THEO UMHANG

OHNMACHT VOR DEM POLITISCHEN KALKÜL — DIE AUSLIEFERUNG VON PETER VON GUNTEN

CH-FENSTER

«Das Vaterland Wilhelm Teils, des Helden des politischen Mordes,... wird heute von einem Bundesrat regiert, der sich anscheinend nur noch durch die Polizisten- und Spitzeldienste, die er allen Despoten erweist, auszuzeichnen sucht» — so polemisierte 1870 Michail Bakunin, der «Vater» der Anarchismus-Theorie, gegen die Schweizer Regierung, die auf Ersuchen Russlands den Revolutionär Njetschajew verfolgte1. Njetschajews Aktivität in der Schweiz und die Hinter gründe seiner Auslieferung sind das Thema von Peter von Guntens erstem Spielfilm.

Sergej Njetschajew (Roger Jendly) war 1869 an einem Mord im Zirkel von Moskauer Verschwörern beteiligt. Mit dieser Mordszene beginnt der Film. Von der zaristischen Polizei verfolgt, flieht Njetschajew in die Schweiz, wo er in Genf beim Altrevolutionär Ogarew Unterschlupf findet. Mit rücksichtslosem Eifer versucht er dort eine Zelle der Revolution aufzubauen. Aber er täuscht die Emigranten und Bakunin mit Intrigen und isoliert sich in der Anarchistengruppe durch skrupellose Verschwörermethoden. Auch die reiche Nathalie Herzen (Anne Wiazemsky), die er für seine Sache gewinnen und materiell ausnützen will, stösst er durch sein zwiespältiges und niederträchtiges Verhalten zurück. Es bleibt ihm nur die Flucht nach England. Die Schweizer Regierung stellt ihm nach, denn sie will ihre guten Beziehungen zu Russland im Hinblick auf den Abschluss eines Handelsvertrages nicht gefährden.

Der zweite Teil des Filmes setzt mit der Rückkehr Njetschajews ein. Er kommt erschöpft und vereinsamt nach Zürich, wo er zunächst bei einem ihm unbekannten Mädchen, Albertine (Silvia Jost), flüchtigen Halt suoht. Aber bald wird er von einem polnischen Spitzel im Milieu der Emigranten verraten und von den Behörden der russischen Polizei ausgeliefert. Der Film endet mit der Unterzeichnung des schweizerisch-russischen Handelsvertrages von 1872.

Die Vorarbeiten für Die Auslieferung dauerten zwei Jahre, für die Aufnahmen wurden zehn Wochen, für die Montage über sechs Monate benötigt. Der Film kostete, mit grösstmöglichen Einschränkungen, 470 000 Franken. Daran beteiligten sich der Bund mit 100 000, die Stadt Bern und das Fernsehen je mit 60 000 Franken. Die Mitwirkenden haben insgesamt 120 000 Franken, die Hälfte ihrer Honorare, als Kapital investiert. Die geschlossene Wirkung des Filmes wäre niemals vorstellbar ohne das intensive Zusammenwirken der Equipe und der Schauspieler. Künstlerische und technische Probleme wurden in der Gruppe diskutiert. Stars gab es keine. Die Hälfte des Aufnahmeteams wirkte erstmals an einem Spielfilm mit, so dass die Professionellen zusätzlich Arbeit für die Ausbildung der weniger Erfahrenen einsetzten. Ein Teil der so entstandenen technischen «Infrastruktur» ist bereits auf weitere Produktionen (von AKS, Lyssy und Imhoof) übertragen worden.

Die Auslieferung ist für Peter von Gunten ein erster Schritt vom Dokumentar- zum Spielfilm. Wie schon für Bananera Libertad hat sich der Autor sorgfältig informiert. Der Rückgriff auf die Geschichte bot ihm eine Möglichkeit, mit Hilfe gegebener Tatsachen den schwierigen Übergang von der Dokumentation zur fiktiven Handlung zu finden. Die politischen Zusammenhänge, auch wichtige Details, in seinem Film sind historisch belegbar. Gleichzeitig konnte von Gunten mit diesem Projekt — in französischer und hochdeutscher Sprache — der unseligen Deutschschweizer Heimatfilmtradition und der mit ihr verbundenen Mundartproblematik ausweichen.

Es ist die erklärte Absicht des Autors, das Kinopublikum zu erreichen. Aber er macht es dem Zuschauer nicht leicht, indem er verlangt, eingeschliffene Erwartungen aufzugeben, auch die Möglichkeit, sich im Film ideologisch und gefühlsmässig eindeutig identifizieren zu können. Die Auslieferung will vielmehr — darin ist er dem kritischen Dokumentarfilm verwandt — zum Hinterfragen und Nachdenken anregen. Es wird alles vermieden, was vordergründig Spannung erzeugen oder was als historische Kostümschau und modische Nostalgie oberflächlich unterhalten könnte. Darum hat sich von Gunten auch für das strenge Schwarz-Weiss entschieden. Er verzichtet auf reisserische Bildeffekte, die Kamera wahrt fast immer eine Art nüchterne Distanz. Musik ist nur spärlich eingesetzt. Nur der direkte Ton verbreitet eine «reale» Atmosphäre, was aber die Verfremdung der stilisierten Bilder eher verstärkt als mildert.

Im Verhalten der Schweizer Behörden Njetschajew gegenüber wird modellhaft sichtbar, dass auch die sonst als humanitär bekannte Asylpolitik opportunistischem Kalkül des Staates und dem Einfluss wirtschaftlicher Interessengruppen unterworfen ist. Weil es der Ideologie der Liberalen nützte, sympathisierten sie nach 1863 offiziell mit den Polen, die sich gegen Russland erhoben hatten — weil es handelspolitisch zweckmässig war, verkauften sie 1872 den in der Öffentlichkeit unbekannten und politisch lästigen Njetschajew an dasselbe Russland.

Diese profillosen Diplomaten — Bundesrat Dubs gehört zu den Ausnahmen — bewegen sich in einem kalten Dekor von luxuriösen Salons und öden Kanzleien. Einige Einstellungen bleiben sekundenlang noch stehen, nachdem sich die Akteure aus dem Bild entfernt haben. Die sorgfältig gestaltete Ausleuchtung ergibt eine ästhetische Verfremdung, die das kühl Berechnete an den politischen Vorgängen hervorhebt.

Überhaupt setzt von Gunten, hervorragend intuitiv unterstützt vom Kameramann Fritz E. Maeder, die Mittel der Beleuchtung konsequent als Licht-Spiel ein. Das gilt in erster Linie für Njetschajew und seine Beziehung zu Nathalie. Njetschajew agiert bis zu seiner Auslieferung zwielichtig. Das Unberechenbare an seinem Verhalten zeigt sich fast stärker im Bild als durch den Dialog: Er taucht immer wieder aus dem Dunkel des Hintergrundes auf; manchmal verzerren Schatten seinen Gesichtsausdruck; manchmal stellt er sich arrogant ins helle Licht. Dazu kommt, dass Roger Jendly die Zerrissenheit des Revolutionärs überzeugend darstellt, weil er sich nicht gefühlsmässig mit Njetschajew identifiziert, sondern sich mit ihm auseinandersetzt. Als Agitator verlangt Njetschajew, dass jeder Anarchist bereit sein müsse, alles für die revolutionäre Tat zu opfern, ist selbst aber unfähig, in einer Gruppe zu arbeiten und echte zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Diese persönliche Schwäche versucht er mit skrupellosen Intrigen zu überspielen. Sie treiben ihn jedoch nur in elende Einsamkeit, so dass von ihm eine zwiespältige Wirkung ausgeht: Antipathie gegen den hinterhältigen Fanatiker, aber Sympathie für den politischen Abgeschobenen und den auch seiner persönlichen Hilflosigkeit Ausgelieferten. In der gleichen Richtung ist die Dramaturgie angelegt: So wie Njetschajew im ersten Teil seines Exils die Freunde missbraucht, verrät, bestiehlt, herumschiebt, so wird er nach seiner Rückkehr verraten und von den Geschäftsleuten und Politikern herumgeschoben.

Die Auslieferung ist insofern auch ein Beitrag zur Anarchismus-Diskussion, als deutlich wird, dass zwischen den Theoretikern um Bakunin und dem «Volk» ein tiefer Graben besteht, wie beispielsweise die Szene in Locarno veranschaulicht, in der Njetschajew seine Theorien vom Papier liest. Ausserdem wirft der Film die unbequeme, aktuelle Frage auf, warum sich die «Linke» in ihrem Kampf um gemeinsame und «gerechte» Ziele stets in zerstrittene Gruppen aufsplittert.

Neben dem politischen und ideologischen Diskussionsstoff wirken gleich stark die persönlichen Beziehungen des Revolutionärs, zu Nathane Herzen im ersten und zur grossartig schlichten Albertine im zweiten Teil.

Nathalie — wie manchem Zuschauer — erscheint Njetschajew sowohl anziehend als auch abstossend, was Anne Wiazemsky so subtil wie überhaupt möglich darzustellen versteht. Zuerst schwankt sie zwischen depressiver Unsicherheit und Zuneigung, emanzipiert sich aber zuletzt durch die Trennung von Njetschajew zu einer selbständigen Haltung und behauptet damit ihre eigenen Gefühle. Hier nimmt das Licht gewissermaßen Partei für Nathane und gegen den ins Dunkel zurückgestossenen Njetschajew. Die Technik der Beleuchtung beeinflusst — wie in den politischen Sequenzen — die Grundstimmung. Ein weiteres Beispiel dafür ist der Gegensatz zwischen der warm ausgeleuchteten Dachkammer Albertines und den kalten, grauen Gefängnisräumen.

Der Kontrast zwischen diesen eher gefühlsmässig erfahrbaren Beziehungskonflikten und der Vereinsamung Njetschajews einerseits und dem intellektuell durchschaubaren Ablauf der politischen Machtspiele andererseits erzeugt die stärkste und vielleicht aktuellste Wirkung in diesem Film. Es ist sein besonderer Reiz, dass er aus dieser Spannung heraus, mit einem eigenwilligen Stil ohne Thriller-Elemente, Ohnmacht darzustellen vermag, Ohnmacht und Unsicherheit vor dem politischen Kalkül der Mächtigen, das jedoch raffiniert hinterfragt wird.

Peter von Gunten: Innere Spannung

Für mich existiert ein Film durch sein Klima, durch seine innere Spannung. Das ist eine wichtige Frage für mich. Diese Atmosphäre zu finden ist für den Regisseur sicher ebenso wichtig wie für das Publikum. Ich habe versucht, mit dem Rhythmus der Bewegungen, der Sprache, dem Licht, dem Schatten, dem Schwarz-Weiss der Bilder und in der scheinbaren Distanz und Nüchternheit der Form meinen Stil zu finden. Aber ich habe keineswegs aus formalen Motiven einen historischen Film gemacht.

Den historischen Kulissen-, Kostüm und Dekorfilm ohne Gegenwartsbezug finde ich uninteressant. Ich will von unserer Zeit ausgehen und geschichtliche Fakten in Bezug auf ihre Bedeutung und ihren Einfluss auf unser aktuelles Verhalten hinzeigen. Sergej Njetschajew, dieser russische Revolutionär, hat mich interessiert, weil er die Schweizer Regierung zu einem für sie typischen und entlarvenden Verhalten provoziert hat. Ein Handelsvertrag war wichtiger als Asyl für einen Revolutionär. Diesen Opportunismus mag ich nicht.

Die Schritte meiner Figuren sind geprägt durch eine Vorbestimmtheit, nicht durch ein Psychodrama. Sie drehen sich im Kreis, und dieser schliesst sich von selbst. Das Entscheidende im Film ist der Akt der Auslieferung und weshalb es zur Auslieferung gekommen ist. Dieser Akt der Auslieferung spielt sich relativ mechanisch ab. Die Gespräche der Bundesräte und der Behörden verlaufen geradlinig. Das Verhalten des Revolutionärs ist im Grunde genommen auch etwas, das in einer ganz anderen Richtung geradlinig verläuft, nämlich im extremen Willen, die Revolution bis zur totalen Isoliertheit anzuzetteln und dadurch zum Scheitern zu bringen.

... Ich suche die Auseinandersetzung mit dieser Figur.

Es war wichtig für mich, mit diesem Film einen Mechanismus zu durchbrechen. Ich meine den Mechanismus des zweistündigen Kinoerlebnisses und der Kinoform, die einem sagt, der Charakter eines Menschen ist so und nicht anders, da habt ihr ihn, glaubt daran. Eine Art Autorität von der Kinoleinwand her...

Michail Bakunin: Die Berner Bären und der Bär von Petersburg, Edition Arche Nova, Zürich 1970, S. 5.

Die Auslieferung. Premiere: Solothurner Filmtag 1974. Produktion: CINOV, Bern. Buch und Regie: Peter von Gunten. Kamera: Fritz E. Maeder. Regieassistenz: Marlies Graf. Direktion: Jean-Daniel Bloesch. Musik: Josef Ivanovici, Jiri Ruzicka, Frederic Chopin, Wladimir Rebikoff. Schnitt: Peter von Gunten, Marlies Graf, Remo Legnazzi. Dekor: Agathe Schütz-Bagnoud. Kostüme: Margrit Schlumpf. Französische Dialoge: Claude Fro-chaux, Monica Iseli. Produktionsleitung: Rudolf Santschi. Aufnahmeleitung: Remo Legnazzi. Darsteller: Roger Jendly (Njetschajew), Anne Wiazemsky (Nathalie Herzen), Silvia Jost (Albertine), Bernard Arczynski (Ogarew), Urs Bihler (Ralli), Günther Gube, Alfons Hoffmann, Paul Pasquier, Rudolf Ruf, Peter Simonischek, Rainer Zur Linde, Alex Freihart, William Jacques, Erwin Kohlund, Klaus W. Leonhard. Verleih: Film-pool, Zürich. 35 mm (gedreht in 16 mm), 90 Min., schwarz/weiss.

L’IMPUISSANCE DEVANT LE CALCUL POLITIQUE

«De nos jours, la patrie de Guillaume Tell est gouvernée par un conseil fédérai serviteur de n’importe quel despotisme»: Ainsi poiémisait Bakounine en 1870, quand le gouvernement suisse poursuivit le révolutionnaire Netchaiev. L’activité de ce dernier en Suisse est le sujet du premier film de fiction de Peter von Gunten. Le film dessine le charactère ambigu du révolutionnaire, sa fuite permanente; il se termine avec son extradition et la signature d’un contrat économique entre la Suisse et (a Russie du Tsar.

Les travaux préparatoires de ce film ont duré deux ans, le montage plus de six mois. Le film a coûté 470 000 francs dont 120 000 ont été investis par les collaborateurs — signe d’une solidarité sans laquelle ce film n’aurait jamais une forme si définie.

L’utilisation de l’histoire permit au documentariste von Gunten de trouver un chemin vers la fiction. Avec son film, von Gunten veut entrer dans les salles de cinéma sans vouloir rendre facile la tâche du spectateur qui ne peut et ne doit pas s’identifier avec des personnages ou des idées. L’auteur s’interdit des effets, la caméra (Fritz E. Maeder) reste distanciée. Seul le son direct donne une atmosphère «réelle» ce qui, en fin de compte, souligne encore plus la stylisation de l’image.

Le style des autorités suisses est impersonnel et opportuniste. Les fonctionnaires exsangues se meuvent dans des décors froids qui restent parfois figés sur l’écran après les scènes. La lumière souligne le calcul froid des événements politiques, et elle sert sensiblement à caractériser des personnages et des situations (Netchaiev apparaissant de l’obscurité, se postant d’une façon provocante dans la lumière directe; Nathalie Herzen ambiguë, souvent dans une lumière changeante).

Roger Jertdly ne s’identifie pas non plus à Netchaiev, il critique par sa distanciation l’arrogance du révolutionnaire. Finalement, le spectateur méprise le fanatique tout en s’alliant avec l’extradé.

Le contraste entre les liens affectifs des personnages (surtout Netchaiev/Jendiy et Nathalie Herzen/Anne Wiezemsky) et le déroulement presque mécanique de l’action politique constitue la dimension la plus forte de ce film qui dessine l’impuissance de chacun devant le calcul du pouvoir politique. (msch)

Theo Umhang
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(Stand: 2020)
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