FELIX BUCHER

PAS SI MÉCHANT QUE ÇA – DAS OPUS 3 VON CLAUDE GORETTA — VON DER SCHWIERIGKEIT DES ERWACHSENWERDENS

CH-FENSTER

Wie sein Vater, Besitzer einer kleinen Möbelfabrik, einen Schlag erleidet, entdeckt Pierre, 30jährig, mit einer frohen Frau verheiratet und glücklicher Vater eines kleinen Sohnes, dass die finanzielle Lage des Geschäftes schlimm ist. So aber wie Pierres Vater diese finanzielle Situation vor den andern verbarg, so vertraut auch er sich nicht seiner Frau und seinen Nächsten an. Er beschliesst, mit der bedrückenden Lage selbst fertig zu werden. Er, der noch nicht erwachsene Familienvater, der jugendlich und gar knabenhaft sich gebende Abenteurer, beginnt, kleinere Bank- oder Postüberfälle zu inszenieren, Aktionen, mit denen er sich Geld verschafft. Die Möbel, die seine Handwerker in der Fabrik herstellen, bringt er aufs Land und verbrennt sie auf abgelegenem Platz: Er ist auf den Verkauf der Ware nicht angewiesen, da er sich das Geld anderswie beschafft.

Mit sich und der Umgebung lebt also Pierre in Lüge, in trotziger Lüge, zumal er mit dem gestohlenen Geld den Wiederaufschwung des Geschäftes vorgaukelt. Bei einem Überfall auf eine Landpost trifft er, da die Sache schiefgeht, ein Mädchen, zu dem Pierre grosse Liebe gewinnt: Nelly, die Postangestellte, wird seine Geliebte und auch seine Komplizin, sie beteiligt sich an der Lüge (über das gestohlene Geld) ebenso wie an den Überfällen; aus leidenschaftlicher Liebe ist sie mit dem Abenteurer verstrickt. Und zu dem jugendlichen Helden, wie sich Pierre vorkommt, passt, dass er das Doppelleben durchhält: Dass er seiner Frau die Probleme, die ihn immer mehr bedrücken, nicht eröffnet, dass er auch mit Nelly, die mit ihren früheren Freund bricht, nicht zu einer klaren Situation kommt.

Was als harmloses Abenteurer beginnt und sich zu einem zwiespältigen und für alle «Beteiligten» immer gefährlicher werdenden Hazardspiel entwickelt, endet tragisch: Bei einem «bunten Abend» wird Pierre von der Polizei abgeholt, man hat seine Handschrift erkannt und führt ihn ins Gefängnis. Die beiden Frauen, die voneinander nichts wussten oder wissen wollten, stehen fassungslos da: Die Tristesse, welche das mehrfache Idyll dieses knabenhaften Mannes überschattet, ist unbegreiflich.

Themenkreise früherer Filme von Goretta tauchen in Pas si méchant que ça in gekonnter Variation wieder auf, vor allem das Thema des Rollenspielens, ‘des Sich-gebens (was man eigentlich nicht ist), erfährt eine (im musikalischen Sinn) Durchführung, die mit fast schmerzlicher Erkenntnis erahnen lässt, dass Goretta hier einen Grenzweg beschritten hat, aus dem es kaum ein Zurück, aber auch kaum mehr eine weitere Entwicklung gibt. Wie in Le fou François Simon einen Pensionierten gibt, der erst wie er betrogen die Maske des «braven alten Mannes» verrückt, wie in Limitation die Bürokollegen bei der nachmittäglichen Belustigung im Garten ihre wahren Charaktere offenbaren, so geschieht es auch in Opus 3 von Goretta, dass dieser Pierre langsam die Rolle aufgibt, die man von ihm eigentlich erwartet. Dieser «fils à papa» geht, wie ihm die Verantwortung übertragen, Wege, die man von ihm nicht erwartet, die so eigentlich nicht zu ihm passen. Das Jugendliche und Ungestüme, das er im elterlichen Hause wohl zurückbinden musste, lässt ihn zum Abenteurer werden — als ob er aus einer Isolation, aus einem «Nicht-Verstanden-Sein» ausbrechen wollte. Man könnte diesen Pierre geradezu einen altgewordenen Pfadfinder nennen (wie er auf die Bäume klettert, um darin seine Beute zu verstecken, wie er wie ein Luchs mit seinem Motorrad zu den Überfällen durch die Landschaft huscht) — einen Pfadfinder aber deshalb nicht, weil er «allzeit zum Bösen bereit» Ist, zum Bösen aber, zu Diebstahl und Lüge, das er nicht als schlecht empfindet, sondern nur als jugendlich-verschämtes Mittel, um sein «Gesicht» zu wahren und nach aussen hin die Rolle zu spielen, die man von ihm erwartet.

In den ungewohnten Aktionen aber, in den Überfällen, im Verbrennen der Möbel, in seiner leidenschaftlichen Liebe zu Nelly offenbart Pierre auch seine Verletzlichkeit. Der Titel des Filmes, ein von Nelly rasch und gleichzeitig liebevoll hingeworfenes Wort, dass Pierre eigentlich doch gar nicht so böse sei {wie es den Anschein macht): Dieses «gar nicht so böse» wertet in doppelter Weise, es zeigt dem jugendlichen Dieb, was ihn für seine Taten «einmal erwarten» wird und ist ihm zugleich Trostwort in einem Moment, da das Mädchen ihn durchschaut und seine Verletzlichkeit erkannt.

In einem Moment des dummen Scheiterns, da ein Überfall auf ein abgelegtes Postbüro nicht gelingt und Pierre in seiner Verzweiflung in die Decke schiesst und deswegen Nelly, die überraschte Postbeamtin in Ohnmacht fällt — in einem solchen dummen Moment des verletzten Stolzes beginnt die schöne Liebe zu dem andern Mädchen. Und wie Marthe, Pierres Frau, mit untrüglichem fraulichem Instinkt die Unruhe in ihrem Manne bemerkt und ihn fragt, ob ihm was fehle — da weicht er ihr aus, hat Ausreden bereit und will sich in seinem Abenteuer nicht mehr stören lassen: Den Schritt zu dieser, im Grunde von Pierre doch gewünschten Vertrautheit und Intimität will der junge Mann nicht tun.

Denn über allem steht bei Goretta wieder das Thema der Isolation, wie bereits in Le fou und in L’invitation so klar und menschlich nah behandelt — hier erfährt es eine noch vertieftere Variante. Drei Menschen im Mittelpunkt — und keiner der drei kann über seinen eigenen Schatten springen. Pierre und Marthe, ein glückliches Ehepaar, eine Verbindung, in der man ungezwungen miteinander spricht (und doch den letzten Schritt zur vollkommenen Intimität nicht macht) und in der das Erotische, das Sexuelle eine normale Funktion einnimmt. Eine Ehe aber auch, in der Pierre — und dies ist sein Entschluss — die echten Probleme, wie gesagt, nicht zur Sprache bringt, vieles unterschwellig mitschwingt. Und dann das zweite Paar, Pierre und Nelly: Eine fast tragische Verstrickung, die zur Ehesituation von Marthe und Pierre einen starken Kontrast schafft.

Natürlich versucht jeder der drei aus seinem Kreise auszubrechen. Wie Marthe zu Beginn des Filmes ihre morgendlichen Turnübungen macht und dabei bemerkt, Pierre solle auch in zehn Jahren noch eine trainierte Frau haben, will Pierre das Gerede nicht hören: Er denkt nicht an die Zukunft und an wohlbestallte Existenz, denn er hat mit dem Heute noch Sorgen genug. Oder wie die ganze Familie am Sonntag aufs Land fährt und ihr «déjeuner sur l’herbe» geniesst, wie dann Pierre und Marthe auf den Baum klettern (in dem Pierre später seine Beute verstecken wird), wie sich Marthe in luftiger Höhe ihrem Mann in ungewohnter Lage hingibt — da hofft man immer wieder auf ein Wort von Pierre, auf ein Ausbrechen aus dem Sorgenkreis, auf das Bitten um Hilfe bei seiner Frau.

Goretta führt den Zuschauer (wie auch seine Figuren) über einen schmalen Grat der Zerbrechlichkeit, ab und zu lässt er den Vorhang der Isolation des Einzelnen aufbrechen und die «Sonne des Verständnisses», des aufgehaltenen Elans durchscheinen — aber nie ganz durchbrechen. Mit poetischem Sinn werden die Versuche des Zueinanderkommens geschildert und gleichzeitig spüren die Personen, dass es bei Versuchen bleiben muss. Das macht den Film so traurig und, in seiner ganzen Poesie, zugleich wieder schön und fein; die Fragilität der Personen ist mit der Subtilität des Meisters sinnbar gemacht, unaufdringlich und konsequent.

Ab und zu vermisst man die Stringenz, welche L’invitation auszeichnete. Aber Goretta muss sich für Pas si méchant que ça mehr Zeit und auch mehr Spielraum lassen und bringt deshalb eine eher losere Form der Gestaltung mit, lose insofern, als sich die Bildfolge nicht durch einen äusseren Rhythmus der Handlung bestimmen lässt, sondern im inneren Mithören sich ergibt. In dieser Form aber überraschen immer wieder die künstlerisch so beherrschten Details, der kluge Aufbau der Szenen, die überlegene Bildeinteilung und die unaufdringliche, aber immer richtige Führung der Schauspieler, die sich mit ihren Rollen vollständig decken.

Der Miteinbezug der Landschaft in die Handlung, ja, wie die Handlung in dieser (Schweizer) Landschaft aufblüht, aus ihr nicht wegzudenken ist, beweist erneut, mit weicher Wirklichkeitsverbundenheit Goretta seine Filme konzipiert und gestaltet: Wie Pierre mit seinem Motorrad durch die Kornfelder rast, wie er auf tristem Abfallfeld die neuen Möbel verbrennt, wie die Landbeizen und die kleine Poststelle in ihrem echten Cachet erhalten sind und zum Ganzen stimmen — ich kenne, neben Hans Trommer, keinen Schweizer Regisseur, der die Landschaft, die Häuser und die Menschen so richtig zueinander in Beziehung zu bringen versteht, wie eben Goretta.

Die französischen Schauspieler Marlène Jobert (Nelly), Gérard Depardieu (Pierre) und Dominique Labourier (Marthe) spielen die Hauptrollen: Wie einfach es bei Goretta ist, drei Pariser Darsteller ins welsche Land zu versetzen und ihre Interpretationen welsch-stimmig zu machen. Darsteller, die in ihrer Natürlichkeit dem Hauptanliegen Gorettas nahekommen: Sie geben die Zerbrechlichkeit dieser Personen, die schicksalshafte Isolierung mit schöner Richtigkeit, unaufdringlich und — ergreifend.

So böse ist also dieser Pierre nicht: Die Äusserlichkeiten von Überfällen und Diebstahl zeigt Goretta mit einer Nonchalance und gekonnt, als ob er das Gegenstück zu einem Thriller machen wollte. Die «méchancetés», die Pierre ausführt, sind im Grunde auch nur Äusserlichkeiten, sind Marginalien zu einer Lebenslüge, über die ihm auch seine Frau und Nelly, die Liebe dieser beiden Frauen und seine Liebe wiederum zu ihnen, nicht hinweghelfen können. Die Lüge, der Mensch sei nicht einsam. Die Lüge auch, mit der sich Pierre vom Erwachsenwerden drückt und damit gleichzeitig die Schwierigkeit des Erwachsenwerdens in einer so komplexen Gesellschaft zum Ausdruck gibt. Eine Lebenslüge, die in der allgemeingültigen Formung den Film von Goretta zu einem (wenn auch nicht grossen, so doch) wichtigen Werk machen.

Générique:

Produktion: Schweiz/Frankreich 1974; Citel-Film, Artco-Filrns, Genève; Action-Films, M.J. Productions Paris; Régie: Claude Goretta; Drehbuch: Claude Goretta und Charlotte Du-breuil; Kamera: Renaîo Berta; Musik: Arié Dzierlatka und Patrick Moraz. Darsteller: Marlène Jobert, Gérard Depardieu, Dominique Labourier, Philippe Léotard, Jacques Debary u. a.

PAS SI MECHANT QUE ÇA DE LA DIFFICULTE A DEVENIR ADULTE

Dans Pas si méchant que ça nous trouvons des variations sur des thèmes que Goretta a déjà abordés dans ses films précédents, notamment celui du «rôle qu’on joue», du masque qu’on porte quotidiennement pour se montrer tel qu’on n’est pas. A partir du moment où Pierre, le héros du film, est obligé à prendre ses responsabilités, il s’éloigne petit à petit du rôle qu’on attend de lui et devient finalement un personnage qui colle assez mal à l’image de fils à papa qu’on s’en fait initialement. Des sentiments juvéniles et intempestifs (vraisemblablement trop longtemps refoulés dans la maison paternelle) le font devenir un aventurier aux allures de boy-scout qui s’efforce extérieurement à sauver la face et à jouer le rôle qu’on attend de lui, mais qui, pourtant, cherche un moyen de s’échapper de l’isolement, de sa situation d’incompris.

Si Pierre s’entend dire qu’il n’est Pas si méchant que ça, cela le fait songer à ce qui l’attend à la suite de ses actions, et en même temps cela lui apporte en peu de consolation à un moment où sa vulnérabilité vient d’être découverte.

Les trois personnages principaux essaient en vain de sauter par-dessus leurs ombres. Pierre et Marthe forment un couple heureux où l’on parle de tout, sauf des problèmes importants; et le couple que Pierre forme avec Nelly est presque exactement à l’opposé de sa situation conjugale. Chacun des trois personnages tente de s’échapper de son cercle, et le spectateur ne cessera, tout au long de l’histoire, d’espérer que Pierre puisse se confier à sa femme. Goretta promène le spectateur (et ses personnages) sur une étroite arête de fragilité; parfois il laisse le rideau de l’isolement se lever sur l’un de ses personnages, mais cela ne dure que l’espace d’un instant; le «soleil de la compréhension», l’élan freiné arrivent à transparaître, mais jamais à percer tout à fait. Avec un sens poétique très poussé, les tentatives d’approche sont décrites, mais en même temps, les personnages sentent eux-mêmes que le stade de la tentative ne pourra pas être dépassé. C’est ce qui rend le film à la fois si triste et si beau et fin; la fragilité des personnages est rendue perceptible par la subtilité du maître.

Goretta se laisse le temps; la suite de ses images n’est pas dictée par le rythme extérieur d’une action, mais plutôt par une écoute intérieure. La maîtrise parfaite du détail juste ne cesse de nous surprendre, de même que la construction intelligente des scènes, les cadrages rigoureux et subtils, et la direction des acteurs qui sait ne pas s’imposer et pourtant obtenir exactement ce qu’il faut pour que le rôle colle parfaitement à l’acteur ou l’acteur à son rôle. Le paysage helvétique est intégré dans l’action comme seul, peut-être, dans notre pays et jusqu’à nos jours, un Hans Trommer a su le faire. Les interprètes français, Marlène Jobert (Nelly), Gérard Depardieu (Pierre) et Dominique Labourier (Marthe) montrent de manière éclatante comme il est simple pour un Goretta de placer des comédiens parisiens dans un contexte romand sans que cela sonne faux; il sait leur faire rendre la fragilité de leurs personnages avec naturel, de façon discrète et néanmoins émouvante.

Pierre n’est vraiment pas si méchant que ça; ses «méchancetés» sont uniquement extérieures, des manifestations marginales d’un mensonge vital que mène l’amour des deux femmes pour Pierre et l’amour de Pierre pour elles ne peut guère faire oublier: le mensonge qui consiste à dire que l’homme n’est pas seul. Le mensonge aussi, par Lequel Pierre essaie de se défendre de devenir adulte et qui est l’expression de la difficulté de devenir adulte dans une société aussi complexe. Un mensonge qui fait du film de Goretta une œuvre importante. (AEP)

Felix Bucher
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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