HANSPETER STALDER

MEDIENERZIEHUNG

ESSAY

Die Wörter Filmerziehung, Fernseherziehung, Medienerziehung sind wohl allgemein bekannt. Jeder hat schon, aktiv oder passiv, seine Erfahrungen damit gemacht. Wir alle haben darüber unsere Meinungen, Urteile oder Vorurteile. Für die Lektüre des in diesem Heft erstmals veröffentlichten Aufsatzes von Marlies und Urs Graf wünsche ich mir möglichst vorurteilsfreie Leser. Denn verglichen mit dem, was landauflandab unter Medienerziehung geschieht, handelt es sich bei der hier vorgeschlagenen Methode für die Auseinandersetzung mit Spielfilmen um etwas anderes, als Zusammenschau verschiedener bekannter Ansätze um etwas Originales.

Um jedoch einige weitverbreitete Vorurteile über Medienerziehung besser verstehen zu können, möchte ich zuvor ein paar Anmerkungen zur geschichtlichen Entwicklung der Medienerziehung machen. Die direkten Vorstufen zur neuen Arbeit zeigt Theo Umhang in seinem Beitrag auf.

Wie bei vielem andern in der Pädagogik begann es auch bei der Filmerziehung präventiv-moralisierend. «Film ist schädlich! Hüten wir die Kinder davor!» hiess die Devise. Erst allmählich entdeckte man im Film auch Qualitäten, vorerst im sogenannten Kulturfilm als «Fenster zur Welt», dann im Spielfilm als «Hilfe fürs Leben». Es folgte eine Filmerziehung der «filmkundlichen» oder «lebenskundlichen» Gespräche. Die Titel in den damals publizierten einschlägigen Fibeln lauteten «Film als Technik», «Film als Ware», «Film als Aussage». Der technologischen folgte eine ätherische Ausrichtung der Arbeit mit dem Film. «Desillusionierung» hiess das eine Schlagwort, die «Hinführung zur siebten Kunst» das andere. Die vornehmlich in den Filmklubs betriebene Filmerziehung strebte eine «Würdigung von Filmkunstwerken» an. Besonders durch die immer grösser werdende Bedeutung des Fernsehens trat auch in der Schule die Fernseherziehung in den Vordergrund, ebenfalls die präventive, moralisierende, technologische, ästhetische Phase durchlaufend. Der Druck, nun neben dem Film auch das Fernsehen und noch weitere Medien behandeln zu müssen, führte zu medienübergreifenden Ansätzen: Information, Werbung, Unterhaltung. Immer mehr auch traten die gesellschaftlichen und politischen Komponenten der Medien in den Vordergrund. Die aktuelle Akzentuierung versteht Medienerziehung als Kommunikationspädagogik. Diese neue Ausrichtung ist begründet in der Ausbreitung der Kommunikationswissenschaft und in der Verbreitung der Gruppendynamikbewegung.

Medienerziehung als Kommunikationspädagogik verstanden — wie es im Folgenden geschieht —, umfasst vieles, was bisher postuliert wurde, ist jedoch meist etwas anders gefärbt, umfassender und führt weiter als das Bisherige.

Um das Wesentliche einer solchen Medienerziehung verständlich zu machen, benötigen wir zuvor einige begriffliche Klärungen. Die folgenden Ausführungen basieren auf Gerhard Maletzkes «Grundbegriffe der Massenkommunikation» (München 1964).

Grundbegriffe der Kommunikation

Unter Kommunikation im weitesten Sinne ist die Tatsache zu verstehen, dass Lebewesen mit der Welt in Verbindung stehen. Im Allgemeinen pflegt man diesen Begriff jedoch enger zu fassen und dafür zu verwenden, dass Personen untereinander in Beziehung stehen, dass sie sich verständigen, dass sie innere Vorgänge oder Zustande ausdrücken, andern Menschen Sachverhalte mitteilen oder sie zu einem bestimmten Verhalten auffordern.

Das Gerüst des Kommunikationsprozesses wird von drei Grundfaktoren gebildet: 1. einer Person, die etwas aussagt: dem Kommunikator, 2. einer Mitteilung: der Aussage, 3. einer Person, die die Aussage aufnimmt: dem Rezipienten.

Unter Massenkommunikation verstehen wir jene Form der Kommunikation, bei der Aussagen 1. öffentlich, also ohne begrenzte und personnel definierte Empfängerschaft, 2. durch technische Verbreitungsmittel, Medien, 3. indirekt, also bei räumlicher und/oder zeitlicher Distanz, 4. einwegig, also ohne Rollenwechsel zwischen Aussagendem und Aufnehmendem, 5. an ein disperses Publikum vermittelt werden.

Das Kommunikationsfeld ist aufzufassen als das Beziehungssystem zwischen den drei Grundfaktoren, zu denen bei der Massenkommunikation noch als vierter Faktor das Medium hinzukommt.

Medienerziehung als Kommunikationspädagogik

Ich versuche nun, nach dem Erarbeiten der Grundbegriffe der Kommunikation, eine vorläufige Umschreibung dessen, was Medienerziehung (nach meiner Auffassung) ist.

Medienerziehung versucht, durch verbesserte Kommunikation mit Massenmedien die persönliche Selbstverwirklichung und eine freiere Gesellschaft zu erreichen, und durch eine freiere Gesellschaft und persönliche Selbstverwirklichung eine verbesserte Kommunikation mit Massenmedien.

Nach dieser etwas allgemeinen Formulierung soll jetzt der Versuch unternommen werden, exakt zu bezeichnen, was Medienerziehung (nach meinem Verständnis) ist. Der folgende Text ist abstrakter und theoretischer, weil, er sich, neben Film und Fernsehen — auf die sich die weiter hinten vorgestellte Methode der Medienerziehung beschränkt —, auch die andern klassischen Massenmedien Presse, Schallplatte und Radio beinhaltet, und weil er die zahlreichen Aktivitäten, die im Lauf der letzten Jahre in der Praxis der Medienerziehung entwickelt wurden, ebenfalls umfassen soll.

Medienerziehung als Kommunikationspädagogik heisst:

1. Transparentmachen, Reflexion, Verstehen und Kritik der Kommunikationsprozesse

a) beim Rezipienten (allein oder als Gruppe; deren Bedürfnisse und ihre Befriedigung),

b) beim Medium (der Aussage der Personen und Dinge; sowie deren Warencharakter),

c) beim Kommunikator (dessen Standpunkt und Interessen; sowie dessen Produktionsbedingungen),

um für einzelnen und die Gesellschaft mehr Freiheit und Selbstverwirklichung trotz Massenmedien, angesichts der Medien und durch sie Zu ermöglichen.

2. Aktivierung der Kreativität zur Förderung kommunikativer Kompetenz im Sinne emanzipatorischer Kommunikation

a) durch Hinterfragen der eigenen Person (als potentieller Kommunikator),

b) durch Analysieren der sozialen Umwelt (deren psychologischer, historischer und ökonomischer Bedingtheiten),

c) durch Prüfung adäquater Strategien (der für die konkrete Situation geeigneten Medien und Methoden),

um auf freiheitliche, soziale und demokratische Weise durch eine bessere Kommunikation mit Massenmedien eine bessere Gesellschaft und durch eine bessere Gesellschaft eine bessere Kommunikation mit Massenmedien zu erreichen.

1. Erfahrung, 2. Reflexion

Die in dieser Nummer vorgestellte Arbeit gehört zum ersten Punkt der obigen Definition, zur rezipientenbezogenen Medienerziehung, im Gegensatz zur kommunikatorenbezogenen von Punkt zwei. Die oben durchgeführte Ausweitung soll den Raum beschreiben, aus dem heraus der Aufsatz «Eine Methode für die Gruppenarbeit mit Spielfilmen» entstanden, und aus dem heraus er zu verstehen ist. Im Folgenden seien noch einige Besonderheiten dieser Form, sich mit Spielfilmen im Kino und Fernsehen auseinanderzusetzen, näher umschrieben.

Ungewohnt wird für viele dieser Zugang zum Film und Fernsehen sein, weil er über die Erfahrung zur Reflexion kommt, und nicht umgekehrt. Dieses Vorgehen, das in der Didaktik «situativer Ansatz» genannt wird, ermöglicht es, den Einzelnen in seiner konkreten Situation als Rezipient von Medien ernst zu nehmen. Dies wiederum ist notwendig, um wirkliche Betroffenheit zu ermöglichen. Und diese bildet die Voraussetzung, dass in der Erziehung wirklich «etwas geschieht», dass es nicht an der Oberfläche, bei leerer «Kosmetik» bleibt.

Neu und gelegentlich verunsichernd ist es wohl auch, dass etwas Alltägliches und Selbstverständliches, eben das Konsumieren von Medien-Botschaften, selbst in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gestellt, dass dieses thematisiert wird. Erst so aber wird Kritik und Ideologiekritik möglich und legitim. Erst wer seinen Standpunkt kennt und bekannt gibt, kann und soll den Standpunkt anderer beschreiben und beurteilen. Jetzt wird es auch möglich, Film- oder Fernsehkritiken kritischer zu lesen, die doch nur allzu oft nichts anderes sind als Objektivierungen von Subjektivismen.

Zur Praxis der Medienerziehung

Mit Erfolg kann und soll die hinten vorgeschlagene Methode in der Schule, in der freien Jugendarbeit und in der Erwachsenenbildung angewandt werden. Sie wurde auch in jenen Bereichen entwickelt. Doch dürfte der Aufsatz auch dem einzelnen, der für sich einen Film oder eine Fernsehsendung anschaut, helfen, die audiovisuellen Medien als Kommunikationsmittel zu erkennen, Medienkommunikation bewusster zu erleben und dadurch das Medium, sich und den andern besser verstehen zu lernen.

Da es sich dennoch vornehmlich um eine Methode zur Gruppenarbeit handelt, wird der eine oder andere Leser Interesse verspüren, bei einer solchen Arbeit einmal mitwirken zu können. Das Team der av-alternativen, eines Zentrums für Medien- und Kommunikationspädagogik (Zweiackerstrasse 15, 8053 Zürich) führt solche Veranstaltungen, «Intensiv-Weekends mit Spielfilmen», «Intensiv-Weekends mit Fernsehfilmen», durch.

Eine Arbeitsmethode wie diese kann nicht am Schreibtisch entstehen, sondern nur aus der Praxis, in der praktischen Arbeit eines Teams, wo solche Methoden entwickelt, erprobt und revidiert werden können. Auch die jetzt vorliegende Fassung ist nicht für die nächsten zehn Jahre gedacht; sondern sie soll ständig verändert und weiterentwickelt werden. Die Veröffentlichung stellt bloss eine Momentaufnahme eines Entwicklungsprozesses dar, zu dem wir auch ein breiteres interessiertes Publikum zur Mitarbeit einladen.

In diesem Sinn scheint mir der Beitrag notwendig und nützlich, nämlich zum Zwecke, die praktische und theoretische Auseinandersetzung mit der Medienerziehung auf breiterer Basis voranzutreiben.

EDUCATION AUX MASS-MEDIA

Dans le texte d’introduction, Hanspeter Stalder donne un aperçu historique de la pédagogie du cinéma, de la télévision, des média, de l’information ainsi que de l’éducation aux mass-media comprise comme une pédagogie de la communication. Ensuite il donne une introduction aux termes de base de la science des communications et tente de donner une définition plus générale et une autre, plus détaillée, de l’éducation aux mass-media comprise en tant que pédagogie de la communication qui est reproduite ici iittéralement.

Education aux mass-media veut dire:

1. Le fait de rendre transparent, la réflexion, compréhension et critique des processus de communication

a) chez Je récepteur (seul ou en groupe — ses besoins et leurs significations),

b) chez le médium (la communication des êtres et des choses — ainsi que leur caractère de marchandise),

c) chez l’émetteur (son point de vue et ses intérêts — de même que ses conditions de production),

pour rendre possible malgré les mass-media, en vue des média et par les média une plus grande liberté et réalisation de soi aussi bien pour l’être individuel que pour la société.

2. Activation de la créativité afin de favoriser la compétence communicative dans le sens de communication émanci- pative

a) en s’intérrogeant soi-même (en tant qu’émetteur potentiel),

b) en analysant le contexte social (son conditionnement psychologique, historique et économique),

c) en examinant des stratégies adéquates (des média et méthodes adaptées à la situation concrète),

ceci afin de rendre possible de manière libérale, sociale et démocratique une société meilleure grâce à une meilleure communication avec les mass-media et une meilleure communication avec les mass-media grâce à une société meilleure. (AEP)

Hanspeter Stalder
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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