FRED VAN DER KOOY

FRAGMENTE EINER ZELLULOIDKARROSSERIE

ESSAY

1. Keaton

1. 1 Obwohl er mit 15 Jahren schon sein eigenes Auto fuhr, ist Busters favorisiertes Transportmittel im Film eindeutig der Zug. Nicht nur spielt der Zug in zwei Filmen die Hauptrolle — The General, Our Hospitality — er kann sich auch mit ihr, der Maschine, am leichtesten identifizieren: Der Zug in The General ist personifiziert, er wird vom Transportmittel zum Gefährten. Anders beim Auto. Als Fahrzeug fungiert es selten und wenn, dann immer für kurze Zeit. Schwierigkeiten liefert es nur dann, wenn Keaton nicht in Form ist und auf den Klamaukstil Arbuckels und Sennetts zurückfällt.

So passiert es ihm, dass in der modernen Geschichte des ersten six-reelers The Three Ages der T-Ford durch ein unscheinbares Loch in der Strasse, auf der Stelle auseinanderfällt. Nach der Häufigkeit gemessen, ist das Auto aber bei Keaton eher eine quantité negligeable. Dennoch...

1.2 Das Auto ist für Keaton zu sehr Kassensymbol, um unbekümmert Verwendung zu finden. Nur in drei Filmen besitzt er selbst eines. In diesen — Seven Chances, The Navigator und Battling Butler — hat er die Darstellung eines kleinen Angestellten aufgegeben und spielt den verwöhnten Weichling, — stolzer Wurf eines «guten Hauses». An ihm vollzieht sich ein gesellschaftlicher Lernprozess: Durch das Schicksal aus der Beschützung seiner Klasse ausgespuckt, hat er sich, um sich in der Welt behaupten zu können, eine neue Identität erkämpft. Die Entwicklung von der Puppe zur Persönlichkeit, die damit einhergeht, ist nur möglich durch Verleugnung seiner grossbürgerlichen Herkunft: In der Einleitung des Navigators verwendet Keaton zum Erreichen des Hauses auf der anderen Strassenseite das Auto. Mit Chauffeur versteht sich. In Battling Butler drückt das hilflos zum Chauffeur gesprochene «Wohin gehen wir?» etwas Ähnliches aus.

1.3 Dort wo Keaton als Ausgangspunkt die Gestalt eines etwas weltfremden Kleinbürgers annimmt — in College und Steamboat Bill Jr. — wird das Auto als Hinweis auf die Existenz einer Klassenteilung der Gesellschaft kontrastierend zur Ignoranz der Hauptperson eingesetzt. In College spielt Buster den Sohn einer besitzlosen Witwe. Mit einem vom wenigen Geld gekauften Konfektionsanzug besucht er die Abschiedsfeier seiner Schule, wo er die beste Auszeichnung bekommt. Wie wenig der Welt draussen ein heller Kopf alleine bedeutet, darauf wird beim Verlassen des Saales subtil angespielt. Es regnet schrecklich, aber Keaton kann dem Mädchen seiner Träume nur einen Schirm anbieten. So verliert er sie an den dümmsten Kopf mit Geld: dieser stellt dem Mädchen sein Auto zur Verfügung.

In Steamboat Bill Jr. kommt Buster als linkischer College-boy in seine Heimatstadt zurück, noch ohne Kenntnis von den Klassenkämpfen, die dort von dem die einheimische Wirtschaft monopolisierenden Geldmagnaten King angeheizt werden. Buster wird es bald zu merken bekommen. In der Kleinstadt gibt es zwei Busse zu den beiden konkurrierenden Mississippidampfern. Der eine — von neuestem Modell — gehört King; der andere, ein prähistorischer Kasten, Keatons Vater. Busters Unschuld zieht den schönglänzenden King-Bus vor, — sein Vater schleppt ihn wieder hinaus. Der King-Chauffeur, um einen Kunden geprellt, packt den Armen und schmeisst ihn wieder in den Wagen. So lernt Keaton die gesellschaftlichen Regeln kennen.

1. 4 Der direkte Angriff auf das Auto als Klassensymbol ist Keaton allerdings künstlerisch misslungen. Er wurde im relativ frühen two-reeler The Blacksmith unternommen. Links ein total revisionsbedürftiges Auto, rechts ein Rolls-Royce, an dem den Besitzer ein winziges «Krätzchen» stört. Buster fängt, seinem Wesen entsprechend, mit dem Schwierigsten an: dem alten Wagen. Er werkelt wie wild am alten Karren, das Öl spritzt auf den weissen Lack des Rolls, und unter einem aus der Hand gelegten Lötbrenner blättert die Farbe von der Karrosserie. Der hochgetakelte Motor des alten Wagens stürzt hinter Keatons Rücken auf das Dach des Luxuswagens. Am Ende sind die Standesunterschiede auf recht anarchistische Weise beglichen: beide liegen in Trümmern.

Später hat Keaton zugegeben, dass die Geschichte mit dem Rolls ein Irrtum war. Wie W. C. Fields lernte er von der Rezeption seiner Filme, «dass man die Leute meistens nicht zum Lachen bringt, wenn man etwas Kostbares zerstört. Wenn du einen Hut aus Seide zertrittst, muss es ein schon kaputter sein. Wenn du ein Auto zerstörst, dann schlage vorher einige Beulen rein, bevor du es auf die Szene bringst» (W. C. Fields).

1.5. In der Welt, in der Keaton zu Hause war, der der kleinen Angestellten und Arbeiter, ist, oder besser war das Auto deutlich abwesend. Auf das Auto, das man ja nicht besitzen kann, wird in diesen Filmen oft angespielt, es tritt aber selten in Erscheinung. Der Held muss sich vielmehr nur mit fadenscheinig durch die Umstände hervorgerufenen Ersatzmitteln begnügen.

In Go West parkiert Buster eine Kuh, den Zettel steckt er, da Scheibenwischer fehlen, auf das Hörn. In The Frozen Nort» baut er sich ein Schneeauto und übertritt sofort die maximale Geschwindigkeit des Nordpols. Solche Verkehrsspiele in der leeren, weissen Landschaft sind nur zu leicht als die Träume des Have-not erkennbar. Auch die Römerzeit (The Three Ages) wird zu einer recht durchsichtigen Parabel in diesem Sinn. Auf seinem mit Hunden statt Pferden bespannten Streitwagen befindet sich ein schmaler Kasten. Er enthält kein Reserverad, sondern einen Reservehund. Und wenn Keaton sich schon in Amerika seiner Tage ein Auto beschafft, — erst noch im Traum und dazu «unrechtmässig angeeignet», nämlich im Sherlock Jr. —, transformiert sich der Wagen bald zum Schiff, um als solches im Meer zu versinken. Sogar die Träume ironisieren das Wunschobjekt mehr, als es dem Spiesser im Herzen lieb sein könnte. Und die Ironie steigert sich zum Zynismus, wenn der arme Mann, Steamboat Bill Jr., im Krankenbett durch den Orkan wie im Auto durch die Strassen fährt und Buster, wenn es gefährlich auf eine Mauer zugeht, den Arm zum Abbiegen hoffnungsvoll ausstreckt.

1.6 Die weiteren Momente, in denen das Auto bei Keaton eine erwähnenswerte Rolle spielt, sind für das Fahrzeug weniger typisch als für den visuellen Witz des grossen Regisseurs. In Battling Butler geht das Bild im Bild — seine Geliebte im Rückfenster des Autos — beim Wegfahren des Autos durch den grösser werdenden Abstand out of focus. Für die Trauer des Abschieds wird damit das Klischee von dem durch Tränen verlöschenden Bild der Geliebten zitiert — und entsentimentalisiert, weil die Realisierung des Zitats eine völlig prosaische ist: Das Wegfahren des Autos und die massige Qualität der Fensterscheiben, die scharf nur das Nahe «durchlassen».

In Seven Chances wird der Zweck des Fahrens, der Ortswechsel, durch Verkürzung hervorgehoben: Buster steigt ins Auto ein, der Hintergrund wechselt von Ort A nach B, und er steigt aus, ohne dass sich der Wagen im Bild bewegt hat.

Der Autogag in The Goat ist noch weniger an seinen Gegenstand gebunden. Buster springt, verfolgt von der Polizei, auf das Reserverad eines wegfahrenden Autos. Das Rad bleibt aber stehen, es ist nur das Werbeobjekt der anliegenden Garage.

2. Die bedeutungsvolle Abwesenheit des Autos im expressionistischen Film

2. 1 Wenn jemand im Film durch einen Autounfall ums Leben kommt, wendet sich der Stil nur zu leicht zur Operette. Godard liefert mit Offenbachschem Spott in Weekend das beste Beispiel dafür. Die aus verkaufstaktischen Gründen kreierte Unschuld sitzt dem Auto so tief in den blechernen Knochen, dass einem, sitzt man erst hinter dem Steuer, der Schein seiner Bequemlichkeit nicht mehr so recht bewusstwird. Solch behaglich ausgepolsterte Todesengel eignen sich nicht für dämonische Filmzwecke.

Vielleicht war das auch der Grund, weshalb Hitchcock den schonen Einfall unrealisiert liess, aus einem gerade vom Fliessband laufenden Auto eine Leiche fallen zu lassen. Die Zuschauer hätten das Unerwartete sogleich als Fabrikationsfehler klassifiziert.

2.2 Die deutschen Expressionisten, die noch Schirm und Schlafrock als Attribute des Teufels verkaufen konnten, hatten für das Auto keinen Platz in den «beseelten Landschaften» ihrer Filme. Ein Versuch, wäre er unternommen worden, hätte noch die besten Filme unfreiwillig ins Disneyland transportiert, an das ihre Pappschluchten und Drachen ohnehin schon genug erinnern. Deshalb fehlt das Auto, denn an eine positive Rolle wäre ebenso wenig wie an eine negative zu denken.

Das hat seinen Grund in der reaktionären Gesinnung dieser Strömung. Die Errungenschaften der modernen Technik wurden in der Regel pauschal verteufelt. In Fritz Längs Metropolis, der dafür das ideologisch wohl bedenklichste Beispiel ist, sind es die dämonisch überhöhten Fabrikmaschinen und Kommunikationsmittel, die zur Bedrohung des’ Menschen werden. Bis der faschistoide Schluss mit seiner gemütsvollen Versöhnung von Kapital und Arbeit «bessere» Zeiten verspricht. Die Autos passen dabei nur ins Konzept, wenn die Ferne ihren häuslichen Chromstahl unkennbar macht. In den gigantomanischen Stadtbildern von Metropolis wimmeln sie wie in einem Ameisenhaufen: Das Sinnbild anonymer Kollektivität.

2.3 Eine Ausnahme wäre Murnau. In Der letzte Mann und Sunrise ist das Auto ein wichtiges Element in der kinetischen Lichtshow seiner Städte. Das Auto wendet und dreht sich weniger als Transportmittel, denn als facettenreicher Lichtfänger. Wie bei der Elster ist hier die Wahl des Objekts von seinem Schein bestimmt. Die Ironie, dass Murnau durch einen Autounfall ums Leben gekommen ist, sähen wohl nur die Journalisten der Regenbogenpresse als Moral der Geschichte

3. Die schönste Filmszene mit Auto

In einem vom Rauch vernebelten Saal trat die Jury als Schatten ihrer selbst auf. Die Anwesenden federten von ihren Sesseln hoch und sangen den Hymnus auf die Filmkritik: «Anfangs wollt’ ich fast verzagen...» Dann trat der Vorsitzende ans Mikrophon und hub an: «Die Jury hat als schönste Filmszene mit Auto die Wiesenfahrt von W. C. Fields in Griffith’ Sally of the Sawdust gewählt.» Lauter Beifall. Einige im Saal trampelten sogar mit den Füssen auf den Boden, wie böse Zungen in der Bierhalle nebenan behaupteten, zur Tarnung ihrer Unkenntnis jenes Streifens. Der Mann am Redepult winkte beschwichtigend mit der Hand und fuhr fort: «Aus dem Begründungsschreiben der Jury möchte ich die wichtigsten Passagen vorlesen...»

Da ich an dieser Stelle die Kompetenz der Jury anzweifelte und daraufhin aus dem Saal verwiesen wurde, kann ich jene Begründung nur aus der Zeitung zitieren. Aber das ist, wie man weiss, fast so authentisch wie selber dabei gewesen zu sein. Der Sprecher, der, wenn ich mich nicht irre, beim Hofstädter Tagblatt immer mit ha. zeichnet, soll ausgeführt haben, dass die Jury diesen Film als Selbstparodie Griffith’ gedeutet habe. Vieles weise darauf hin, so beispielsweise die Persiflierung einiger melodramatischer Standardfiguren des frühen Griffith, wie des bösen Vaters, des passiven Liebhabers und anderer. Fields habe die Sache noch viel weitertreiben wollen, die Kostümierung einer Szene durcheinanderbringen, indem bei jeder neuen Einstellung Änderungen daran vorgenommen würden. Man habe es ihm aber nicht erlaubt. (Merkwürdig, wenn man bedenkt, wie unbekümmert Griffith in Brocken Blossoms mit solchen Usancen umsprang.)

Dann folgt im Feuilleton eine Beschreibung dieser Szene: Fields fährt in einem angeeigneten Automobil zum Gerichtshof und damit zur Klimax. Ihm auf den Socken sitzen die Schurken, ebenfalls motorisiert. Das sei natürlich wieder eine Parodie, wenn dann die Rollen vertauscht werden und Fields den Gaunern folgt. Bei Griffith sei die Verfolgungsjagd am Schluss des Films ja sonst immer dramatisch auf die Spitze getrieben worden. Dann kommt der Moment, wo Fields die Gauner überholt, beide Parteien sich wieder gegenseitig erkennen und Fields ad rem in einen Zaun abbiegt. Und dann die Szene, welche die Jury offenbar so beeindruckt hat: Fields Auto fliegt wie ein schwerleibiger Schmetterling auf der gewölbten Wiese von Hügel zu Hügel. Die Szene poltere noch länger im Kopf nach. Da endet die Besprechung in der Zeitung. Es ist ja erstaunlich, dass die Szene so wirkt. Nichts ist mit Zeitlupenverfahren verfremdet; aber man sollte sich die Wirkung doch erklären können. Nur das: Ein alter Ford hopst über die Leinwand. Der sterbende Schwan könnte nicht poetischer ausgefallen sein. Vielleicht kommt es, weil die flächigen Grautöne der Wiese die ganze Szene surreal überhöhen? Vielleicht ist es der metallische Glanz der alten Emulsion, der diese Bilder so gestochen macht? Ich weiss es nicht. Auf jeden Fall, als am Abend der Preisverleihung nach einiger Zeit die Teilnehmer der Tagung wieder in die Bierhalle strömten, hat mir jemand haargenau die Wirkung erklärt.

Ein wirklich cleverer Typ, der an einem Buch über die «Philosophie des Schauens» arbeitet. Ich kann aber von seinen Erklärungen kein Wort mehr weitergeben. Durch den unglücklichen Zwischenfall meines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Saal hatte ich zu lange schon die Gelegenheit gehabt, dem einen Glas das andere folgen zu lassen.

FRAGMENTS D’UNE CARROSSERIE EN CELLULOID

1. Keaton

1.1 Le moyen de locomotion de Buster est la locomotive qui joue le rôle principal de deux films et devient compagne du héros. L’automobile n’apparaît que très furtivement. Pourtant...

1.2. La voiture est symbole de classe. Buster n’en a une que dans Seven Chances, The Navigator et Battling Butler. La voiture articule les loisirs parasitaires des possédants.

Là où Buster prend les caractéristiques du petit bourgeois inhibé et paumé, l’automobile rappelle l’existence d’une division des classes sociales. (Collège, Steam Boat Bill Jr.).

L’attaque frontale contre l’automobile en tant que symbole de classe a échoué artistiquement: Dans The Blacksmith, Buster détruit une Rolls. Mais il ne faut jamais détruire un objet de valeur pour faire rire les gens. «Quand tu démolis une auto, endommage-la avant de l’introduire sur scène» (W. C. Fields).

Dans l’espace social où vivait Buster, on n’avait pas de voitures, mais beaucoup d’allusions à ce fait-là... et souvent de l’«ersatz»: Go West (une vache); The Frozen North (luge motorisée); même The Three Ages. Ce sont les jeux des «Have-Nots». Buster possède une auto dans Sherlock Jr.: en rêve, et, de plus il l’a volée.

Souvent, l’auto n’est pas utilisée comme attribut de la olasse possédante; elle est instrument pour d’innombrables gags.

2. L’inexistence significative dans le film expressioniste allemand

2.1 Les automobiles, anges exterminateurs comfortables, ne sont pas aptes à des buts cinématographiques démoniaques. (Godard le démontre dans Week-end; c’est l’opérette.)

2. 2 Elles n’ont pas trouvé de place dans les «paysages animés» de l’expressionisme allemand... ni rôles positifs ni rôles négatifs. La technique moderne ne convient pas à ces auteurs réactionnaires. Fritz Lang utilise l’automobile dans Metropolis pour ses messages «fascistoïdes».

2.3 L’exception: F. W. Murnau. Dans Le dernier des hommes et L’Aurore, la voiture devient un prisme pour la lumière expressioniste. Ironie du «destin»; Murnau fut tué par une auto; mais cela n’intéresse que les «canards» des boulevards.

3. La plus belle scène d’automobile

C’est le voyage de W. C. Fields dans Saily of the Saw-dust de D. W. Griffith: La voiture de Fields vole comme un papillon d’une bosse à l’autre sur un pré. Une vieille Ford sautille sur l’écran. Le cigne mourant ne pourrait pas être plus poétique, plus extraordinaire. On devrait savoir expliquer cet effet. (msch)

Fred Van Der Kooy
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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