Der Filmkritiker und die wiedergefundene Enge des Schweizerfilms
Jede Zeit ist bedenkenswert; unsere ist bedenklich geworden. Während selbst jenen, die man Volksvertreter nennt, Hunderte von Millionen Tabu sind, sofern sie dem Wirtschafts-, resp. Gewinninteresse dienen, nörgelt man an winzigen Summen herum, die für Forschung und Kultur ohnehin viel zu bescheiden sind.
Noch vor zwei, drei Jahren glaubte man, gerade im Hinblick auf den Film, dass man die geistige Enge Helvetiens durchbrochen hat. Zumindest schien es — in einer Phase von naivem, ja unschuldigem Optimismus —, als wären in die dicke Mauer aus Konformismus, Rückwärtsgewandtheit und Opportunismus ein paar Breschen zu einem gegenwärtigen und erlebbaren Leben geschlagen worden. Doch da waren zu viele Maurer am Werk, die vorerst nächtlicher-weise, dann auch ganz offen diese Atemlöcher zuzustopfen wussten und wissen. (Ein Beispiel dafür steht im Beitrag von Urs Reinhart.)
In einer derartigen Zeit geistiger Armut sind gewisse Arme besonders stark — oder lang. Die selbsternannten Hüter einer längst schon an fataler Sklerose erkrankten Gesellschaft machen deren aktuelle Schwäche zur Hure: Wo man weiterdenken, die Zukunft neu planen müsste, benutzt man die Krankheitssymptome zu seinen eigenen egoistischen, niedrigen Bedürfnissen: So wird das Ganze natürlich zu einer Sparübung, und gespart wird damit vor allem am unbequemen Geist (der andern). In Theater (Basel), Literatur, Buchhandel und Schule wird dies nicht weniger deutlich als im Film.
Wirtschaftskreise üben sich in einem versteckten — aber wie gesagt: lang-armigen — Kesseltreiben gegen jene Kräfte, die sie nicht verstehen können oder dürfen; Parlamentarier, die nicht einmal wissen, wer denn eigentlich dieser Tanner da und jener Lyssy dort sind, befinden darüber, was alle Aspekte einer lebendigen Filmkultur in der Schweiz kosten dürfen; und selbst die Eidgenössische Filmförderung bekennt sich zu einer Enge, in der man «Schweizer Film» wiederum in einem Wort und mit einem ganz grossen und runden S schreibt. Die Informationspolitik gerade der letzteren wird mit einer derart weitausladenden Offenheit vorgegeben, dass sich hinter ihr alle entscheidenden Dinge verbergen können. Auch das erleichtert die Sache für den kritischen Filmjournalisten nicht. Oder: Es erleichtert jene, die eben gerade den Trend gegen diese Leute verstärken. Womit ich bei der Frage angelangt wäre, die eigentlich im Mittelpunkt dieses kurzen Abrisses zu stehen hätte.
Denn die Schwäche unserer bedenklichen und bedenkenswerten Zeit reisst auch vielen Zeitungen und Zeitschriften etwelche — längst schon morsche — Zähne aus. Einige bleiben zahnlos; andere operieren mit einem fremden Gebiss. Das erste, was hier nicht gebissen, zerkaut und verdaut werden kann und daher von der für jeden Organismus lebensnotwendigen Nahrung ausgesondert wird, ist — erneut — die Kultur. Das heisst: Kultur gibt es schon noch, das gehört sich so, aber es gibt nicht die vitale, heutige, echte Kultur, sondern die bereits tausendfach vorgekaute, und zerkochte. So wird die Zeit also auch für den kritischen Filmkritiker bedenklich.
Und so ist nun die Zeit der Unschuld vorbei, und wer zuvor nur seinem Gewissen folgte, hat so zu einem (bitteren) Bewusstsein gefunden, wonach Wissen und Gewissen mit der Möglichkeit, dieses öffentlich zu machen, kollidieren. Das Anpassertum, das auch das Filmschaffen bedroht, droht nun aus Journalisten Opportunisten zu züchten. Deren gäbe es genug: Für jeden der schweigt oder schweigen wird, finden sich zehn, die redend (ver)schweigen. Können sich da die andern noch mit Kraus vertrösten: «Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter.»? Nun, die Taten, von denen Kraus sprach, sind andere als die heute bestimmenden; aber schliesslich fehlt uns heute ja auch ein Mann wie Kraus an allen Ecken und Enden. Dass die Ecken nun an allen Ecken und Enden abgerundet werden — wie Martin Schaub in seinem Beitrag in einem bestimmten Aspekt zu überdenken gibt —, ist in diesem Teufelskreis Folge und neue Ursache zugleich. Denn wie jeder Krieg erzwingt auch der gegenwärtige, der ein politisch-kultureller Krieg ist und jeden Abweicher gegen den andern auszuspielen droht, eine fragwürdige Einheit: Anpassertum.
Die Unschuld, die vorbei sei, sah so aus: Es gab die Filmgilde Solothurn und Leute, die deren Programme ansahen. Darunter gab es einen grasgrünen Studenten, der über Filme schreiben wallte — etwa über «Striptease-Komplex» (mit Elvis Presley) oder «Das Geheimnis der drei Dschunken», aber auch über eine Generalversammlung des Kulturfilmbundes. Dann veranstaltete diese Filmgilde ein heute fast romantisch anmutendes Gegen-Festival als Zeichen einer Gegen-Kultur: «Schweizer Film heute». So kam dieser ahnungslose Kritiker 1966 zu seinen ersten grossen, ja überlangen Artikeln in einer grossen Tageszeitung (den «Basler Nachrichten»). Was wichtiger war: Es gab 1966 und in den folgenden Jahren in Solothurn auch Leute, die Filme schufen, Narren, Spinner, Träumer. Plötzlich war Film nicht mehr einfach ein Produkt, das es im Kino zu beschauen gab, sondern etwas Gestaltetes, von einem bestimmten Gestalter — etwa Fredi M. Murer, Alain Tanner, Yves Yersin, Noch mehr: Der Grünschnabel erfuhr, dass und wie ein Film unter ganz bestimmten Bedingungen, in einer ganz bestimmten Umgebung entstand und davon nicht zu lösen ist. Dann begann man sich zu wundern, dass gewisse Leute nicht drehen können, obwohl sie (vom geistigen und technischen Anspruch her) sollten, während im Kino so viel von Leuten zu sehen ist, die zwar drehen können, aber keineswegs sollten. Und man erfuhr, dass just diese Filmgilde ohne Pionierpose, aber mit Pionierauftrag, aus der gesamtschweizerischen Vereinigung der Filmclubs, die man nicht zu wecken vermochte, ausscherte.
So blieb der Film für den Grünschnabel nicht länger nur Sache des Kinos und einiger Biographen. Es stellten sich Kontakte ein mit Filmschaffenden; es folgten viele Gespräche nicht so sehr über Gott und die Welt, sondern über das, was während der Dreharbeiten zu den Filmen, die hier und jetzt und für uns entstehen, zu beobachten ist. Man liebte diese kämpferischen Autoren, und man liebte deren Filme. Aber sie kamen nicht ins Kino. Also musste der Filmkritiker auch dafür etwas tun: bei den Kinos, dem Verleih (das war zumeist schiere Unmöglichkeit), in starken Filmclubs. LE BON FILM Basel bot da, als Beispiel, ein Tätigkeitsfeld für den Kritiker. Aber das genügte selbst dann nicht, wenn dieser Filmclub — zusammen mit andern Begeisterten in Solothurn und Bern — von Filmen wie Charles mort ou vif und James ou pas untertitelte Kopien ermöglichte — und somit deren Zirkulation begünstigte.
Daher wurde die Vereinigung der schweizerischen Filmclubs aktiviert und erweitert: Dieser Dachverband nichtkommerzieller Spielstellen existiert heute und er heisst CINELIBRE. Auch da muss und konnte sich der Filmkritiker engagieren. Doch weil das allein erneut nicht genügte, gab es eine weitere Aufgabe: innerhalb der Internationalen Filmfestivals von Locarno und Nyon, die auch mit CINELIBRE eng zusammenarbeiten wollten und die dann auch lernten, für das Schweizer Filmschaffen mehr zu tun. Und dann trat auch die Filmgilde diesem CINELIBRE bei. Ist nun also der Kreis geschlossen?
Vielleicht — aber nur der neue Kreis der alten Enge, der, in der Begeisterung lange unsichtbar, um diese Bewegung mitgewachsen ist, trotz aller Morgenröte in Bern und anderswo. Denn die Zeitungen und Zeitschriften haben schwache, fremde oder wenig Zähne. LE BON FILM wird von keiner Stadt und keinem Kanton unterstützt. Verleih und Lichtspieltheaterverband erschweren die Tätigkeit von Festivals und CINELIBRE in einem Mass, das tödlich werden könnte. Nyon und Locarno drohen zu verschwinden — entweder ganz oder zumindest als filmisch anspruchsvolles, engagiertes und verbesserungsfähiges Ferment des gesamten Filmlebens in der Schweiz. CINELIBRE droht zudem, kaum hat man es in Bern mit viel Wohlwollen begrüsst, mangels effektiver Unterstützung wirkungslos zu werden. Und dem, was Martin Schaub, Marcel Schüpbach und andere in dieser CINEMA-Nummer deutlich machen, kann sich keiner verschliessen: Die Zukunft sieht auch für den Filmschaffenden in der Schweiz alles andere denn rosig aus, die Bundeshilfe, die ihnen gewährt und die allgemeine Infrastruktur, die durch diese ermöglicht wird, erlauben noch kaum ein kontinuierliches, fruchtbares Schaffen.
Es hat nicht genügend Luft — und nur daher hat es nicht genügend Mittel, d. h. Wille. Denn das hier angetönte Beispiel eines Kritikers — das ursprünglich bekenntnisfreudig einen Aspekt der Filmkritik-Aufgabe anzeigen sollte — ist ein isoliertes; das Beispiel ist Symptom. Und was daraus folgen kann: Das bedeutet nicht nur für den schweizerischen Film, das bedeutet nicht nur für CINEMA eine Zukunft in Steppe und Wüste, sondern es bedeutet für alle so Eingeschlossenen einen Rückzug oder die Emigration. Formen dafür gibt es mehrere. Die Zahnlosen aber werden weiter essen; die Sprachlosen aber werden weiterreden; der Brei wird endlos verkocht und verwässert. Und für viele wird gar nichts geschehen sein, und später spricht die Geschichte dann, einmal mehr von einer Episode.