die Lektion, die uns Renoir erteilt, diese Bezeichnung wäre zu ungenau, sie heisst viel einfacher Wahrnehmung. Im ersten Abschnitt dieser Arbeit war davon die Rede, dass die Abbildung der Natur heute kein Erlebnis mehr bedeute. Unser optisches Bewusstsein ist reduziert, es nimmt Nuancen kaum wahr. Die Natur wird durch die Abbildung erlebt, demnach wird sie auch nach den Abbildungen der Kamera beurteilt. Wir kennen die Welt, bevor wir sie wirklich sehen. Was sollen wir uns daher den schiefen Turm oder den Zytglogge noch genau ansehen. Denn irgendwie würden wir uns von der Natur doch nur betrogen fühlen, dann nämlich, wenn wir feststellten, dass das Blau des Blausees in Wirklichkeit viel weniger blau ist als das Blau des Blausees auf der Abbildung.

Renoir erreichen, das heisst, wieder Nuancen wahrnehmen. Wir müssen die Möglichkeit wiederfinden, seinen Beobachtungen zu folgen, seiner Zärtlichkeit, dem verstohlenen Blick der Liebenden, dem Lichtreflex auf dem Wasser. Renoir erreichen heisst also, sich befreien von starren Sehgewohnheiten, heisst zu lernen, wieder genau hinzuschauen. Wieder mitzufühlen, wieder der Magie des Lichtstrahls im dunklen Saal zu verfallen. Nicht dem lieben Gott, von dem er so oft spricht, müssen wir dankbar sein, sondern ihm, Renoir, der den Leuten auf die Finger schaut und auch ins Herz.

L’ARBRE GENEALOGIQUE

Chaplin. Au contact de Chaplin, Renoir a trouvé son amour pour le cinéma et Chaplin est devenu son compagnon fidèle. Le jeu de Catherine Hessling des gestes dans Tire au Flanc et dans Le Crime de Monsieur Lange font allusion aux gestes de Chaplin.

Griffith, Stroheim, Lubltsch. Les premiers films de Renoir sont des «expériences» (La Fille de l’Eau, La Petite Marchande d’Allumettes). A part Chaplin, Renoir avait aussi une grande admiration pour Griffith, Stroheim et Lubitsch, qu’il citait ou imitait dans ses films (Griffith dans La Fille de l’Eau, Stroheim et Lubitsch dans Nana).

Becker, Simon. Pendant la phase «anarchiste» de Renoir (La Chienne, Boudu sauvé des Eaux) ses films furent surtout influencés par ceux qui participaient directement au travail: Jacques Becker, assistant-réalisateur, et Michel Simon.

Les Français. Les films français des années 1930 à 1939 faisaient preuve d’un réalisme que l’on avait à peine pu constater jusqu’à cette époque. Ils soignaient surtout la description exacte des milieux sociaux. Quelques-uns de ces films reflétaient l’esprit du Front Populaire.

Renoir. Renoir décrit dans son œuvre principale un monde se détruisant soi-même, dans La Règle du Jeu un monde tout proche de la catastrophe. L’impossibilité de l’amitié et de l’amour exprimée dans ces films évoque une tristesse émouvante.

Hollywood. Bien que Renoir ait trouvé aux Etats-Unis une sorte de deuxième patrie, il a rencontré d’énormes difficultés dans tous ses films américains. Le monde artificiel de Hollywood était en contradiction aiguë avec la méthode de travail de ses films français.

Visconti, Nouvelle Vague. Renoir a directement influencé les néo-réalistes italiens. Visconti était assistant-réalisateur pour Une Partie de Campagne. Les cinéastes de la Nouvelle Vague ont plutôt copié le thème central de Renoir: l’éternelle violation des règles du jeu et l’impossibilité de l’amour, que son style.

Les Petits-Enfants. Aujourd’hui il ne s’agit pas de continuer la discussion sur le «réalisme» de Renoir. L’héritage que nous devons recueillir est son sens de l’humanité, (ths)

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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